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Rolle und Funktion des Klaviers in Elfriede Jelineks 'Die Klavierspielerin'

AutorSabine Gesinn
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783668068247
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Germanistik - Komparatistik, Vergleichende Literaturwissenschaft, Note: 2.0, FernUniversität Hagen (Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Das Klavier ist in Jelineks Roman ein zentraler Gegenstand. Es prägt denjenigen, der es bespielt, mehr als die meisten anderen Instrumente auf den Raum. Aufgrund seiner Einbindung in zahlreiche mikro- und makrophysikalische Strukturen der Macht kann es als Disziplinierungsmittel im Sinne von Michel Foucault gesehen werden. Die Bachelorarbeit zeigt daher zunächst das Foucualtsche Konzept der Disziplinarmacht auf. Foucualts Ausführungen zur Disziplin werden als Werkzeugkiste angewandt und zahlreiche 'Teil'-disziplinen werden vorgestellt, die im Roman eine Rolle spielen. Ohne dabei eine Dispositivanalyse leisten zu wollen, wird der historische Bezug - wie bei Foucault darlegt - anhand der Biographie von Carl Czerny verfolgt und anhand von Übebiographien auf die zeitgenössische Ebene weitergeleitet. Wie zuvor erläutert, markiert die Raumfestsetzung mit der Möglichkeit der Anwendung der Disziplinen ein wesentliches Merkmal in Jelineks Roman. Dies wird über ein Raumraster, das im wesentlichen aus dem Übungsraum, dem Unterrichtsraum und dem Konzertraum besteht, strukturiert und analysiert. In einer Gegenprobe werden die Räume ohne Klavier als Räume der Subversion von Disziplin überprüft. Mit dieser Arbeit kann die Wirkungsweise des Klaviers als ein Disziplinierungsmittel auf die bei Foucault in Überwachen und Strafen dargestellte Weise belegt werden. Über die handelnden Subjekte erzeugt es deren Produktivität und ökonomische Effizienz, es erzeugt Wissen-Macht-Komplexe und die Subjektivität der Beteiligten. Das Klavier ist ein Dispositiv in dem Sinne, dass es eine heterogene Gesamtheit knüpft, u.a. aus den Räumen und Gebäuden, in denen Anwendungen und Lehren vermittelt werden, sowie Diskursen ? und zwar sowohl auf sprachliche und nicht-sprachliche Weise. Die konkrete strategische Funktion des Klaviers ist die Dressur des Körpers auf Ökonomie und Effizienz, um Nützlichkeitseffekte für das Produktionssystem zu erzeugen. Die literarisch-künstlerische Bearbeitung Jelineks zielt auf das Klavier als Arbeitsmittel und den darüber sich entfaltenden Hierachieverhandlungen auf grotesk-bizarre Weise.

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Leseprobe

3 Rolle und Funktion des Klaviers als Disziplinierungsmittel innerhalb der Institutionen Familie und Musik


 

3.1  ̶ beispielhaft erläutert am Leben und Wirken von Carl Czerny (*1791 Wien – gest. 1857 ebd.): das Klavierspielen als Arbeit, Programm, Beruf, Produktivität und Subjektivität


 

Das späte 18. und folgende 19. Jahrhundert, kann  ̶ bezogen auf die gesellschaftliche Breitenwirkung des Klaviers  ̶ als dessen Hochzeit angesehen werden. Das Klavierspiel ist durch den einfachen Anschlag von Tasten leichter zu erlernen als Saiteninstrumente. Klavierlehrer, ebenso wie Komponist, werden zu erstrebenswerten Berufen. Von Klavierschulen für Anfänger und Fortgeschrittene, über Klavierbearbeitungen von Opernwerken u.ä. bis hin zu virtuosen Werken wird alles erzeugt, was der Musikmarkt nachfragt. Wer Klavierspiel unterrichtet oder komponiert, hat zumindest in den Anfangszeiten des Klavierbooms finanziell ausgesorgt.[71] Das Instrument Klavier erreicht selbst die kleinsten Dörfer: in Badbergen, einem kleinen Ort in der Osnabrücker Region, werden innerhalb einer kurzen Zeitspanne, von 1830 bis 1848, 104 Klaviere verkauft.[72]

 

