Der Riss
Der Kellner bringt das Schnitzel, das hier kotlet schabowy heißt, dazu kleine Kartoffeln und Krautsalat, ein kleines Bier, es ist früher Abend, kurz hinter Posen — oder Poznań? Die Sonne senkt sich hinter den weiten Feldern, vom Winter ganz kahl, noch drei Stunden etwa, dann erreicht der Zug Danzig. Oder Gdańsk.
Es ist März 2018, und so geht sie los, meine Reise ins Land der Widersprüche.
In den vergangenen Jahrzehnten habe ich nicht viel von Polen mitbekommen. 1988 war ich mit meinen Eltern nach Deutschland ausgereist. Plötzlich lebte ich in Westberlin, meine Freunde in Polen sah ich nicht mehr. Ich weiß nicht, wie sie die Wende erlebt haben und wie es ihnen in den Jahren danach erging. Polen wurde für mich zu einem Land der Sommerferien und Weihnachtsfeste, der viel zu kurzen Besuche bei meiner Oma. Ein Land, dem ich mich immer irgendwie verbunden fühlte und das mir gleichzeitig fremd war. Ich hatte keine Ahnung, wie es den Menschen dort ging. In welche Richtung sich das Land bewegte.
Auch von dem Riss, von dem alle sprechen, weiß ich nicht viel. Schon 1989 sei er ganz leicht zu spüren gewesen und mit den Jahren immer tiefer geworden. Und als die Polen im Herbst 2015 eine nationalkonservative Regierung wählten, habe der Riss sich zum Graben erweitert. Auf der einen Seite lebten die Polen, die den Wandel von einem unfreien, kommunistisch regierten Land in eine moderne, liberale Republik erfolgreich mitgemacht hatten, die sich für Europa und andere Kulturen begeisterten, die in den Urlaub nach Ägypten oder Spanien flogen und dafür zu Hause Rad statt Auto fuhren, die Sushi und vegane Burger aßen und ihre Kinder beim Capoeira beklatschten.
Auf der anderen Seite des Grabens lebten die Polen, die all das vielleicht auch wollten. Die sich ebenfalls nach Offenheit und Freiheit gesehnt hatten, bei denen aber auf dem Weg dahin irgendwas schiefgegangen war. Sie wurden arm und arbeitslos, sie konnten ihre Kredite nicht abbezahlen, sie lebten auf dem Land und kamen dort nicht weg. Sie schauten Fernsehserien, die in der Großstadt spielten. Sie sahen ihre Landsleute, die so anders waren als sie selbst. Sie, die Abgehängten, hatten das Gefühl, nicht zu genügen.
Die Menschen schämen sich dafür bis heute, doch zur Scham kam die Wut darüber, nicht gesehen zu werden. Die PiS sah sie. Und sie gab ihnen das Gefühl, gehört zu werden. Prawo i Sprawiedliwość heißt die Regierungspartei, Recht und Gerechtigkeit. In Polen würde es wieder gerecht zugehen, versprach sie den Menschen, das Land würde zu sich selbst finden, zu Stolz, Mut und Eigensinn. Sie versprach auch Kindergeld. Und die Menschen wählten sie. Unterm Strich zwar nur jeder fünfte Pole, denn die Wahlbeteiligung lag bei 51 Prozent. Aber nach der Wahl musste das ganze Land mit dem Ergebnis leben.
Ich schaue aus dem Fenster. Draußen ziehen Kühe vorbei, Bahnhöfe, an denen kein Zug mehr hält, riesige Supermärkte an Ortseingängen. Wie geht es den Menschen in Polen? Wie leben sie, und wie gespalten sind sie wirklich? Streiten sie sich auf der Straße darüber, ob das Verfassungsgericht nun machtlos sei oder nicht? Oder schweigen sie lieber? Haben sie über der Frage, wer welche Partei wählt, Freundschaften aufgegeben oder Ehen? Ziehen sie sich in ihre eigenen vier Wände zurück, oder gehen sie raus auf die Straße?
Das werde ich versuchen herauszufinden. Ich will sehen, wie es um die Opposition bestellt ist. Wie es den Bauern im ärmeren Osten geht. Wie es ist, wenn die Rechten durch Warschau marschieren. Wie selbstbestimmt die polnischen Frauen leben und ob es eigentlich noch Juden gibt in Polen. Ich will verstehen, ob der Riss wirklich so klar verläuft zwischen Stadt und Land, Reich und Arm. Woran es liegt, dass eine Gesellschaft plötzlich in zwei verschiedene Richtungen läuft. Und: Werde ich es schaffen, meine Freundin aus Kindertagen zu treffen, die eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes geworden ist?
Sie und ich verbrachten unsere ersten Kinderjahre im selben Plattenbau in Wejherowo, einer Kleinstadt bei Danzig, die ich nicht grauer und hässlicher in Erinnerung haben könnte. Die Schlangen vor den Geschäften, die Westpakete, die Teppichstange draußen auf dem Hof, der gleichzeitig unser Spielplatz war. Es sind schöne Erinnerungen.
