Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: Zunehmend bevölkern in großer Zahl russische ProtagonistInnen die aktuellen Romanwelten; zugleich melden sich einige aus Russland stammende AutorInnen mit überaus erfolgreichen Titeln zu Wort. Die vorliegende Ausgabe widmet sich diesem Phänomen. Doch bevor der Blick auf die Gegenwart gerichtet wird, eröffnet Carola Pohlmann mit ihrem Beitrag zu Sachbüchern über Russland einen breiten Horizont, der unter Bezugnahme auf historische Paradigmen und Diskurse das weite Feld der Russland-Bilder in geschichtlicher Perspektive aufruft. Pohlmanns sachkundig gespannter Bogen erlaubt, einen konzisen Blick auf aktuelle Russlandbilder zu werfen, die an deutschsprachiger Literatur ablesbar werden. Irene Boose beschäftigt sich mit diesem Trend und zeigt an einer Reihe von aktuellen und außergewöhnlich erfolgreichen Titeln wie Wladimir Kaminers Russendisco, Alina Bronskys Scherbenpark oder Olga Grasnowas Der Russe ist einer der die Birken liebt auf den veränderten nomadischen Umgang mit Heimat in den Romanen dieser Auswanderer der fünften Welle. – Wolfgang Herrndorfs Coming-of-Age-Roman Tschick weist eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte auf: Neben dem weltweiten Verkauf der Übersetzungslizenzen avancierte die Theaterfassung zum meistgespielten Stück auf Deutschlands Bühnen. Im Mittelpunkt steht der titelgebende Protagonist Tschick, ein aus Russland zugewanderter Vierzehnjähriger, der fast schon prototypisch alle Insignien eines Außenseiters verkörpert. Sein deviant gezeichnetes Bild wirft die Frage auf, inwieweit hier traditionell negativ besetzte Russlandbilder aufgerufen werden. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit ebendieser Fragestellung: Heidi Rösch setzt sich bei ihrem Beitrag nicht allein mit Stereotypisierungen des Anderen auseinander, sondern bezieht auch vergleichend Theateradaptionen an deutschen Bühnen und die hier gewählten Figuren(be)setzungen mit ein. Boris Hoge-Benteler vertritt eine andere Bewertung der Herrndorf’schen Russlandbezugnahmen. Er zieht eine metakonstruktivistische Lesart des Romans heran und weist ihn als mögliches Konstrukt eines unzuverlässigen Erzählers aus.
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