Einleitung
Problemstellung
Banken sind Intermediäre und übernehmen in einer Volkswirtschaft unter anderem die Bonitäts-, Fristen- und Losgrößentransformation.1 Mit diesen Transformationsfunktionen sind zahlreiche Risiken verbunden. Verluste aus schlagend werdenden Risiken sind durch das Eigenkapital auszugleichen. Insofern wird der Geschäftsumfang der Banken durch deren Eigenkapital begrenzt.2 Wie die folgende Tabelle zeigt, liegen die Eigenkapitalquoten der wesentlichen Bankengruppen in Deutschland zwischen 5,13 % und 8,71 %.3
Tabelle 1: Eigenkapitalausstattung deutscher Bankengruppen
Diese im Verhältnis zur Bilanzsumme und zu anderen Branchen knappe Eigenkapitalausstattung stellt besondere Anforderungen an das Risikomanagement.4 Mit dem Ziel der Solvenzsicherung und dem damit intendierten Schutz der Gläubiger fordert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in AT 4.1 Tz. 1 der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk), dass die Geschäftsleitung einer Bank auf der Grundlage des Gesamtrisikoprofils dafür Sorge zu tragen hat, dass die wesentlichen Risiken durch Risikodeckungsmassen (RDM) laufend abgedeckt sind und damit die Risikotragfähigkeit gegeben ist.5 Die Steuerung der Risikotragfähigkeit (RTF) basiert auf einer sogenannten RTF-Konzeption.
Um die Anforderungen der Bankenaufsicht einzuhalten, muss ein Kreditinstitut in einer solchen Konzeption folglich mindestens das allgemein formulierte Risikotragfähigkeitskalkül Risiko ≤ RDM berücksichtigen.6 Diese – auf den ersten Blick trivial anmutende – Formel fordert die Auseinandersetzung mit einigen grundsätzlichen Problemstellungen. So haben Entscheidungsträger einer Bank im Rahmen ihrer RTF-Konzeption zu erklären, über welche Risikodeckungsmassen die Bank verfügt, Teilproblem (1) welcher Teil der Deckungsmassen (Risikokapital) zur Übernahme von Risiken bereitgestellt, Teilproblem (2) wie das Risikokapital verteilt und Teilproblem (3) wie das Risiko gemessen werden soll. In allen Fällen handelt es sich um Entscheidungsprobleme.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es, die genannten Teilprobleme aus der Perspektive eines rational handelnden Akteurs zu betrachten und die zentrale Forschungsfrage zu beantworten, wie eine entscheidungstheoretisch fundierte Risikotragfähigkeitskonzeption aufgebaut werden kann. Einen geeigneten Rahmen dazu bietet die (präskriptive) Entscheidungstheorie. Auf dieser Grundlage soll eine Anleitung gegeben werden, wie im Kontext einer RTF-Konzeption (rationale) Entscheidungen getroffen werden können, die im Einklang (d. h. widerspruchsfrei) zu den Zielen und Risikoeinstellungen der Entscheidungsträger stehen. Der Aspekt der Widerspruchsfreiheit ist aus zwei Gründen von zentraler Bedeutung. Einerseits sollen die Vorgehensweise bei der Wahl zwischen riskanten Alternativen die individuelle Risikoeinstellung zutreffend abbilden und die Verfahren der Risikomessung eine realistische Risikoperzeption ermöglichen. Erst auf dieser Grundlage können Entscheidungen über die Höhe und die Verteilung des Risikokapitals getroffen werden. Andererseits besteht die Anforderung, Entscheidungen und deren Grundlagen für Dritte nachvollziehbar zu dokumentieren. Transparenz und Konsistenz von Entscheidungen spielen unter diesem Gesichtspunkt eine besondere Rolle. Ausgehend von den genannten Teilproblemen und deren Einordnung in den Kontext der Entscheidungstheorie sollen die folgenden Teil-Forschungsfragen (TFF) beantwortet werden:
TFF (1) Welche Faktoren sollten Entscheidungsträger bei der Festlegung ihrer Risikotoleranz berücksichtigen?
TFF (2) Welche Faktoren sollten Entscheidungsträger bei der Wahl von Haltedauer und Konfidenzniveau berücksichtigen?
TFF (3) Wie sollte Risikokapital entscheidungstheoretisch fundiert (rational) investiert werden?
