1Werde ich in der Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft gelebt?
1.1 Wie viele Anteile der Vergangenheit und der Zukunft enthält die Gegenwart?
Es ist selten möglich, das Jetzt ohne Erinnerungen an vergangene Erfahrungen zu erleben. Vergangene Erlebnisse sind notwendig, um aus ihnen zu lernen. Wenn sie überwiegend gut verlaufen sind, geben sie uns auch ein Gefühl der Sicherheit.
Es gibt sichtbare Spuren, die vor der Gegenwart entstanden sind. Das sind die Auswirkungen vergangener Ereignisse und auch die natürliche Entwicklung des Körpers. Narben zeugen von vergangenen Verletzungen, die Fitness vom körperlichen Training, das Gewicht und die Figur von der Ernährung, ebenso die Frisur von der Kunst des Friseurs und den eigenen Wünschen an das Äußere. Das sind Beispiele für die sichtbaren Bestandteile der persönlichen Vergangenheit. Sich der Veränderungen in der Zeit bewusst zu werden bedeutet, eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen.
In der Gegenwart sind wir uns vergangener Erfahrungen bewusst. Indem wir daran denken, wird Vergangenes zur erlebten Gegenwart und bestimmt unser Fühlen, Denken und Handeln mit:
•Freudige Erinnerungen bewirken eine freudige Grundstimmung.
•Unangenehme Erfahrungen transportieren dagegen Ängste, Wut oder andere bedrückende und dadurch belastende Gefühle.
•Nach traumatisierenden Erlebnissen bleiben oft über einige Zeit Ängste bestehen, die körperliche Anspannungen nach sich ziehen. Sie lenken die Aufmerksamkeit – ohne dass wir das ausreichend kontrollieren könnten – auf angstauslösende Inhalte. Häufig sind wir uns dieses Zusammenhanges nicht bewusst.
Unsere Erlebnisse bestimmen unsere Gefühle und Gedanken also nicht nur, wenn wir bewusst daran denken. Sie zeigen sich vielmehr in einer Grundstimmung, von der wir oft gar nicht bewusst sagen können, woher sie eigentlich kommt, oder gerne auch in Träumen.
Wir können den Inhalt unseres Denkens aktiv mitbestimmen. Indem wir das Bewusstsein mit Gegenwärtigem füllen, nehmen wir den unangenehmen Erinnerungen den Platz in unserer Aufmerksamkeit weg.
Die wirkungsvollste Art, sich der Gegenwart anzunähern, besteht darin, sie mit den eigenen Sinnen wahrzunehmen. Je mehr die Aufmerksamkeit mit gegenwärtigen Sinneseindrücken gefüllt wird, desto weniger Platz ist für Vergangenes und angenommenes Zukünftiges und die daraus resultierenden Gefühle und Gedanken. Meditationen, Achtsamkeitsübungen und auch das Autogene Training sind Methoden, die sehr wirkungsvoll die Wahrnehmung auf die Gegenwart richten können. Sie tragen deutlich zu Ruhe, zu psychischer und körperlicher Stabilität und einer insgesamt bewussteren Wahrnehmung bei.
In einem weiteren Schritt kann man sich gezielt an schöne Erfahrungen erinnern, kann sich sogar darin schulen, immer wieder besonders an die freudigen Bilder und Eindrücke zu denken, die sich in uns befinden – beginnend in den Augenblicken, die unmittelbar vor der Gegenwart liegen, bis hin zu frühen Erinnerungen aus der Kindheit. Auf diese Weise haben wir selbst Einfluss darauf, welche Anteile in unserer gegenwärtigen Aufmerksamkeit auf uns einwirken und unsere Lebensqualität mitbestimmen.
Es gibt Menschen, die sich abends, wenn sie im Bett liegen, den Tag noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Dabei kann man sich bewusst dafür entscheiden, den angenehmen Ereignissen Raum zu geben und die Gefühle zu genießen, die bei der Erinnerung daran erneut entstehen. Vor dem morgendlichen Aufstehen kann man sich für den Tag motivieren, wenn man es sich zur Gewohnheit macht, an die erfreulichen Abschnitte des Tages zu denken, die sicher eintreten werden – beginnend mit einem Frühstück, das man idealerweise so gestaltet, dass es Entspannung und Freude bringt.
1.2 Vergangene Erlebnisse werden zur Gegenwart durch Erinnern
Wir leben in der Gegenwart. Alles Vergangene ist nicht mehr Bestandteil der Gegenwart. Wenn wir also unter Vergangenem leiden, dann deshalb, weil es durch Erinnern zur Gegenwart wird.
Vergangene Ereignisse sind folglich nur dann ein Problem, wenn sie entweder noch immer tatsächlich fortdauern oder durch Erinnern in die Gegenwart gelassen werden. Der letztgenannte Fall ist der häufigere. Den ersten gibt es eigentlich gar nicht. Denn etwas, das gewesen ist, kann nicht wirklich fortdauern, es kann sich nur wiederholen.
