Kapitel 1:
Hoffnung auf Umbruch
Der Winter 2011/2012
Die Angst vor Russland sitzt tief in der deutschen Gesellschaft. Eigentlich ist es die vor der Sowjetunion, dem Land, aus dem die Väter nicht zurückgekehrt sind, die Brüder, die Freunde. Die Generationen, die den Krieg gefochten haben, wurden verheizt in der Kälte der Sowjetunion. Und wenn sie wiederkamen, und es kamen nicht viele zurück, waren sie gebrochen, kaputt oft, lange nicht mehr fähig zu lachen. Immer, wenn ich an diese Männer denke, erinnere ich mich an Onkel Kuno. Den Schwager meiner Großmutter. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen. Er war bei uns zu Besuch, warum, weiß ich nicht. Er hat das Bein über die Armlehne des Sessels gehängt, das durfte ich nicht.
Es war die Zeit, als alte Männer auf dem Roten Platz standen und Raketen an ihnen vorbeifuhren, Raketen, die uns bedrohten, damals in Westdeutschland, in Hamburg. Raketen, gegen die hierzulande Pershing-II-Raketen stationiert wurden. Ich war dagegen, wollte unbedingt nach Bonn fahren zur großen Friedensdemonstration 1983 – und durfte nicht. Breschnew, Reagan, das SDI-Programm, die Verlegung des Krieges ins Weltall – klar machte uns das Angst. Aber es blieb unvorstellbar. Wird schon gut gehen. Wir sind ja für den Frieden. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Lösungen konnten so einfach sein. Ich war auf einer linken Schule, das fand ich toll. »Mein Gott, der Russe steht ja schon vor Lauenburg«, sang unser Schulchor damals, »und er kommt bestimmt noch durch.« Immerhin stand er, der Russe. Gesungen haben sie es zur Melodie von »Joshua Fit the Battle of Jericho«. Den Text hatte ein Musiklehrer geschrieben. Der hatte strohig abstehende Haare, trug Jeans und Turnschuhe und ließ sich von den älteren Schülern duzen. Er kam mir damals unglaublich progressiv vor.
Wir wuchsen mit einer diffusen Angst vorm Russen auf, der damals die Sowjetunion war – real und abstrakt zugleich. Russland und die Sowjetunion waren damals für uns das Gleiche. Moskau war das Zentrum des Bösen hinter einem Vorhang, der eisern genannt wurde. Den kannte ich. Das waren der Grenzzaun bei Lübeck und die Mauer in Berlin. Von dort aus wurden Gesellschaften unterdrückt, Diktatoren gestützt, Reformer gestürzt, Dissidenten verhaftet, verfolgt und in Psychiatrien gebrochen. Mein Vater las den »Archipel Gulag« von Alexander Solschenizyn, und auch mein Klassenlehrer in der sechsten Klasse hat uns von dem Buch erzählt.
Onkel Kuno war in Russland, das war das Erste, was mir über ihn gesagt wurde. Meine Mutter war todunglücklich. Sie hatte Kohlrouladen gemacht. Kuno aß keine Kohlrouladen. Überhaupt keinen Kohl. Wegen Russland, wegen der Kriegsgefangenschaft. »Da gab es immer Kohl. Kapusta.« Vielleicht war Kapusta das erste Wort, das ich auf Russisch sagen konnte.
Kuno war Dorfschullehrer in Mulak gewesen, einem Ort bei Rastenburg in Ostpreußen. Unerreichbare verklärte Heimat. Kuno war der Mann von Tante Grete, der Schwester meiner Großmutter. Sechs Kinder hatten sie, Grete trug das Mutterkreuz, war aktive Nationalsozialistin. Glaubte an den Endsieg. Glaubte noch, als das Ende nah und klar war, dass es nicht siegreich wird. Sie blieb, als alle gingen. Wollte kämpfen. Mit der Waffe in der Hand »für Führer, Volk und Vaterland«. Ihre Kinder behielt sie bei sich, als die Rote Armee kam. Grete ward nie mehr gesehen, wurde vom Russen verschleppt, hieß es, ihre Kinder landeten in einem Waisenhaus, kamen später über das Rote Kreuz zur Familie nach Westdeutschland. Gretes Tod, wie auch die verlorene Heimat, waren Themen beim familiären Kaffeetrinken. Nach Russland ging man nicht, da war man froh, wenn man herausgekommen war.
