„Gelobt seist du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Weib erschaffen.”
Morgengebet der Männer[91]
Die Jahrhundertwende hat der abendländischen Kultur einen Mann beschert, der es auf sich nahm, christliche Mythen des Weiblichen noch einmal zusammenzufassen und sie aus moderner Sicht ‚wissenschaftlich’ zu fundieren. Der Philosoph und Psychologe Otto Weininger (1880-1903), der sich mit dreiundzwanzig Jahren eine Kugel ins Herz schoss, entwickelte in seinem Hauptwerk Geschlecht und Charakter eine Metaphysik der Geschlechter, die dem sittlichen und geistigen Wert des Mannes die Triebhaftigkeit und geistige Unterlegenheit der Frau gegenüberstellt. Neu an seiner These war die Erkenntnis, dass Mann und Frau auch durch gegengeschlechtliche Komponenten bestimmt sind, was ihm selber zum Verhängnis werden sollte: „Weininger [...] bemerkte immer deutlicher [...], dass der ‚Mensch’ Otto Weininger nicht jenes von ihm vorgestellte unbefleckte und vollkommen bewusste Subjekt war, sondern immer mehr dem Verbrecher, der Gegenfigur des Weibes ähnelte.”[92] Während Musil den Namen Weininger in seinen Tagebüchern nur 2-mal am Rande erwähnt (TB I 138; TB II 1216), und ihn in einer Notiz der „philosophisch spekulativen Psychologie” zuordnet (PS 1838), fand Joyce bei ihm Anregungen für Leopold Bloom, den „womanly man” in Ulysses, der wie Weininger jüdisch ist und jene weiblichen Züge aufweist, die der Autor von Geschlecht und Charakter den Juden zuschreibt. Ellmann gemäß stimmte Joyce auch Weiningers Theorie zu, dass die Frau „the sin of man” sei[93]: „Joyce largely agreed with this view, and was always laboring to isolate female characteristics, from an incapacity for philosophy to a dislike for soup.”[94] Dass er Bloom dank seiner weiblich-jüdischen Seiten zum Allroundman werden ließ[95], ist ein Widerspruch, der feministischen Kritikerinnen nicht entgangen ist: Weiblichkeit ist für Joyce – anders als für Weininger – eine Qualität des Mannes; sie ist aber auch für ihn ein Fehler der Frau. Während Törless sich zu wünschen wagt, „ein Mäderl zu sein [...]. Etwas, das Körper und Seele zugleich zu sein schien” (T 86), empfindet Stephen bereits seine Jugendliebe Emma als das ganz Andere[96], und Bloom, sein reiferes Double, sehnt sich trotz aller Einfühlung in seine Gattin nicht danach, eine Frau zu sein, stöhnt aber in der Bordellszene im Circe-Kapitel (U 403): „O, I so want to be a mother”, eine Couvade, die Stephen noch auf die geistige Ebene überträgt, wo eine ‚unbefleckte Empfängnis’ möglich ist: „O! In the virgin womb of the imagination the word was made flesh” (P 217). In Ulysses wollte Joyce das Leib-Seele-Problem seiner Jugend lösen:
„To override the dichotomy of body and soul, to reveal their fundamental unity, he was displaying the mind’s imagery under the influence of particular physical functions. For example, he cited Bloom’s thought on his way to lunch, ‚Molly’s legs are out of plumb.’ ‚At another time of day,’ he said, Bloom ‚might have expressed the same thought without any underthought of food.’”[97]
Wer genauer hinsieht, entdeckt indes, dass sich Joyce zwar zur männlichen Inkarnation durchringt, die Frau aber nicht aus der minderwertigen Lage des ‚Nur-Leibes’ befreit.
