Kapitel 2
Wie man Schöffe wird, ohne es zu wollen
Ich habe nie gesagt: «Ja, ich will Schöffe werden.» Ich habe nur «vielleicht» gesagt und später ausdrücklich «nein» und «bitte nicht». Aber da war es schon zu spät. So wurde ich Schöffe. Dabei wollte ich nur meinen Personalausweis erneuern.
Als meine hohe Wartenummer endlich aufgerufen wurde, an einem zäh dahinkriechenden Dienstagvormittag im Kreisverwaltungsreferat, fragte mich der Sachbearbeiter nebenbei: «Könnten Sie sich vorstellen, Schöffe zu sein?» Ich versuchte mich zu erinnern, was Schöffen noch mal genau machen. Ging es da nicht irgendwie um das Schlichten von Familienstreitigkeiten vor Gericht? «Vielleicht», antwortete ich, «was macht man denn so als Schöffe?», fragte ich den Beamten, der mich aufmunternd ansah. «Ich lasse Ihnen eine Informationsbroschüre zusenden», sagte der Sachbearbeiter, er lächelte und meinte: «Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass Sie als Schöffe gewählt werden, Sie wohnen nicht lange genug in München.» Er gab mir den Ausweis. Ich ging. Und vergaß die Sache nach einigen Tagen. Wochen später rief mich meine Freundin mit ernster Stimme in der Arbeit an. «Du hast ein Schreiben vom Gericht!», sagte sie. Ich erschrak kurz, dann fiel mir aber kein Grund ein, warum ich mich erschrecken sollte. Weder Fahrerflucht noch Beleidigungen, vielleicht eine übersehene Rechnung? «Hier steht, die gratulieren dir», las meine Freundin vor. «Hab ich was gewonnen?», fragte ich. «Du bist zum Schöffen ernannt worden», sagte sie, «für fünf Jahre!» Moment mal. «WAS? Was bin ich geworden? Und wie lange?», fragte ich, mir fiel der Passbeamte wieder ein. «Die Schöffenperiode dauert vom 1.1.2009 bis zum 31.12.2013, steht hier. Am Amtsgericht in der Nymphenburger Straße», las meine Freundin weiter. «Ich wurde zum Schöffen ernannt», murmelte ich erstaunt vor mich hin. «Schön», sagte meine Bürokollegin, die mir gegenübersaß. «Das ist nicht schön», antwortet ich, «die haben mich gar nicht gefragt!» Aus dem Telefonhörer klang wieder die Stimme meiner Freundin: «Pro Jahr wird ein Schöffe für dreizehn Verhandlungen eingeteilt, macht mal fünf Jahre, ähm, insgesamt fünfundsechzig Gerichtstermine», rechnete sie vor. «Fünfundsechzig Tage? Vor Gericht? Spinnen die?», fragte ich. «Oh», sagte die Arbeitskollegin. «Wie stellen die sich das vor?», seufzte ich. «Wieso hast du dich dann überhaupt beworben?», fragte meine Freundin am Hörer. «Hast du dich da beworben?», fragte die Kollegin gegenüber. «Ich hab mich nicht beworben! Beim Passamt haben die mich gefragt, und ich hab nur ‹vielleicht› gesagt», entschuldigte ich mich. «Wenn du sagst, dass du ‹vielleicht› ein Stück Kuchen willst, würde ich dir eins aufheben. ‹Vielleicht› ist ein kleines Ja», sagte meine Freundin.
Dem Schreiben lag, wie ich später am Abend sah, eine Einladung zu einer Einführungsveranstaltung bei. Und ein Leitfaden für Schöffen. Wo war eigentlich meine angekündigte Informationsbroschüre, die ich vor der Entscheidung für oder gegen das Amt bekommen sollte? Vor allem aber: Dürfen die das? Mich einfach so ohne Rückfrage zum Schöffen machen? Ich hätte nie zugestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass man sich für fünf Jahre verpflichtet. Und hieß es nicht, meine Chancen seien ohnehin gering? Was ich zu jenem Zeitpunkt nicht wusste: Der Staat kann seine Bürger zum Schöffensein zwangsverpflichten. Nicht selten muss er das sogar. Die Bayerische Staatszeitung vermeldete im März 2013 in einem Artikel: «Schöffen verzweifelt gesucht!», und schrieb: «Für die bayernweit voraussichtlich 4321 Plätze haben sich bisher allein in München rund 200, in Augsburg immerhin zehn, aber in vielen angefragten Ortschaften noch kein einziger Bewerber gemeldet.» In dieser Not klang mein angedeutetes Interesse für die Schöffenfindungskommission wohl wie ein laut gebrülltes: «Ich will! Ich! Ich!» Ob der Passbeamte meine Bitte um mehr Informationen überhaupt weitergegeben hat, kann ich nicht sagen.
Ich las im Schöffenleitfaden nach: Wer Schöffe werden möchte, bewirbt sich bei seiner Gemeinde oder seiner Stadt, wer Jugendschöffe werden will, beim Jugendamt. Gibt es zu wenig Kandidaten – oder zu wenig naive «Vielleicht»-Sager wie mich, zieht der Zufallsgenerator Namen aus dem Melderegister. In Frage kommt, wer nicht jünger als 25 und nicht älter als 69 Jahre ist, deutscher Staatsangehöriger mit festem Wohnsitz. Wer weder Jura studiert hat noch ernsthaft erkrankt ist oder eine mehr als sechsmonatige Haftstrafe verbüßt hat. Wobei ich den letzten Punkt diskutabel finde. Kann nicht gerade jemand, der im Gefängnis war, besonders gut beurteilen, was eine Haftstrafe bedeutet? Ist nicht gerade der Experte?
