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E-Book

Rituelle Distanz

Israels deutsche Frage

AutorDan Diner
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783641155896
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
1965 haben die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen - vorläufiger Endpunkt einer dramatischen Vorgeschichte, die im Luxemburger Abkommen zur sogenannten Wiedergutmachung von 1952 ihren Ausgang nahm. In dichter Erzählung sucht der Historiker Dan Diner die Tiefenschichten jener zwiespältigen deutsch-israelischen Annäherung auszuleuchten, vor allem die politisch-theologischen Aspekte der Diskussion auf israelischer Seite nur wenige Jahre nach dem Mord an den europäischen Juden. Es geht ihm dabei um Sprache und Habitus, Fluch und Bann, um Erinnern und Vergessen, Anerkennung und Nichtanerkennung - schließlich um die Entscheidung zwischen jüdischer Tradition und israelischer Staatsraison: Durfte man mit dem Land der Mörder in Verhandlungen treten und materielle Entschädigung annehmen?

Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Der international renommierte Historiker war von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Dan Diner steht der Alfred Landecker Stiftung vor. Zu seinen Hauptwerken gehört »Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte« (2010); »Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989« (2015) und »Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage« (2015).

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Leseprobe

Am Zeremonientisch in Luxemburg

Frostig war die Stimmung an jenem Morgen des 10. September 1952 im Cercle Municipal der Stadt Luxemburg, dem festlichen Stadtpalais am Place d’Armes. Frostig sollte es zugehen, als die Vertreter des jüdischen Volkes auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite einander in dessen Zeremoniensaal, dem Salle Flamande, für alle Welt sichtbar begegneten.1 Für demonstrative Distanz bestand guter Grund. Nur wenige Jahre nach der Katastrophe und gegen den erbitterten Widerstand nicht unerheblicher Teile der jüdischen, vornehmlich der israelischen Öffentlichkeit hatten die Vertreter des jüdischen Volkes in Gestalt des Staates Israel sowie der Claims Conference sich dazu durchgerungen, mit dem Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ein Abkommen über Restitution und Entschädigung zu schließen – die sogenannte Wiedergutmachung.

Zwiespältig war das Unternehmen von Anfang an gewesen. Seinen zeremoniellen Ausdruck fand diese Ambivalenz im abends zuvor von den Delegationsführern der vertragsschließenden Parteien erzielten Einvernehmen, während und unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung weder Reden zu halten noch Vertraulichkeiten auszutauschen. Nach außen hin sollte, trotz der zuvor diplomatisch erzielten Übereinkunft in der Sache, bleibender Dissens demonstriert werden. Einen das Vertragswerk besiegelnden Händedruck galt es zu vermeiden; Stille sollte obwalten.2

Als nun in aller Frühe beide Delegationen durch gegenüberliegende, zeremoniell sich öffnende Türen in den Saal schritten, waren allenfalls verhaltene Laute gegenseitiger Vorstellung vernehmbar. Wortlos nahmen die Delegationen am massiven Zeremonientisch des salle des mariages einander gegenüber Platz. Schweigend unterzeichneten Außenminister (und Bundeskanzler) Konrad Adenauer auf der einen Seite und sein israelischer Amtskollege Moshe Sharett auf der anderen das doppelt ausgefertigte Dokument; Nahum Goldmann unterfertigte als Präsident der Claims Conference die anliegenden Protokolle. Der vereinbarten Etikette ostentativer Distanz war Genüge getan.