Das Klavier ist nicht nur weit verbreitet, es ist auch umfänglich in Praktiken und Diskurse vernetzt, wie Wolfgang Scherer beschreibt: „Das Klavier […] war das Instrument der häuslichen musikalischen Reproduktion und […] das Instrument der Diskurse über Die Musik, denen sich über seine Spielvorrichtung ein […] Zugang zum Musikalischen eröffnete, mit dem zugleich die Möglichkeit gegeben war, das Musikalische allen notwendigen diskursiven Operationen zu unterziehen.“[73]

 

Anhand des Lebens und Wirkens von Carl Czerny kann exemplarisch die Rolle und Funktion des Klaviers als Disziplinierungsmittel beschrieben werden: ein Instrument, mit dessen Hilfe effizient Körper, Geste und Objekt aneinanderkoppelt und produktive Effekte sowie die Subjektivität des Individuums erzeugt werden können.

 

Carl ist der einzige Sohn des Ehepaars Czerny, das als bürgerliche Kleinfamilie in Wien lebt. In seiner Biographie zeichnet Carl Czerny den Werdegang seines Vaters nach, der zunächst eine Erziehung und musikalische Ausbildung in einem Benediktinerkloster in Prag erhält, dann zum Militär geht. Aufgrund seiner bevorstehenden Heirat fasst er den Beschluss, Klavierlehrer zu werden, um damit für die Familie zu sorgen. Durch seinem Vater erhält Carl Klavierunterricht und ist im Alter von 3 Jahren bereits an der Lage, kleinere Musikstücke zu spielen.[74]

 

Grete Wehmeyer beschreibt nachdrücklich, wie Fleiß, die Tugend des Bürgertums, und benediktinische Lebensweisen, im Sinne von ‚ora et labora‘, als Leitbilder in der Familie Czerny gelebt werden und den auf Vergnügungen verzichtenden Czerny zunehmend in die Askese treiben.[75] Die Beherrschung des Klavierspiels ist oberstes Erziehungsziel, dem alles andere untergeordnet wird. In seiner Biographie schildert Czerny, wie er „[…]sorgfältig von anderen Kindern entfernt […]“[76] erzogen wird, kommentiert jedoch, dass sich dies positiv auf seinen Fleiß und Fortschritt im Üben ausgewirkt habe. Über das Lernen des Klavierspiels hinaus kommt Carl Czerny nur durch Wissenstauschgeschäfte an weitere Bildung. Diejenigen Schüler des Vaters, die für dessen Unterricht kein Geld haben, aber über Wissen verfügen, bezahlen durch Bildungsdienste. So erhält Czerny, ohne das Haus verlassen zu müssen, eine Bildung. Er erlernt mehreren Sprachen, wie z.B. die italienische, französische und deutsche Sprache  ̶ Czerny spricht von Haus aus Böhmisch  ̶ und darüber hinaus wird er Lektüre unterwiesen „[…] daher kam es, daß ich an die gewöhnlichen Jugendunterhaltungen und Kinderkameradschaften gar nicht dachte […].“[77]

 

Erst der Kontakt zu dem einige Jahre jüngeren Grafen Eugen Czernin und dessen Hofmeister bringt Czerny ab 1803 stärker mit der Außenwelt in Kontakt. Über zehn Jahre hinweg partizipiert Czerny an der wissenschaftlichen Ausbildung des Grafen Eugen und an den abendlichen Unterhaltungen im Adelssalon, die Czerny als bedeutend für seine geistige Ausbildung einstuft.[78] Carl Czerny sieht diese Verbindung als unabhängig von Musik gegründet  ̶ insbesondere argumentiert er, dass er nichts vorspielen musste.[79] Das Vorspiel ist ihm offensichtlich unangenehm und die einzige Verweigerung der Unterwerfung des fügsamen Czerny, die er jedoch recht konsequent lebenslang durchhält.

 

Aus den Erläuterungen des Herausgebers Walter Kolneder kann entnommen werden, dass sich der Kontakt mit der Familie Czernin und anderen adligen Familien, die Czerny benennt, „[…] Schwarzenberg, Lobkowitz, Stadion […]“[80], ausschließlich auf ein musikalisch geprägtes Umfeld bezieht.[81] Es sind einflussreiche Förderer, einige davon selbst musikalisch hochtalentiert und zumeist musikalisch-politischen Schlüsselstellungen zuzuordnen. Insofern ist die Einschätzung Czernys, dass diese Kontakte nicht auf Musik gegründet sind, kritisch zu hinterfragen. Als Subjekt ist er schon so heimisch in seiner musikalischen Umgebung, dass er deren prägenden Verbindungen nicht mehr erkennt.