In meinem Schöffeninformationsblatt stand viel über den Eintritt ins Schöffenamt, aber nichts über das Ablehnen des Schöffenamts. «Sag denen doch einfach, dass du es dir anders überlegt hast», riet mir meine Freundin. Aber das schlägt nur vor, wer mit seinem Anliegen noch nicht an den harten Gesichtszügen der Sachbearbeiter des Amtsgerichts München zerschellt ist. «Da können wir leider gar nix mehr machen», entgegnete man mir bestimmt. Die Wahl zum Schöffen ablehnen können nur Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen «sowie Apothekenleiter, die keinen weiteren Apotheker beschäftigen», so der Leitfaden. Der Bundespräsident und Regierungsmitglieder sind ebenfalls befreit. Die Übrigen müssen schon einen Härtefall vorweisen können, etwa pflegebedürftige Eltern. Ich wählte ein letztes Mal die Nummer der Schöffenstelle und versuchte es mit mehr Schärfe im Ton: «Hören Sie, das will ich nicht!» Vergeblich. Dann fing ich an zu betteln: «Bitte nicht, ich habe keine Zeit dafür, ich arbeite und werde gerade Vater.» Erfolglos. Könnte ich Weinen vortäuschen, hätte ich das auch noch probiert. Aber die gute Nachricht sei doch, sagte mir die Schöffenbeauftragte, dass ich keine Angst vor Benachteiligung am Arbeitsplatz haben müsse: «Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Ihnen an Verhandlungstagen freizugeben.» Danke, auf die zusätzliche Sorge, dass ich mit all den Schöffensitzungen auch noch meinen Chef verärgere, war ich noch gar nicht gekommen.
Das Schöffenamt wird als Ehrenamt nicht bezahlt, aber Schöffen, die selbständig sind, erhalten neben einer Zeitentschädigung von sechs Euro in der Stunde eine Verdienstausfallentschädigung von maximal 24 Euro pro Stunde sowie An- und Abfahrtskosten. Dass ich als zugereister Münchner nicht lange genug in der Stadt lebte, um Schöffe zu sein, war außer dem Mann vom Passamt niemandem negativ aufgefallen. Dabei wird die Kandidatenliste erst vom Stadtrat bestätigt und dann vom Amtsgericht noch mal deutlich reduziert. Wer übrig bleibt, wird zur Einführungsveranstaltung eingeladen, auf der theoretisch noch Problemfälle ausgesiebt werden können, wenn sich jemand zu sehr danebenbenimmt. Das wäre meine Chance zum Ausstieg in letzter Minute gewesen: Mit rot gefärbtem Irokesenschnitt und großem «Anarchie»-Zeichen auf dem T-Shirt zur Einführungsveranstaltung fahren und dort für die Abschaffung des Rechtsstaates argumentieren. Wobei Punksein an sich kein Ausschlusskriterium sein dürfte: «Bei der Auswahl der Schöffen soll ein möglichst breiter Querschnitt der Bevölkerung abgebildet werden», steht im Leitfaden. Meine Mitschöffen kamen mir eher wie ein enger Querschnitt der Bevölkerung vor: Mitte 30 bis Anfang 50, weiß, Bildungsbürgertum, berufstätig.
Dass ein großer Altersunterschied oder eine sehr verschiedene Lebenswelt ein Urteil beeinflussen können, habe ich selber erlebt. Als Teenager stand ich einmal vor Gericht, als Kläger: Der Hausmeister eines Baumarktes hatte seinen Schäferhund auf mich gehetzt, weil ich auf dem leeren Parkplatz an einem Sonntagnachmittag Skateboard gefahren war. Wie befohlen biss mich der Hund, der allerdings noch jung war, ich hatte eine kleine Bisswunde, der Jeansstoff blieb heil. Mit meinen damals schon 1,90 Meter Körpergröße hätte ich dem gebrechlichen Hausmeister samt Hund ganz gut eine mitgeben können – aber als Juristensohn macht man das nicht. Wer wie ich schon mal von seinem Vater einen Vortrag über «Gefährliche Körperverletzung und deren Rechtsfolgen» bekommen hat, wehrt sich anders: Ich hab erst Zeugen notiert, eine Familie auf Rollerskates, dann die Polizei gerufen und daraufhin meinen älteren Bruder als Anwalt ernannt. Der folgende Prozess gab mir zu denken: Der erste Richter schien nur mehr Wochen vor der Pensionierung und gab dem noch älteren Hausmeister, der Adolf hieß und dessen Verteidiger schriftlich anführte, dass der Hund reinrassig sei, recht. Er wies meine Klage ab. Die Begründung des Freispruchs: Mit meinem Skateboard sei ich eine Gefahr für andere gewesen, der Hundebiss also Notwehr. Für den Richter waren Skateboardfahrer so eine Art Vandale, eine Gefährdung für die Öffentlichkeit. Mein Bruder legte Berufung ein, die zweite Verhandlung ging zu meinen Gunsten aus: Der neue Richter, Mitte 40, der als Kind bestimmt selber mal auf einem Skateboard stand, verurteilte den Hausmeister zu einer kleinen Geldstrafe. Ich war 17 Jahre alt und hatte gelernt: Recht ist, was der jeweilige Richter richtig findet.
Einige Monate später machte meine Schulklasse einen Ausflug ins kleine Amtsgericht meiner Heimatstadt, das mit seiner neubarocken Fassade aus dem Jahr 1913 wie ein alter Herrensitz aussieht. Zwei Verhandlungen sollten wir ansehen. In der ersten war ein Mann aus Togo angeklagt wegen...