Körperliche Schmerzen an immer der gleichen Stelle werden zwar als andauernd wahrgenommen, tatsächlich ist der heutige Schmerz jedoch ein anderer als der gestrige. Es gilt also, immer wieder neu mit dem heutigen Schmerz zurechtzukommen.
Der Tod eines Menschen ist vergangen. Die Gefühle des Verlustes, der Einsamkeit, der Trauer kommen längere Zeit neu in die Gegenwart. Auch diese Gefühle unterliegen der Veränderung in der Zeit. Die Veränderung wird aufgehalten, indem man sich an den traurigen Verlust erinnert. Auch hier helfen die Wahrnehmung der Gegenwart – auch des Schmerzes – und das bewusste Wahrnehmen von Aktivitäten im Alltag, die der Trauer den Raum nehmen. Anfangs nur für Momente, aber über die Zeit werden diese Momente häufiger. Die Vergangenheit wird immer seltener Teil der Gegenwart.
Hier wird schon deutlich, dass wir (meist unbewusst) aktiv an der wahrgenommenen Konstanz mitwirken. Daraus ergibt sich auch, dass unsere Mitwirkung aktiv veränderbar ist. Sowohl das bewusste Denken als auch die unbewussten Prozesse können konstruktiv verändert werden.
Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass wir uns nach einer bewältigten Krise froh fühlen und mit Hoffnung in die Zukunft schauen. Der Körper ist vielleicht noch müde, aber entspannt.
Sobald wir uns an den Kampf in der Krise erinnern und an die Anstrengungen dabei, verspannen wir uns. Die Freude, die eben noch in der Gegenwart erlebt wurde, wird durch die Erinnerung getrübt. Unmittelbar vor dem Erinnern ging es der Psyche und dem Körper noch gut. Und sobald wir uns wieder in die Gegenwart zurückorientieren, geht es uns auch wieder besser.
Der Blick in die Zukunft ist unter dem Eindruck der bewältigten Krise hoffnungsvoll und offen. Sobald wir uns aber vorstellen, dass eine ähnliche Krise in der Zukunft erneut auf uns warten wird, trübt sich die Stimmung wieder ein, der Körper reagiert mit Anspannung.
Wer kennt das nicht: Man verliert einen Menschen, weil er gestorben, irgendwo anders hingezogen ist oder uns als Partner oder Freund verlassen hat. Man meint, niemals darüber hinwegzukommen. Der Verlust ist ständig da, auch nachts, und körperlich spürbar. Ablenkung will man nicht, es ist schlicht nicht vorstellbar, dass etwas anderes in der Aufmerksamkeit sein könnte als der Verlust.
Irgendwann wird uns dann jedoch bewusst, dass wir gerade an etwas anderes gedacht haben. Und wir denken, dass das eigentlich nicht sein kann. Es war vermutlich ein Irrtum.
Dann aber kommt es immer mal wieder vor. Manche Menschen wehren sich an diesem Punkt gegen das Vergessen, sie wollen das Verlorene nicht auch noch aus ihrer Aufmerksamkeit verlieren, fühlen sich dann vielleicht sogar schuldig. Diese Strategie – wenn man es so nennen möchte – ist eine sehr gute Voraussetzung, um das Leid zu bewahren, es zu nähren und zu etwas zu züchten, das irgendwie sinnvoll sein mag – im Grunde aber nur unnötig schmerzhaft ist. Sie hängen überall Bilder des Verlorenen auf, verändern nichts, was mit ihm in Verbindung steht – und verhindern damit jede konstruktive Entwicklung. Die Vergangenheit wird auf jede erdenkliche Weise daran gehindert, ihren Platz im Vergessen zu bekommen.
Die meisten Erfahrungen vergessen wir nahezu sofort und sehr schnell. Das ist in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. Alles zu erinnern würde unsere Aufmerksamkeit überlasten. Vermutlich würde das eine oder andere uns in unserer momentanen Art, unser Leben zu gestalten, stören.
Das stärkste Argument für das Vergessen findet sich in der Wirkung von Erfahrungen auf unsere Gefühle. Traumatisierende Erfahrungen schaden uns psychisch und oft auch körperlich. Sie fördern Depressionen, engen uns ein, indem sie uns ängstigen und damit von Handlungen abhalten, die die Angst verstärken könnten – auch wenn die Handlung an sich völlig ungefährlich ist.
Jemand, der an einem bestimmten Ort, beispielsweise seinem bisherigen Arbeitsplatz, etwas für ihn Bedrohliches erlebt hat, kann starke körperliche Erregung erfahren, wenn er nur an diesen Ort denkt. Das kann sich zu dem Eindruck verdichten, er könne diesen Ort nicht mehr betreten. Ein solches Denken kann, wenn er in die Nähe des Arbeitsplatzes kommt, derart starke körperliche Reaktionen hervorrufen, dass auch andere Personen dies bemerken. Falls er nicht lernt, seine Angst zu bewältigen, wird sie sich möglicherweise...