 

Auch wenn Czernys Verbindungen mit Eugen Czernin zu einer Erweiterung seines Wissenshorizontes führt, ändert sich dadurch nichts an seinen Zukunftsplänen. Sein Vater bildete ihn zur Sicherung eines künftigen Erwerbslebens zu einem tüchtigen Klavierlehrer aus.[82]

 

Das Klavierspiel beschreibt Czerny als seine häusliche Tätigkeit[83], was auf zwei wesentliche Merkmale verweist: zum einen, dass es ihn in eine Raumordnung zwingt, nämlich die der heimischen Wohnung. Darüber hinaus jedoch auch, dass ‚Klavierspielen‘ weit weniger mit einem Spiel gemein hat, als das Wort annehmen läßt, sondern auf das Arbeiten ausgerichtet ist. Später klassifiziert er sein Unterrichten und Komponieren auch als anstrengend.[84]

 

Heftige Kinderkrankheiten im Alter zwischen 10 und 12 Jahren wirken auf seine Gesundheit, und er analysiert in der Rückschau seiner Biographie, dass seine Reduktion auf die enge, elterliche Wohnung dazu beigetragen habe, seine Gesundheit nachhaltig zu stören[85].

 

Czernys Vater Wenzel ist der ständige Begleiter seines Sohnes Carl, unabhängig davon, ob es sich um die Begleitung zum Unterricht bei Ludwig van Beethoven handelte[86], oder um Konzertbesuche.[87] Der ‚Disziplinarblick‘ wird hier besonders deutlich, er ist ebenso allgegenwärtig wie überwachend. Der Vater sorgt dafür, dass eine Raumordnung eingehalten wird, die dem Erlernen des Klavierspiels dient. Sein Blick wirkt nicht beschwerend, so dass Carls Leistungen gehemmt werden, sondern steigert diese.

 

Carl Czerny wird zunehmend zu einem produktiven Bestandteil in der sich entwickelnden Industriegesellschaft, die auf Ökonomie und Effizienz ausgerichtet ist. An ihm kommen die mikrophysikalischen Wirkungen der Disziplinarmacht zur vollen Entfaltung.

 

Carl Czerny gibt sich mit dem zugewiesenen Raum zufrieden und sucht nur wenig Freiraum außerhalb dieser Wände. Er lernt nicht nur Klavier zu spielen, sein Vater bestimmt ihn auch zum Klavierlehrer: „ Etwa 15 Jahre war ich alt, als ich [1806] anfing, selber Unterricht zu geben […].“[88] Zur gleichen Zeit beginnt Czerny mit Kompositionen das Einkommen der gesamten Familie zu sichern, die Methoden der Disziplin zeigen ihre ökonomische Wirkung.

 

Czernys Alltag folgt 20 Jahre lang einem festen Rhythmus: er unterrichtet von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, täglich elf bis zwölf Lektionen.[89] Damit unterwirft er sich einer präzisen Zeitplanung, die sich aus den Komponenten Rhythmusfestsetzung, Tätigkeitszwang und Wiederholungszyklen zusammensetzt, analog wie von Foucault beschrieben.[90]

 

Auf Veranlassung seiner Verleger schreibt Czerny ca. 1830 eine begleitende Anweisung für den Klavierunterricht, die für ihn Allgemeingültigkeit besitzt, da sie sowohl für seine Fortepianoschule als auch für jede andere geeignet ist. Sie ist in Briefform gehalten und richtet sich an ein fiktives 12 Jahre junges Mädchen namens Cäcilie, das weit entfernt auf dem Lande lebt und deshalb von Czerny nicht persönlich unterrichtet werden kann. Diese Briefe für den Unterricht auf dem Pianoforte können als komplexes Programm aus Inhalt, Zeitplanung, der Zusammenschaltung von Körper, Geste und Objekt gelesen werden. Er schlägt vor, den Lehrgang innerhalb von acht bis zehn Wochen pro Brief, also insgesamt in anderthalb bis knapp zwei Jahren zu absolvieren[91], die Funktion von Taste zu Note zu erlernen, und kommentiert:

 

Die ersten Anfangsgründe sind in der Musik das Einzige Langweilige und unangenehme. […] Denken Sie sich […] die Sache, als ob Sie sich durch ein etwas dorniges Gestrüpp durchwinden müssten, um zu...

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