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E-Book

Rosa Luxemburg

Ein Leben

AutorErnst Piper
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl832 Seiten
ISBN9783641196363
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Rosa Luxemburg, 1871 im russischen Teil Polens geboren, gehörte vielen Minderheiten an. Sie kam aus einem jüdischen Elternhaus, perfektionierte erst während ihres Studiums in Zürich die deutsche Sprache, fand mithilfe einer Scheinehe in Deutschland ihre politische Heimat, war auf SPD-Parteitagen die einzige Frau mit einem Doktortitel und engagierte sich als rastlose Kämpferin für die europäische Arbeiterbewegung in nicht weniger als sieben verschiedenen sozialistischen Parteien.

Luxemburg war die bedeutendste marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie kämpfte für die Diktatur des Proletariats, aber zugleich gegen den autoritären Zentralismus Lenins, weshalb sie auch die Gründung der Kommunistischen Internationale ablehnte. Ihre Revolutionstheorie, ihr Freiheitsbegriff und ihr unbedingter Internationalismus ließen sie zur Ikone des weltweiten Protests der 1968er-Bewegung werden. Ihr berühmter Satz «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden» wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der untergehenden DDR. In ihrer Gedanken- und Ideenwelt ist vieles zu finden, was auch heute, in einer Zeit des wieder erwachenden Nationalismus, anregend und wichtig ist.



Ernst Piper, 1952 in München geboren, lebt heute in Berlin. Er ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert, zuletzt Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs (2014). Bei Blessing erschien seine Biografie Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe (2005).

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Leseprobe

I

Zamość

Rosa Luxemburg wurde in der Kleinstadt Zamość, etwa 250 Kilometer südöstlich von Warschau, geboren, die einst Jan Zamoyski gegründet hatte. Er gehörte einer der bedeutendsten polnischen Familien an, die in den letzten 500 Jahren eine Fülle bemerkenswerter Persönlichkeiten hervorgebracht hat, deren jüngste der Historiker Adam Zamoyski ist, dem wir ein großartiges Buch über das für die polnische Geschichte so bedeutsame Jahr 1812 verdanken.34 Jan Zamoyski prägte über Jahrzehnte hinweg das politische Leben in Polen wie kaum ein anderer. Er stammte aus einer calvinistischen Familie, ging zum Studium nach Paris und später nach Padua, wo er 1563 gerade einmal 21 Jahre alt Rektor der Universität wurde. Wenige Jahre später kehrte er in die Heimat zurück, wurde 1566 königlicher Sekretär, 1576 Kanzler, 1578 Großkanzler und 1581 Großhetman der polnischen Krone. In dieser Eigenschaft befehligte er das Heer des Königreichs Polen und Litauen. Daneben unterhielt Zamoyski auch eine Privatarmee mit mehreren Tausend Soldaten. Er war im Seijm, dem Parlament, das unter anderem den König wählte, Anführer der Partei der Szlachta. Das war der niedere Adel, dem etwa ein Zehntel der polnischen Bevölkerung angehörte. Die Szlachta war bis zur Niederschlagung des Januaraufstands 1863 die maßgebliche Trägerin der politischen Willensbildung in Polen.