„Das ganz sehr Zweifelhafte der Körperlichkeit verlangt nach höchster Idealisierung [...]. Dem steht nun die unsexuelle Körperlichkeit der Mutter entgegen”, schreibt Robert Musil zwischen l929-1941 in sein Tagebuch (TB I 773), wonach er den Oedipus-Komplex negiert und die Problematik der Mutterbindung umdeutet: „Nicht Gegenstand des Begehrens ist die Mutter; sondern Hindernis der Stimmung u. Stimmungsentkleidung jedes Begehrens, falls der Zufall dem jungen Mann eine sexuelle Möglichkeit bietet.”[98] Bei seinem Eintritt in das Konvikt zu W.[99] steht der kleine Törless noch voll im Bann seiner Mutter, doch mit zunehmendem Alter und unter dem Einfluss seiner „rauhen, männlicheren Freunde[...]” sucht er sich, von ihr zu distanzieren:
„Besuchten ihn jetzt seine Eltern, so war er, solange sie allein waren, still und scheu. Den zärtlichen Berührungen seiner Mutter entzog er sich jedesmal unter einem anderen Vorwande. In Wahrheit hätte er ihnen gern nachgegeben, aber er schämte sich, als seien die Augen seiner Kameraden auf ihn gerichtet.“ (T 14)
Das leidenschaftliche Heimweh nach den ersten Trennungen macht allmählich einer Leere Platz, die ihn nach neuen Eindrücken und Erfahrungen Ausschau halten lässt. Auf die kurze Freundschaft mit dem Fürsten H., einer „Zeit wie in einer Idylle”, während der er sich „wie in einer abseits des Weges liegenden Kapelle” fühlte (T 11), folgt seine erste moralische Verwirrung. Der Zusammenprall mit einer ‚verdrängten’ aber realen Dimension des Lebens, die sich krass von der konventionellen Welt abhebt, stößt ihn aus dem Paradies kindlicher Unschuld in die tabuisierte Zone grober Sinnlichkeit. Die Begegnung mit der Prostituierten Bozena wirft ein neues Licht auf sein bis dahin ‚intaktes’ Mutterbild. Zwar reißt diese Frau „Teile seines Inneren, die wie reifende Keime noch auf den befruchtenden Augenblick warteten, gleichsam frühzeitig an die Oberfläche” (T 31), doch beschleunigt sie damit nur einen Ablösungsprozess, der bereits eingesetzt hat:
„Er hatte damals plötzlich an seine [...] Mutter denken müssen, und dies hielt nun fest und war nicht loszubekommen [...] Und hastig war darauf eine Reihe von Fragen gefolgt, die es verdecken sollten: ‚Was ist es, das es ermöglicht, dass diese Bozena ihre niedrige Existenz an die meiner Mutter heranrücken kann? Warum berüht sie nicht mit der Stirne die Erde, wenn sie schon von ihr sprechen muss? [...] Dieses Weib ist für mich ein Knäuel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte....’” (T 33)
Der Zusammenhang, der die beiden „durch ihn hindurch verkettet[...]” gewinnt für ihn „eine fürchterliche, unklare Bedeutung”, verhilft ihm aber nach und nach zur Überwindung eines Gegensatzes, den Stephen Dedalus als Präfekt der Sodalität der Gesegneten Jungfrau Maria ideologisch untermauert:
„The glories of Mary held his soul captive: spikenard and myrrh and frankincense, symbolising the preciousness of God’s gifts to her soul, rich garments, symbolising her royal lineage, her emblems, the lateflowering plant and lateblossoming tree, symbolising the agelong gradual growth of her cultus among men. [...] Her eyes seemed to regard him with mild pity; her holiness, a strange light glowing faintly upon her frail flesh, did not humiliate the sinner who approached her. If ever he was impelled to cast sin from him and to repent the impulse that moved him was the wish to be her knight.” (P 104f.)
Über Sinn und Unsinn der männlichen Marienverehrung wird heute nicht mehr viel diskutiert, und sie könnte als längst überholtes Phänomen abgetan werden, hätte sie in der Joyce’schen Sprache nicht unauslöschliche Spuren hinterlassen und sich somit in Werke hinübergerettet, die den traditionellen Rahmen der Weltliteratur für immer gesprengt haben. Dieses Paradox verleiht einer dichterischen Revolution jenen archaischen Zug, den Virginia Woolf „pre-historic”[100] nannte, der aber dem zyklischen Denken entspricht, das Joyce so radikal von Musil unterscheidet.[101] Die christliche Madonna ist eine verharmloste Magna Mater, in der die weiblich-instinkthaften Dimensionen getilgt wurden. Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich die Ikone der Theotokos, der Gebärerin Gottes, schrittweise zum Idealbild der Frau an sich. Die Stilisierung der idealen Frau als Modell und Mutter war ein Werk der Männer, die mit einer zunehmenden Verachtung der wirklichen, ‚leib-haftigen’ Frau einherging:
„Die marianische Bewegung und die Verdammung der Frau, des sündhaften Fleisches, gehören vom 12. bis zum 20. Jahrhundert eng zusammen. Die Männer schaffen sich mit dieser gottähnlichen Gestalt eine Fürsprecherin im Himmel, ja eine Miterlöserin. Der früh sich überhitzende Marienkult leistet psychisch etwas ganz Außerordentliches. Er ermöglicht zölibatären, von Geschlechtsangst besessenen Männern und Mönchen – tief in Mutterbindungen, wenn nicht Mutterkomlexen verstrickt –, die eigene Mutter in Maria auf den Altar ihres Herzens und aller Kirchen zu erheben und die Frau als sexuelles Wesen zur Hölle zu schicken.”[102]
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