Erkenntnisobjekte sind Kreditinstitute im Allgemeinen und die genossenschaftliche Finanzgruppe in Deutschland im Besonderen. Die genossenschaftliche Finanzgruppe stellt neben dem Sparkassensektor und den Kreditbanken eine bedeutende Säule des deutschen Bankensystems dar. Teil der Finanzgruppe sind per Oktober 2016 986 Volksund Raiffeisenbanken.7 Die einzelnen Genossenschaftsbanken sind juristisch selbstständige Institute im Sinne des § 1 Abs. 1b KWG. Der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit liegt im regionalen Privat- und Firmenkundengeschäft. Die Unternehmen der genossenschaftlichen Finanzgruppe sind in Verbänden organisiert.8 Die Verbandsstruktur umfasst die regionalen Prüfungsverbände, den BVR sowie den DGRV. Der BVR ist der Spitzenverband der Finanzgruppe, der DGRV der Dachverband des gesamten deutschen Genossenschaftswesens. Die Zusammenarbeit innerhalb der genossenschaftlichen Finanzgruppe erfolgt nach den Prinzipien eines kooperierenden dezentralen Netzwerks9 auf der Grundlage finanzieller und personeller Verflechtungen.10 Dabei verzichten die einzelnen Kooperationspartner freiwillig auf einen Teil ihrer Handlungsfreiheit zugunsten eines wirtschaftlichen Erfolgs, der sogenannten Kooperationsrente. Im Zusammenhang mit der „Neuen Institutionenökonomik“ wird die einzelne Genossenschaftsbank und auch die gesamte Finanzgruppe als hybride Organisationsform zwischen Markt und Hierarchie bezeichnet.11 Darunter ist nach Greve (2002) und Wagner (2004) zu verstehen, dass rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Mitglieder (Markt) bestimmte Finanzdienstleistungen mit dem Ziel der Senkung von Transaktionskosten sowie der Nutzung von Zentralisierungs- und Dezentralisierungsvorteilen über die Kreditgenossenschaft bzw. die genossenschaftliche Finanzgruppe betreiben (Hierarchie).
Im Rahmen der Teil-Forschungsfrage 1 wird untersucht, welche Aspekte Entscheidungsträger in Banken bei der Festlegung ihrer Risikotoleranz berücksichtigen sollten. Die Risikotoleranz (RT) gibt an, welcher Teil der Risikodeckungsmassen zur Übernahme von Risiken maximal bereitgestellt wird. Durch diese Kennziffer ist es möglich, Risikobereitschaften verschiedener Institute vergleichbar zu machen. Auf der Grundlage eines Einflussdiagramms wird eine Entscheidungsregel entwickelt, welche bei der Festlegung der Risikotoleranz unterstützen kann.
Gegenstand der Teil-Forschungsfrage 2 ist eine Systematisierung von Faktoren, die Entscheidungsträger bei der Wahl von Haltedauer und Konfidenzniveau berücksichtigen sollten. Auf der Grundlage eines Einflussdiagramms wird analog zum Vorgehen bei Teil-Forschungsfrage 1 eine Entscheidungsregel entwickelt.
Die Beantwortung der Teil-Forschungsfrage 3 erfordert zunächst eine Festlegung darüber, wie Entscheidungsträger aus einer Menge zulässiger Alternativen auswählen. Dies wird von allgemeinen, aus dem sogenannten Risiko-Chancen-Kalkül abgeleiteten strategischen Überlegungen und den daraus formulierten konkreten Zielen, der Präferenzstruktur sowie von der Risikoperzeption der Entscheidungsträger abhängen.12 Rationale Entscheidungen ermöglicht die auf dem Bernoulli-Prinzip basierende und von Neumann/ Morgenstern (1947) axiomatisch begründete Erwartungsnutzentheorie. Da die Auswahl nach der Erwartungsnutzentheorie eine etwa von der Bankenaufsicht vorgegebene Risikotoleranz nicht berücksichtigt, ist eine Verbindung zwischen dem Risiko einer Alternative X und deren Erwartungsnutzen Eu(X) herzustellen. Dabei wird das Risikotragfähigkeitskalkül Risiko ≤ RDM als Nebenbedingung des Erwartungsnutzenkalküls behandelt. Daraus entsteht dann ein Optimierungsproblem auf der Grundlage eines nicht kompensatorischen Risiko-Wert-Modells der Form:
Im Rahmen der von der Deutschen Bundesbank im November 2010 durchgeführten Studie „Range of Practice“ wurden die Risikotragfähigkeitskonzeptionen von 150 deutschen Kreditinstituten untersucht. Eine Erkenntnis dieser Studie ist, dass das Value-at-Risk-Konzept zur Risikomessung in der deutschen Bankenlandschaft sehr stark verbreitet ist, obgleich im Schrifttum zahlreiche Kritik am Value-at-Risk (VaR) vorgetragen wird. Zudem ist eine große Bandbreite bei der Wahl von Haltedauer und Konfidenzniveau im Zusammenhang mit der Ermittlung des VaR festzustellen.13
Lister/Polle (2014) zeigen in einer beispielhaften Anwendung der Parametrisierungen in den Bandbreiten der „Range of Practice“ auf die wesentlichen Risikoarten, Adress- und Marktpreisrisiken einer Kreditgenossenschaft, dass bei Verwendung eher milder Parametrisierungen für Haltedauer und Konfidenzniveau wenig Risikokapital gebunden wird und folglich Steuerungsimpulse entstehen, die eine Ausweitung des Risikos begründen können. Die Verwendung von eher strengen Parametrisierungen führt hingegen dazu, dass die Risiken das bereitgestellte Risikokapital deutlich überschreiten. Der Steuerungsimpuls kann in diesem Fall zu einer Reduktion der eingegangenen Risiken und damit unter Umständen auch zu einer Begrenzung der Ertragschancen führen. Es ist offensichtlich, dass die Wahl der Parameter einen...