Zamoyski war sehr reich. Er besaß zwei Dutzend Städte und Hunderte von Dörfern. 1580 gründete er nahe seinem Geburtsort Skokówa die Stadt Zamość, in deren Namen er sich verewigte. 1588 konstituierte sich auf Zamoyskis Initiative dort eine jüdische Gemeinde, und 1595 wurde feierlich eine Akademie eröffnet, die jungen Angehörigen der Szlachta die humanistische Bildung nahebringen sollte. Zamość wurde von dem venezianischen Baumeister Bernardo Morando ganz im Stil der Renaissance erbaut. Die Altstadt gruppiert sich um den großen, fast quadratischen Marktplatz, an dem auch das Rathaus steht, ein gewaltiger Bau mit einer großen geschwungenen Freitreppe und einem achteckigen Glockenturm. Den Platz säumen Häuser, deren Fassaden von großer Schönheit sind. Das ganze Ensemble ist bis heute erhalten und wurde 1992 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Zamość gehörte nach der ersten polnischen Teilung 1772 zum Kronland Galizien und Lodomerien und damit zum Habsburger Reich. 1809 wurde die Stadt russisch und gehörte ab 1815 zum Königreich Polen. Das war ein konstitutionelles Königreich, das bei der vierten und endgültigen Aufteilung der polnischen Gebiete auf dem Wiener Kongress geschaffen wurde. Daher stammt seine umgangssprachliche Bezeichnung Kongresspolen. Dieses Königreich Polen war durch Personalunion mit dem Russischen Reich verbunden, und nach dem Januaraufstand 1863 wurden alle seine Zentralbehörden aufgelöst, sodass Kongresspolen nur noch eine Provinz des Zarenreiches war.

Die Stadt Zamość entwickelte sich gut und hatte Ende des 19. Jahrhunderts etwa 7 000 Einwohner, von denen die Mehrheit der jüdischen Gemeinde angehörte. Die Gemeinde war von Gegnern des Chassidismus dominiert. Der osteuropäische Chassidismus war eine religiöse Erneuerungsbewegung, die auf das Studium der Tora großen Wert legte, die aber auch auf kabbalistische Traditionen rekurrierte und dem religiösen Gemeinschaftserlebnis hohe Bedeutung beimaß, sodass sie oftmals eine mystische Ausprägung gewann. Zamość dagegen war ein wichtiges Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, als deren bedeutendster Vertreter der deutsche Philosoph Moses Mendelssohn gilt. 1939 lebten mehr als 28 000 Menschen in Zamość, unter ihnen 12 500 Juden. Es gab zwei Synagogen und neun Bethäuser, außerdem neun Bibliotheken, vier Buchhandlungen und drei Druckereien. Es erschienen zahlreiche Zeitschriften, unter anderem die Zamoscher Shtime, die von der zionistisch-sozialistischen Partei Poale Zion publiziert wurde.35

Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde Zamość am 12. Oktober 1939 Teil des Distrikts Lublin innerhalb des »Generalgouvernements für die besetzten polnischen Gebiete«. Schon bald gingen die Deutschen daran, die im »Generalplan Ost« niedergelegten Germanisierungsabsichten mit ungehemmter Brutalität in die Tat umzusetzen. Am 12. November 1942 erklärte Heinrich Himmler, den Adolf Hitler zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannt hatte, den Kreis Zamość zum deutschen Siedlungsgebiet. Im Zuge der »Aktion Zamość« sollten etwa 130 000 Polen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern vertrieben werden und Platz machen für 9 000 deutsche »Neusiedler«. So sollte der von den Nationalsozialisten propagierte »Lebensraum im Osten« für das deutsche Volk geschaffen werden. Die Mehrheit der Polen konnte fliehen, viele von ihnen gingen in den Untergrund und schlossen sich den Partisanen an, aber 51 000 wurden deportiert.

Für die jüdische Bevölkerung von Zamość war nicht die Vertreibung, sondern die Vernichtung vorgesehen. Vom 27. September bis 5. Oktober 1939 war die Stadt in der Hand der Russen gewesen, viele Juden verließen mit den russischen Truppen die Stadt, für die verbleibenden 4–5 000 wurde im Frühjahr 1941 ein Getto in der Stadt errichtet.36 Im Mai 1942 begannen die Deportationen in das Vernichtungslager Bełżec, etwa 50 Kilometer südöstlich von Zamość. Sie waren nach wenigen Monaten abgeschlossen, und am 18. Oktober 1942 wurde Zamość offiziell für »judenrein« erklärt. Wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, würde die Stadt heute »Himmlerstadt« heißen. Gott sei Dank gewannen sie ihn nicht.