Statt ungesagter Worte sind Bilder überliefert. Die »Episode der nicht gehaltenen Reden« wurde für Zeitgenossen wie Nachwelt ausgiebig auf Zelluloid gebannt.3 Die eindrücklichen Bilder schienen zu bezeugen, dass Deutsche und Juden nur wenige Jahre nach der Katastrophe, für die sich erst später das Wort vom Holocaust einstellen sollte, das Fundament für einen Neuanfang legten. Diese Lesart kam der deutschen Seite entgegen. Ein solcher Neubeginn sollte freilich nicht als Wiederanknüpfung an die vormalige, durch die Geschichte dementierte Gemeinsamkeit von Deutschen und Juden verstanden werden. Von nun an waltete ein anderes Verhältnis vor, gezeichnet von einer scharf gezogenen Linie kollektiver Unterscheidung. Unter diesen Voraussetzungen und vor dem Hintergrund der Katastrophe erstrebten Juden und Deutsche ein den Erfordernissen des Tages geschuldetes Auskommen. Diese Konstellation nahm in Luxemburg in der Szene sich anschweigender Delegationen choreographisch Gestalt an. Es schien, als laste über der Begegnung die Aura eines Banns. Ein solcher Eindruck entsprach dem Empfinden der jüdisch-israelischen Seite.

Die Choreographie der mise en scène verhaltener Annäherung bei bleibender Entzweiung war den israelischen Unterhändlern, die am 20. März 1952 im Hotel Kasteel Oud-Wassenaar des holländischen Ortes Wassenaar bei Den Haag die Verhandlungen eröffnet hatten, mit auf den Weg gegeben worden. Wenige Wochen zuvor war es der israelischen Regierung unter großen Mühen gelungen, eine parlamentarische Legitimation für die Aufnahme von Verhandlungen mit Deutschland zu erwirken.4 Die dreitägige Debatte über die Restitutionsfrage Anfang Januar war die wohl dramatischste, die jemals im israelischen Parlament geführten worden ist. Nur wenige Jahre nach den kurz aufeinanderfolgenden Ereignissen von Katastrophe und Staatsgründung hatten aufgebrachte Parlamentarier die Regierung in geradezu liturgisch aufgeladener Sprache beschworen, die Ehre Israels nicht zu beflecken und sich vor dem Frevel einer direkten Kontaktaufnahme mit den Deutschen zu hüten. Die israelischen Unterhändler hatten der Debatte beigewohnt. Noch jahrelang standen sie, wie einer von ihnen später zu berichten wusste, unter dem Eindruck jenes dramatischen Geschehens – ein gewaltiger kollektiver Aufschrei, dessen Echo sie als gleichsam heiliger Auftrag in die Verhandlungen begleiten sollte.5 Diesem Auftrag galt es, wenn schon nicht in der Sache, so doch der Form nach zu entsprechen: Von den Deutschen war Abstand zu halten.

Von den Deutschen Abstand zu halten war für die israelischen Unterhändler nicht leicht gewesen. Allein schon der Umstand, dass sie durchweg deutsch-jüdischer Herkunft, habituell recht eigentlich Deutsche gewesen waren, ließ erahnen, dass die mit ihrer Herkunft verbundenen Prägungen womöglich zu Befangenheiten führen könnten. Bereits vor einer vertraulichen frühen Sondierung, die in Anwesenheit Konrad Adenauers stattfand, hatte Gershon Avner, der Direktor der Abteilung Westeuropa im israelischen Außenministerium – auch er deutschstämmig und später Sprecher der israelischen Verhandlungsdelegation in Wassenaar –, derartige Besorgnisse vernehmen lassen: Dem Treffen solle unbedingt eine israelische Amtsperson beiwohnen, die zwar fließend Deutsch spreche, nicht aber durch eine deutsch-jüdische Herkunft beeinträchtigt wäre – handicapé, wie es in der Begründung Avners hieß.6 Die Wahl fiel auf Maurice Fischer, den israelischen Botschafter in Paris, der früher im belgischen Antwerpen beheimatet gewesen war.

Die Vermutung, die deutsch-jüdische Herkunft israelischer Unterhändler könnte sich belastend auf die Gespräche auswirken, bestätigte sich während der Verhandlungen in Wassenaar. Der anfangs demonstrativ eingehaltene Abstand der israelischen Gesandten den bundesdeutschen Unterhändlern gegenüber schmolz zusehends dahin. Auf Dauer erwies sich die vormals geteilte deutsche Verhaltens- und Sprachkultur als stärker denn die beabsichtigte strikte Unterscheidung zweier Kollektive – von Deutschen und von Juden.

