Auzelg – eine geschützte kleine Welt
Kosovo, Mazedonien, Somalia, Ghana, Kroatien, Türkei, Sri Lanka. Die Kinder, die im Hort der Schule Auzelg miteinander spielen, kommen aus allen Himmelsrichtungen. Von den derzeit 230 Schülerinnen und Schülern der Primarschule sind über achtzig Prozent fremdsprachig. »Als wir klein waren, gab es noch den einen oder anderen gebürtigen Schweizer, heute kann man das praktisch ausschließen«, erzählt Roberto, der mich vor Weihnachten 2017 zusammen mit Francisco hierherbegleitet.
Wir betreten das Schulhaus und stehen wenig später im großen Aufenthaltsraum des Hortes. Uns fallen sofort die vielen Zeitungsartikel mit Fotos der Rodriguez-Brüder auf, die an den Türen eines Schranks kleben; obendrauf stehen Pokale. Den größten habe er mit seiner damaligen Mannschaft in einem Quartierturnier gewonnen, erzählt Francisco.
Dann geht die Tür auf, und Roberto ruft erfreut: »Hoi, Domi!« Dominique Okouo, wie Domi mit vollem Namen heißt, steht für die Vielschichtigkeit dieses speziellen Ortes. Seine Wurzeln hat er im Kongo, lesen und schreiben lernte er in Schwamendingen an der Schule Auzelg, heute arbeitet er als Kleinkindbetreuer im Hort, der ihm einst selber Geborgenheit gab. Daneben hat er es als DJ Jesaya zu nationaler Bekanntheit gebracht. »Er legt in verschiedenen Klubs auf«, sagt Francisco nicht ohne Bewunderung. Sein erstes Album trägt den Titel »Operation Hope«.
Das Auzelg-Quartier macht den Eindruck einer in sich abgeschlossenen Welt – umgeben von den dampfenden Kaminen der Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz und des Heizkraftwerkes Aubrugg, dem EWZ-Unterwerk Oerlikon und einem breiten Schrebergarten-Gürtel. Die Autobahn und die Eisenbahn haben die globale Enklave am Rande Zürichs scheinbar im Würgegriff. Der für Fußgänger und Velofahrer direkte Weg ins übrige Stadtgebiet führt über zwei Brücken, zuerst eine metallene, unter der die Züge durchfahren, dann eine hölzerne über die Glatt. Automobilisten müssen den Umweg über Opfiker Gemeindegebiet nehmen.
Die Rodriguez-Brüder haben nicht vergessen, wo sie herkommen. Mindestens einmal pro Jahr kehren sie in den Hort und in die Schule zurück, wo sie nicht nur das Alphabet, sondern auch das Fußball-Abc gelernt haben. Werner Schacher, Leiter Betreuung in der Schule Auzelg, ist für sie noch immer eine wichtige Bezugsperson. »Wir werden nie vergessen, was er für uns getan hat, und dass er für dieses Buch ein Nachwort schrieb, freut uns alle drei sehr«, sagt Roberto.
»Adventskalender« – so heißt die jährliche Aktion der Schule vor Weihnachten, die den Kindern jeden Tag eine Überraschung bietet. Bis zur Bescherung müssen sie noch zwölfmal schlafen. Doch für die Kinder ist schon heute Heiligabend, Ostern und Geburtstag zusammen, denn es hat sich herumgesprochen: Zwei Rodriguez-Brüder sind zu Besuch! Die Co-Schulleiterin Domenica Frigg führt uns in den »Mehrzweckraum«, wo die Schüler bereits warten. Dass Ricardo nicht dabei ist, können sie nachvollziehen. Sie wissen, dass er jetzt in Mailand spielt. Das »Rodriguez-Fieber« mindert das in keiner Weise.
Roberto und Francisco begrüßen die Kinder mit einem fröhlichen »Hoi zäme«, setzen sich vorn auf die Bühne und lassen die Beine lässig baumeln. Der Co-Schulleiter und Heilpädagoge Claudio Tamò, ein großer FCZ-Fan und Fußballkenner, fordert die Kinder auf, Fragen zu stellen. Das muss er ihnen nicht zweimal sagen:
Wie viele Pokale habt ihr schon gewonnen?
Roberto: Als wir noch bei den Junioren tschuteten, eine ganze Vitrine voll. Aber seit wir Profifußballer sind, ist es natürlich nicht mehr so einfach.
Was ist euer Lieblingsessen?
Francisco und Roberto zwinkern sich zu – dann sagt der Jüngere: Alles, was unsere Großmutter kocht. Bei ihr zu essen, ist das Beste.
Wie viele Gegner habt ihr schon ausgedribbelt?
Roberto überlegt lange und schmunzelt: Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber sicher ist: Wir sind auch selber schon oft ausgedribbelt worden.
Wie viele Rote Karten habt ihr schon bekommen?
Francisco lacht: Ich noch keine einzige, und du? Roberto zieht eine Grimasse: Ich drei – zwei bei den Junioren und eine bei den Profis, als wir 2014 mit dem FC St. Gallen gegen Vaduz spielten. Wir lagen 1:3 im Rückstand. In der 85. Minute verwandelte ich einen Penalty zum 2:3. In der 90. Minute erhielt ich für eine Notbremse die direkte Rote Karte. Die erste und bis heute einzige Rote Karte übrigens. In der 92. Minute schossen meine Kollegen noch den Ausgleich.