*

Am 5. März 1871 kam Rozalia Luxenburg, die sich später Rosa Luxemburg nannte, in Zamość zur Welt. 1871 war ein historisches Schicksalsjahr. Am 18. Januar wurde der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser gekrönt. Damit war das Deutsche Reich konstituiert, das ab 1898 für Rosa Luxemburg zur Stätte ihres Wirkens werden sollte. Vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 herrschte in der Hauptstadt des von den Deutschen besiegten Frankreich die Pariser Kommune, nach der Überzeugung von Karl Marx die erste Verwirklichung der Diktatur des Proletariats. Ihre außerordentlich brutale Niederschlagung durch französische Regierungstruppen kostete Zehntausende Menschen das Leben und machte die Pariser Kommune zum zentralen Erinnerungsort der europäischen Arbeiterbewegung. Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Kommune war der Pole Jaroslaw Dabrowski, ein revolutionärer Demokrat, der wegen Umsturzbestrebungen zu 15 Jahren Verbannung verurteilt worden war. Nach vier Jahren gelang ihm die Flucht aus Sibirien, und er ging nach Frankreich. Am 23. Mai 1871 fiel er beim Barrikadenkampf am Montmartre.

Rosa Luxemburg, die stets gegen die Wiedererrichtung des polnischen Nationalstaats gekämpft hatte, ist bis heute wenig gelitten im Land ihrer Geburt. Den meisten Polen gilt sie als Verräterin. Dennoch gab es Mitte der 1960er-Jahre eine Korrespondenz zwischen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, wie die Kommunistische Partei in Polen hieß, und dem Stadtrat von Zamość. Es ging um die Einrichtung eines kleinen Museums in Luxemburgs Geburtshaus und um die Anbringung einer Gedenktafel.37 Das Museum wurde nie verwirklicht, die Gedenktafel gab es von 1979 bis 2018. Allerdings ist sie in der Ulica Staciza angebracht, unter dem Laubengang an der Südseite des Marktplatzes. Tatsächlich kam Rosa Luxemburg zwei Straßen weiter südlich zur Welt, in der Ulica Tadeusza Kościuszki. Damals, unter russischer Fremdherrschaft, war die Straße allerdings nicht nach dem polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko benannt, sondern hieß einfach Ulica Ogrodowa, zu Deutsch Gartenstraße.38

Das Haus in der Gartenstraße hatte zunächst Rosa Luxemburgs Großvater Abraham gehört. Abraham Luxenburg hatte seine Jugendjahre allem Anschein nach in Warschau verbracht, bevor er 1828 im Alter von 22 Jahren Chana (Anna) Szlam heiratete und sich in Zamość niederließ.39 Aus dieser Ehe gingen acht Kinder hervor. Nach Chanas Tod 1848 heiratete Abraham Amalia Lewinsztajn (Löwenstein), die Tochter des Rabbis von Meseritz, die ihm zwei weitere Kinder gebar. Nach ihrem Tod heiratete er Amalias jüngere Schwester Golda, die jedoch nach kurzer Zeit ebenfalls verstarb. Ein viertes Mal heiratete Abraham nicht. Stattdessen verließ er Zamość und zog nach Berlin, wo er 1872 starb.

Abraham Luxenburg war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der mit Holz handelte und internationale Verbindungen pflegte. Er war einer der reichsten Bürger von Zamość, hatte Verbindungen zu Angehörigen der Szlachta und spielte auch eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde. Er war ein entschiedener Vertreter der Haskala, deren Anhänger, die Maskilim, für die Trennung von Religion und Staat eintraten und für die Öffnung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die Juden in Zamość verstanden sich in ihrer großen Mehrheit als polnische Patrioten, die ihre christlichen Landsleute bei ihrem Kampf gegen die russische Fremdherrschaft nach Kräften unterstützten. Als Abraham Luxenburg Zamość 1862 verließ, verkaufte er das Haus in der Gartenstraße an seinen erstgeborenen Sohn Edward, der seit 1853 mit Lina...

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