Kindheit und Jugend in Hattingen an der Ruhr
Eine Familiengeschichte Nolte gibt es seit dem Augenblick, als der dreißigjährige Lehrer Heinrich Nolte nach der Rückkehr aus der langjährigen Kriegsgefangenschaft in Frankreich die um fünf Jahre jüngere Lehrerin Anna Bruns kennenlernte und die beiden im Jahre 1922 heirateten. Anna Nolte gab ihren Beruf bald nach der Hochzeit auf und widmete sich, zumal nach der Geburt des ersten Kindes am 11. Januar 1923, das auf den Namen Ernst-Hermann getauft wurde, ganz der Sorge für die Kinder und ihren häuslichen Pflichten. 1925 folgte der zweite Sohn Heinz und 1929 die Tochter Christa-Maria. Heinrich Nolte wirkte als „Hauptlehrer“ einige Jahre in Annen, einem Vorort von Witten an der Ruhr, und 1928 zog die Familie in die neue Wirkungsstätte in Hattingen an der Ruhr um, wo er als „Konrektor“ an der katholischen Volksschule unterrichtete. 1929 wurde eine große Fünfzimmerwohnung mit der Adresse „Märkische Straße 2“ im Hause eines Bekannten bezogen.
Ich habe nur wenige Erinnerungen an meine frühe Kindheit, und die merkwürdigste davon stammt sogar möglicherweise aus einer Erzählung meiner Mutter: Im Jahre 1925 befanden wir uns im Hause meiner Großeltern in Paderborn, wo wir das Weihnachtsfest gefeiert hatten, und Anfang Januar kam meine Mutter mit verweinten Augen an mein Bett und sagte: „Denk Dir, Ernstlein, heute Nacht ist Dein Großvater gestorben.“ Ich hätte (oder habe) geantwortet: „Ist nicht fimm (schlimm), Christkind macht alles wieder heil.“
Schon diese Episode lässt erkennen, dass Hattingen nicht der einzige Wohnsitz der Familie war. Die Herkunft spielte noch geraume Zeit eine große Rolle.
Anna Nolte (meist Änne genannt) wuchs als eins von sieben Kindern in Paderborn auf, wo ihr Vater, unser Opa, als Rektor der katholischen „Bußdorf“-Volksschule amtierte. Die schöne alte Stadt an der Quelle des kleinen, bald von der Lippe aufgenommenen Flusses Pader war die Hauptstadt einer der sechs deutschen Kirchenprovinzen mit einem Erzbischof an der Spitze. Das Stadtbild wurde von dem Dom mit seinem mächtigen Turm beherrscht, und nicht nur am Sonntag ging die ganze Familie dorthin oder in die nicht weit entfernte Bußdorfkirche. Die Atmosphäre der Stadt war insofern noch mittelalterlich, aber die breiten baumbestandenen Promenaden ließen sie doch nicht als eng und winklig erscheinen.
Die bei weitem wichtigste Persönlichkeit der Stadt war der Erzbischof, dem man (nebst Begleitern) hin und wieder auf der Straße begegnen konnte. Die ganze Atmosphäre war römisch-katholisch, und niemandem wäre es eingefallen, den Papst in Rom hinter den deutschen Reichspräsidenten zurückzusetzen. Dieser Charakter wurde noch dadurch unterstrichen, dass Paderborn dicht an der Grenze zum protestantischen Deutschland lag. Die „Gegenreformation“ und ihr Erbe waren mithin noch sehr gegenwärtig.
All das brachte indessen den neuartigen Tatbestand nicht aus der Welt, dass nach dem partiell missglückten „Kulturkampf“ Bismarcks der Staat und die katholische Kirche zu einem zunächst fragilen Einvernehmen gelangt waren, das während der Zeit der Weimarer Republik den Katholizismus und dessen Partei, das „Zentrum“, zu einer tragenden Säule des Staates werden ließ. Unsere Familie war über „Versailles“ nicht weniger empört als die große Mehrheit unserer protestantischen Mitbürger, und ich erinnere mich gut, dass ich um 1931 oder 1932 einen langen Brief an den Reichspräsidenten von Hindenburg geschrieben habe, der durch die Zeichnung eines großen Rüstungswerks charakterisiert war, die ich als Aufforderung verstand, der französischen Misshandlung Deutschlands nun endlich mit aller Energie entgegenzutreten. Wenn Paderborn für meine Eltern und also auch für mich das Symbol für die Verwurzelung in zwei Jahrtausenden Christentum war, dann war der Brief an Hindenburg, den mein Vater, wohl zur Beschwichtigung, abzuschicken versprach, ein Beweis dafür, dass die Realität des Uralten das Engagement in der Gegenwart nicht ausschloss.
Aber die alltägliche Wirklichkeit in Paderborn war eine ganz einfache und schöne: das großelterliche Haus auf einer der Promenaden, das durch die Unterstützung des nach Amerika ausgewanderten Bruders meiner Mutter, unseres „Onkels Dio“, der als Arzt in Milwaukee lebte, renoviert wurde, um der unverheirateten Schwester, „Tante Gertrud“, eine bequeme Wohnstätte zu verschaffen; dessen Terrasse, wo Heinz und ich und dann auch Christa mit dem Langhaardackel namens Töter spielten, bis wir in Hattingen die Nachricht vom Tode Töters erhielten, die uns in die tiefste Betrübnis unserer Kindheit stürzte und die erst aufhörte, als unsere Mutter uns versicherte, Töter befinde sich jetzt bestimmt im Hundehimmel und dort gehe es ihm noch besser als in Paderborn.