Für die Eröffnung der Verhandlungen im holländischen Wassenaar hatte die israelische Seite Vorkehrungen zur Wahrung ritueller Distanz getroffen.7 So sollten die Delegationen den Raum nacheinander und in einem Abstand von fünf Minuten betreten, damit es nicht zu einer zufälligen Begegnung auf den Fluren käme. Auch der sonst übliche, Vertrauen einflößende Brauch, zur Begrüßung die entgegengestreckte rechte Hand zu ergreifen, galt als unangebracht und war durch eine angedeutete stumme Verbeugung zu ersetzen.8 Außer durch verhaltene Körpersprache sollte die Choreographie der Distanz vor allem durch die israelische Weigerung aufrechterhalten werden, Deutsch als Verkehrs- und Verhandlungssprache gelten zu lassen. Tatsächlich hätte nichts nähergelegen, als sich untereinander auf Deutsch zu verständigen. Deutsch war allen Delegierten vertrautes Medium gewesen; Deutsch war die Muttersprache aller an den deutsch-israelischen Verhandlungen beteiligten Unterhändler. Allerdings hätte die Verwendung des Deutschen gegen den Imperativ ostentativer Distanznahme verstoßen. Deutsch, in der Vergangenheit vielleicht die Sprache der Juden Europas, galt Juden, besonders israelischen Juden, inzwischen als kontaminiert, seine Verwendung war anstößig, zumal im öffentlichen Raum und erst recht von Staats wegen.9

Das geradezu rituelle jüdische Begehren, infolge der Katastrophe alles Deutsche zu exorzieren, erreichte im Moment einer simultanen Bannung Deutschlands und der Staatswerdung Israels seinen Höhepunkt, um davon ausgehend tiefe Wurzeln in das Gewebe des neu gezeugten, untrennbar mit den Zeitikonen 1945/48 verbundenen jüdischen Selbstverständnisses zu schlagen. Ein solcher Exorzismus verwarf Embleme jüdischer Zugehörigkeit, die auf Deutsches zurückgingen, vornehmlich die der Kultur des aschkenasischen Judentums vertraut gewesene deutsche Sprache. Der Rückzug dieses Mediums aus dem öffentlichen Raum – eine Tendenz, die in Palästina mit dem zionistischen Vorhaben einer hebräischen Nationsbildung einherging und schon vor der Katastrophe begonnen hatte – nahm jetzt den Charakter einer regelrechten Austreibung an. Die Geschichtserzählung deutsch-jüdischer Emanzipation war endgültig in Verruf geraten. Dieser Strang der Geschichte der Juden galt als abgerissen, gescheitert, ja, von vornherein verfehlt. Damit war die deutsch-jüdische Akkulturationserfahrung jüdisch-kollektiv stigmatisiert.10

Die ins jüdische Selbstverständnis eingegangene Beschädigung des Deutschen fand auch im internen Geschäftsverkehr des israelischen Außenministeriums ihren Niederschlag. In einer Denkschrift, in der er zunächst das Szenario in Wassenaar Revue passierenden ließ, ging Shabtai Rosenne, Rechtsberater der Behörde, unter anderem der Frage nach, in welcher Sprache die Ergebnisse der Verhandlungen bekanntzumachen wären. Sollte das Hebräische als Nationalsprache der israelischen Juden Berücksichtigung finden, dann müsste, so das Fazit des Juristen, internationalen Gepflogenheiten entsprechend auch die deutschsprachige Fassung des Vertrags im israelischen Amtsblatt erscheinen – eine Vorstellung, die Rosenne für unerträglich hielt. Der Justiziar wandte sich mit der rhetorischen Frage an die Mitarbeiter der Behörde, ob ihnen eine derartige...

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