Nun, dreißig Jahre später, bin ich wieder da. Und werde gemeinsam mit meiner Tochter dreißig Kilometer von meinem Geburtsort entfernt wohnen: in Danzig. Zwei Koffer, zwei Rucksäcke, ein Jahr, viele Reisen. Das ist der Plan. Mit einem festen Kindergarten, einer Dauerkarte für Bus und Tram, einem Bibliotheksausweis. Mit einem polnischen Konto und Ärger mit den Nachbarn. Mit Übernachtungsbesuchen und frischem Fisch am Strand.
Es ist nicht so, dass ich in den vergangenen dreißig Jahren gar nichts von Polen mitbekommen habe. Ich verfolgte, wie das Land der EU und der Nato beitrat. Ich sah die Filialen von KFC und McDonald’s aus dem Boden sprießen. Ich hörte, wie prächtig sich die Wirtschaft entwickelte, wie das Land aufholte. Polen war, von außen betrachtet, eine europäische Erfolgsgeschichte, der Primus unter den neuen Mitgliedsstaaten der EU. Die Polen waren die Ersten, die 1989 den Kommunismus zu Fall brachten. Und während der Finanzkrise 2008 die Einzigen, die mit Wirtschaftswachstum glänzten, als andere Länder am Abgrund standen. Polen ging es gut.
Nun sind die Polen auch die Ersten in Europa, in deren Land eine rechte Partei allein regiert.
Vielleicht, denke ich, hat der Westen den Riss im Osten lange einfach nicht sehen wollen. So wie er grundsätzlich sehr ungern Richtung Osten schaut. Der Westen habe Angst, nach Osten zu schauen, weil er nicht wisse, ob er da seine Vergangenheit sehe oder seine Zukunft, sagte mal ein Bekannter zu mir. Das verunsichere ihn, also lasse er es lieber bleiben. Ich finde, da ist etwas Wahres dran. Es war bequemer, nicht so genau hinzusehen und die polnische Erfolgsgeschichte zu erzählen, ohne Widersprüche, ohne Probleme. Nun geht das nicht mehr.
Wenn es stimmt, dass die Gegenwart — in Europa, in Amerika — geprägt ist vom Konflikt zwischen Globalisierung und Rückzug ins Nationale, zwischen den Befürwortern und den Gegnern offener Grenzen, zwischen demokratischer und autoritärer Herrschaft, dann ist Polen so etwas wie die Avantgarde. Populistische Tendenzen gibt es überall in Europa, doch nirgendwo sonst hat es eine rechtskonservative Partei zur absoluten Mehrheit gebracht. Und einen Kurswechsel vorgenommen, der einer 180-Grad-Wendung gleicht. Kann Polen auch das Land werden, in dem ein solcher Kurswechsel korrigiert wird?
Bisher sieht es danach aus, als würde die dobra zmiana, der gute Wechsel, wie die PiS ihre Politik nennt, für die Partei funktionieren. Sie liegt seit Beginn ihrer Amtszeit in den Umfragen vorn. In den vergangenen Jahren hat sie willfährige Richter ernannt, sie hat reihenweise Journalisten und Journalistinnen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgetauscht und die Lehrpläne der Schulen ändern lassen — die Kinder sollen wieder mehr über nationale Helden lernen.
In Nachtsitzungen peitschte die PiS neue Gesetze durch. Wie die Fidesz-Partei in Ungarn bekennt sich auch die PiS formal zur Demokratie. Das Bekenntnis verschafft der Partei den Raum, nach und nach den Staat umzubauen, die Pressefreiheit, die Informationsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit einzuschränken. Ihr Ziel ist es, systematisch die Elite des Landes zu ersetzen, unter dem Vorwand, die alte bestünde vor allem aus Postkommunisten. Sie will die Justiz schwächen zugunsten der Exekutive.
Für die PiS und ihren Chef Jarosław Kaczyński wird der Staat nicht durch die Gesamtheit aller Bürger legitimiert. Sondern durch eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Werte und eine Geschichte teilen. In ihrer Logik sind diejenigen, die sich gegen die PiS stellen, nicht Teil der Nation. Sie sind »Polen der schlechteren Sorte« — eins der berühmten Zitate von Kaczyński.
Das klingt, als befände sich das Land im Bürgerkrieg, und tatsächlich treibt die PiS die Spaltung der Bevölkerung bewusst voran. Gerade in den ländlichen Gebieten im Osten, von Ökonomen oft Polen B genannt, hat sich ein regelrechter Hass auf die vermeintlich arroganten, elitären Großstädter aufgestaut. Diese wiederum, Polen A, blicken fast mit Abscheu auf »die Abgehängten«.
Nicht nur Polen, auch Länder wie Frankreich, Ungarn, Italien und die USA haben uns mittlerweile daran erinnert, dass Demokratie keine Impfung ist, die wir einmal verabreicht bekommen, um fortan für alle Zeiten gegen autoritäre Bestrebungen immun zu sein. Wir müssen um sie kämpfen. Nur welche politische...