Das Urteil aller fortschrittlichen Schriftsteller muss also lauten: Ernst Nolte ist in der extrem-reaktionären Atmosphäre des katholischen und der Zentrumspartei ergebenen Kleinbürgertums aufgewachsen, und bis zum Beginn seines Studiums machte sich nichts bemerkbar, das in ihm Kritik gegenüber „seiner Welt“ und „seinen Eltern“ erweckt hätte.
Es gab jedoch ein Phänomen, das eine solche Kritik in extremem Maße übte und dabei auf die Gegenkritik keineswegs bloß „des Katholizismus“, sondern auf die der ganzen „abendländischen“, „westlichen“ oder „kapitalistischen“ Welt stieß, die sich ihrer Vorrangstellung in der Geschichte bewusst war und sich besonders „fortschrittlich“ glaubte: Das war der seit 1917 im weiten Russland herrschende Bolschewismus, der nach seiner marxistischen Theorie noch „fortschrittlicher“ sein wollte. Von diesem Bolschewismus und dessen deutschem Zweig, der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), waren die Zeitungen voll, die ich als Achtjähriger regelmäßig las, und dasselbe galt für die Bücher, welche die Russische Revolution und das Leben unter dem Bolschewismus beschrieben, an der Spitze das Buch der Arzttochter aus der russischen Provinz Alexandra Rachmanowa „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod“1. Wenn das, was hier beschrieben wurde, richtig war, dann konnte es sich unmöglich um ein „progressives“ und „humanitäres“ Phänomen handeln, und unter den vielen Vorgängen, die präzedenzlos waren, hat sich mir besonders eine Episode eingeprägt, deren innere Wahrheit nicht davon abhängt, ob sie zutreffend oder unzutreffend war: Ein junger Angehöriger der Tscheka hatte sich in die Frau eines alten Geheimrats verliebt und sprach davon, sie heiraten zu wollen. Bekannte der Autorin sagten ihm voll Erschrecken: „Aber sie ist doch mit dem Geheimrat X verheiratet!“ Der junge Tschekist antwortete: „Das ist doch keine Schwierigkeit; dann erschießen wir ihn eben.“ Diese Geringschätzung des individuellen Lebens, diese fanatische Überzeugung von der absoluten Richtigkeit der eigenen Ideologie schienen mir etwas so Außerordentliches zu sein, dass ich beschloss, noch andere Berichte zu lesen. Und eines Tages fiel mir im Warteraum unseres jüdischen Zahnarztes Dr. Markus in Hattingen eine Illustrierte in die Hände, die lange Faksimiles aus einer sowjetischen „Gottlosen“-Zeitung enthielt. Eine derart schamlose Herabsetzung von Mönchen und Nonnen, deren Wohltätigkeit und sittliches Verhalten für mich außer allem Zweifel standen, rief in mir einen solchen Zorn hervor, dass ich mich sozusagen spontan hinsetzte und in meiner noch sehr kindlichen Sprache eine „Abhandlung“ über den russischen Bolschewismus und dessen Übergreifen nach Deutschland schrieb. Diese Abhandlung war ganz predigtartig an andere Kinder gerichtet und hatte keinerlei theoretischen Gehalt. Und dennoch sehe ich in ihr noch heute einen Anfang meines Lebenswerks und distanziere mich nur insofern von ihr, wie ein Erwachsener sich von den Überzeugungen und Tätigkeiten seiner Kindheit distanzieren muss: Das schlechterdings Außerordentliche und Vorganglose war zwar nicht richtig erkannt, aber richtig erahnt.
Ich muss jedoch jenen Sozialanalytikern und Zukunftsexperten noch einmal das Wort geben, denn nicht nur „Paderborn“ lässt sich mit ihren Einsichten nicht vereinbaren, sondern auch „Erlinghausen“, der Herkunftsort meines Vaters, ein Dorf von katholischen Kleinbauern in der Nähe von Marsberg, der altberühmten Eresburg, ganz am Rande des Sauerlandes und an der Grenze des protestantischen Waldeck gelegen. Mein Vater war eins der jüngsten von den elf Kindern der Familie eines Hofes, der in meiner Kindheit im Besitz meines Onkels Anton war und mit seinen achtzig Morgen immerhin als ansehnliches Anwesen galt. Die übrigen Kinder hatten meist in andere Höfe des kleinen Dorfes eingeheiratet oder hatten sich anderswo verdingt, und einer war sogar nach Amerika ausgewandert, war jedoch als Gescheiterter wieder heimgekehrt. Nur mein Vater konnte einen intellektuellen Beruf wählen und wurde auf einer „Präparandie“ zum Lehrer ausgebildet. Er jedoch und noch mehr sein Sohn Heinz waren im Herzen „richtige Bauern“ und fuhren nach Beginn der „großen Ferien“ so rasch wie möglich nach Erlinghausen, um den Verwandten tatkräftig bei der Ernte zu helfen, vornehmlich einem der jüngsten Söhne, unserem Onkel Hermann, welcher einen winzigen Hof bewirtschaftete, den er nur halten konnte, weil er gleichzeitig eine kleine Gastwirtschaft betrieb. Ich erinnere mich der oft noch von Kühen gezogenen Erntewagen gut, aber nicht minder des tiefen Wohlbehagens, das alle Mitglieder der meist recht kleinen Erntegesellschaften erfasste, wenn man, auf den oft noch von Hand gebundenen Garben sitzend, „nach getaner Arbeit“ das Mittagbrot in Empfang nahm. Konnte es noch Ausgeprägteres an „Zurückgebliebenheit“ geben? Von...