Was macht ihr nach der Karriere?
Beide zögern, Roberto sagt: Darüber habe ich mir noch keine konkreten Gedanken gemacht. Ich denke, dass ich als Spieler noch vier bis fünf gute Jahre vor mir habe, danach würde ich gern in einer anderen Funktion im Fußball bleiben. Francisco: Ich bin erst 22 Jahre alt. Im Moment will ich nur eines: Fußball spielen – und jeden Tag besser werden.
Habt ihr schon einmal einen Penalty verschossen?
Roberto: Zuletzt habe ich alle verwertet – aber an einen verschossenen Elfer kann ich mich genau erinnern: Das war auch in meiner St. Galler Zeit, und zwar im Mai 2015 gegen den FC Basel. Ich war eben erst eingewechselt worden – und scheiterte. Das tat weh. Francisco: Ich gehöre in Luzern nicht zu den vorbestimmten Penaltyschützen. Aber bei den Junioren bin ich gelegentlich zum Zug gekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je einen Penalty verschossen hätte. Aber vielleicht hab ichs ja auch verdrängt … (lacht).
Seid ihr Fan von einem Klub?
Im Saal kommt Unruhe auf, Roberto antwortet zuerst: Ich bin Fan von Real Madrid (einige Kinder jubeln). Da kontert Francisco: Und ich bin Barcelona-Fan (jetzt jubeln die andern).
Was macht ihr, um bessere Freistöße zu schießen?
Roberto: Lustig. Ich habe meinem Bruder Rici diese Frage auch einmal gestellt. Er hat gesagt: »Robi, nimm nach jedem Training zwanzig Bälle und übe allein für dich – jeden Tag, nach jedem Training. Dann wirst du besser.«
Was habt ihr in eurer Kindheit am liebsten gemacht?
Roberto: Fußball gespielt – wenn möglich den ganzen Tag. Es war immer unser Traum, Profi zu werden. Aber die Schule – und jetzt hört genau hin –, die Schule sollte man trotzdem nicht vernachlässigen. Denn im Fußball schaffen es nur ganz wenige.
Die Kinder hören andächtig zu. Je länger die Fragestunde dauert, desto mehr legen sie ihre anfängliche Zurückhaltung ab und werden immer zutraulicher. Für Werner Schacher ist genau dies eines der Ziele der Veranstaltung: »Die Schüler sollen merken, dass man auch als erfolgreicher Sportler nicht abheben muss und wie wichtig es ist, seine Wurzeln nicht zu verleugnen. Und sie sollen realisieren, dass mit harter, konsequenter Arbeit jeder Erfolg haben kann – egal, ob im Sport, in der Schule oder im Beruf.«
Das Auzelg ist weit mehr als eine Schule. Da die meisten Kinder aus wenig privilegierten Familien stammen, übernehmen die Lehrpersonen und die Schulleitung auch Aufgaben, für die normalerweise Mütter und Väter zuständig sind. »Wir haben eine integrative Funktion und sehen uns als Ergänzung zu den Eltern«, erklärt Werner Schacher. Die sinnvolle Freizeitgestaltung sei ein zentrales Anliegen – um die Kinder von der Straße fernzuhalten. Das bedeutet, dass viele Schüler und Kindergärtler im Hort nicht nur zu Mittag essen, sondern – wenn beide Elternteile arbeiten – auch die freien Nachmittage hier verbringen.
Auch in den Ferien bietet die Schule attraktive und günstige Angebote. Beispielsweise das traditionelle Fußballlager im nationalen Jugendsportzentrum Tenero im Tessin. Dort waren früher auch die Rodriguez-Brüder Stammgäste. Heute unterstützen sie die Verantwortlichen mit Geld- und Materialspenden. Sie wollen etwas zurückgeben. »Wir hätten nie alle drei aufs Mal ins Lager gehen können, wenn Werner Schacher unseren Eltern nicht entgegengekommen wäre und sie den Unkostenbeitrag nicht in Raten hätten zahlen können«, erklärt Roberto. Auch Francisco ist Werner Schacher noch immer dankbar: »Ich weiß ja nicht genau, was damals alles lief. Aber wenn sich unsere Mutter bei Problemen mit Werner unterhielt, ergab sich immer eine Lösung.«
Viele Kinder, die heute den Hort im Auzelg besuchen, leben in der Wohnsiedlung Au, die zwischen 1952 und 1954 gebaut wurde und heute im Inventar der schützenswerten Bauten der Stadt Zürich aufgeführt ist. Die Siedlung wird von der 1924 gegründeten Stadtzürcher Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien verwaltet. 120 dunkelrote Reihenhäuschen bilden ein kleines Dorf, eine Mischung aus Pippi-Langstrumpf-Charme und englischer Vorstadt-Ordnung. In jedem Garten steht – wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit – ein Stewi-Wäscheständer. »Kinderreich« ist keine leere Worthülse. Mindestens drei Kinder unter achtzehn Jahren müssen zu jeder Familie gehören. Um eines der schmucken Eckhäuser bewohnen zu dürfen, sind sogar fünf Kinder Voraussetzung. Außerdem darf das jährliche Einkommen 58 300 Franken nicht übersteigen – das macht 4858 Franken pro Monat.
Weil einheimische Familien mit fünf...