Als meine Frau und ich nach Moskau zogen, war die Zeit, in der Menschen in Europa Angst vor Russland haben mussten, eigentlich vorbei. Die Sowjetunion war an der eigenen Großmachtlüge zugrunde gegangen. Männerfreundschaften, wie die zwischen Kohl und Jelzin sowie Putin und Schröder, festigten den Frieden. Es gibt den Nato-Russland-Rat, Russland ist 2011 noch Mitglied der G8, des Clubs der reichsten demokratischen Wirtschaftsnationen. Die deutsche Wirtschaft macht gute Geschäfte, und auch kulturell wird getauscht, was man austauschen kann: Schüler und Studenten, Bilder, Filme, Künstler und so weiter. Trotzdem, nach Moskau geht man immer noch nicht. Aus Sicherheitsgründen. Die Skepsis schwingt bei den Abschiedsfeiern mit, bei jedem Gespräch, das wir führen, gerade mit den Älteren. »Moskau ist schneller zu erreichen als Madrid«, beruhige ich. »Gut zwei Stunden Flug. Wir werden eine schöne Wohnung haben. Wir besorgen euch ein Visum, und dann kommt ihr gucken.« Wir verschenken kitschige Bücher über Moskau mit all dem Gold und den Türmchen und dem schönen Schnee. Das soll beruhigen. Wir sagen: »Schaut, die Sowjetunion ist seit 20 Jahren Geschichte. Die 90er Jahre mit ihren Mafiakriegen sind auch vorbei.« Doch die Nachrichten zeigen im Winter 2011/2012 all diese Menschen auf der Straße. Seit der gefälschten Parlamentswahl im Dezember demonstrieren immer wieder Zigtausende. Das beunruhigt Menschen, die an die Ruhe in der EU gewöhnt sind. »Das ist ein gutes Zeichen«, sage ich, »die Menschen sind auf der Straße und demonstrieren gegen Wahlfälschungen. Sie wollen Demokratie.« Man kann argumentieren, wie man möchte: Moskau ist im deutschen Bewusstsein mehr oder weniger unterschwellig negativ belegt. Russland ist vielen Deutschen noch immer fremd, zumindest viel fremder als Frankreich oder Großbritannien. Gleichzeitig ist Russland die verkitschte Kulisse von ARD-Reisedokumentationen.
»Russland ist nicht gefährlich, Russland ist für Journalisten spannend«, erzähle ich, seit ich 1992 das erste Mal dort gewesen bin. Die Menschen sind nett, nein, es gibt keine Probleme, wenn du Deutscher bist, eher so eine Verbundenheit. Die Leute trinken viel und gern auf die Aussöhnung, darauf, dass Menschen nicht mehr aufeinander schießen, dass sie das sowieso nicht wollen, die einfachen Leute. Nein, ich hatte nie Schwierigkeiten wegen meiner deutschen Herkunft, nicht mal mit Überlebenden des Holocaust. Viele Russen unterscheiden zwischen Deutschen und Faschisten.
Wir sind erwartungsfroh, nahezu euphorisch, als wir für den Umzug nach Moskau packen. Wir sind Reporter, die am Tiefpunkt des Landes angefangen haben, aus Russland zu berichten, die selbst nach Essen Schlange standen, die nach dem Ende der Sowjetunion Armut gesehen haben und mit den Menschen über ihre Angst vor der ungewissen Zukunft gesprochen haben, die durchs Land gereist sind und Reportagen über stillstehende Fabriken gemacht haben. Vor McDonald’s in Moskau standen lange Schlangen. McDonald’s und Coca-Cola in Moskau klang damals noch paradox. Pepsi gab es allerdings bereits in den letzten Jahren der Sowjetunion. Recherchen in Moskau waren in den 90er Jahren immer auch so geplant, dass man an Schnellrestaurants vorbeikam, in denen es berechenbares Essen gab und vor allem die Gelegenheit, die Hände zu waschen und auf die Toilette zu gehen, bei McDonald’s oder in großen Hotels.
Abflug an einem Montag im Januar 2012. Unsere Möbel befinden sich in einem Container irgendwo auf dem Weg zur weißrussischen Grenze. Dort werden sie etwa zehn Tage stehen, sagt die Spedition. Tauwetter, Moskau im Matsch. Gedrängel, Dreck, Stau. Ich habe schlechte Schuhe, stelle ich fest. Tauwetter war nie gut für Moskau, denke ich. Die Abflüsse funktionieren nicht, erfahre ich, und in der Sowjetzeit wurden Straßenbaustudenten aus dem ganzen Ostblock nach Moskau gebracht, um zu lernen, wie man es nicht macht. Bald nach unserer Ankunft schneit es mehrere Tage. Auf der breiten Einfallstraße, an der wir wohnen, patrouillieren die Räummaschinen zu sechst versetzt hintereinander mehrfach täglich. Lkws bringen die Schneemassen zu Schneeschmelzmaschinen. Grau-schwarze Schneeberge liegen neben den Straßen der Hauptstadt. Nach dem vielen Schnee wird es hell. Und kalt. Die Stadt ist weiß, der Himmel blau. Auf den Dächern Kolonnen von Arbeitern, die aus Angst vor Dachlawinen den Schnee hinunterschippen. Auch sie sind meist Gastarbeiter aus Zentralasien, Tadschiken, Usbeken, Kirgisen.
Das Land ist im Wahlkampf. Am 4. März sind Präsidentenwahlen. Wer weiß, vielleicht wandelt sich Putin in einer dritten Amtszeit ja doch noch zu einem Liberalen. Die Demonstranten glauben nicht daran. Die Menschen sind sauer, zu durchschaubar ist der Platztausch von Putin zu Medwedew 2008 und nun wieder zurück.
Es ist Samstag, der 4. Februar. Minus 25 Grad. Die Menge staut sich. Metalldetektoren am Eingang zur Demonstration. Jeder muss da durch. Die Strecke bis zum Bolotnaja-Platz, auf dem die Abschlusskundgebung geplant ist, ist mit Gittern abgesperrt. Ich gehe nicht in einen Demokessel, denke ich. Die Erfahrung bei Demonstrationsberichterstattung in Deutschland hat mich gelehrt, darauf zu achten, dass ich schnell wegkommen kann, sollte es Ausschreitungen geben. Die Absperrungen seien üblich, sagen russische Freunde, »und die Metalldetektoren sind gut, damit man keine Waffen mit hineinbringen kann«. Skeptisch gehe ich mit.
Ich freue mich über meine neuen Schuhe, die ich in Moskau gekauft habe. In dieser Mischung aus Wasser und Kälte müssen sie gefüttert, knöchelhoch und wasserdicht sein, nichts ist mieser als kalte Füße. Als Reporter steht man bei Demonstrationen stundenlang draußen, und das ist es, was wir in der ersten Zeit machen: Demo-Berichterstattung. »Putin ist ein Dieb«, skandieren angeblich 120.000 Menschen, und »Russland ohne Putin«. Die Demonstranten wärmen sich an der Vorstellung, bald in einem normalen Land zu leben, ohne die »Gauner und Diebe«, wie Alexej Nawalnyj, Antikorruptionsblogger...