Einleitung
Vorspiel
»Die Ethik ist eine Optik.«
Emmanuel Levinas
»›Angst vor Gesichtsverlust‹ (der bösartigste aller Dämonen).«
Roland Barthes
»›Es fragt sich, ob das nicht Gott war‹, meinte Geir. ›Das Gefühl,
gesehen zu werden, von dem auf die Knie gezwungen zu werden,
was einen sieht. Wir haben nur einen anderen Namen dafür.
Das Über-Ich oder die Scham.‹«
Karl Ove Knausgård
Scham und Ehre
Die vorliegende Ethik betritt Neuland, indem sie das Phänomen Scham ins Zentrum ihrer Ausführungen rückt. Meine Schamethik unterscheidet sich von bisherigen ethischen Erörterungen, die mit dem Schambegriff arbeiten, markant dadurch, nicht zum x-ten Mal ein Plädoyer für Tugendhaftigkeit im Sinne der Schamhaftigkeit zu halten.1 Solche Plädoyers verkürzen und entwerten das Phänomen der Scham. Dagegen pointiere ich die zentrale Bedeutung der Schamsituation für die Konstitution der ethischen Person und zeige, wie zahlreiche ethische Konflikte in unserer Gesellschaft durch Scham und vorweggenommene Scham gesteuert oder verursacht werden. Der konzeptuelle erste Teil meiner Schamethik bietet entsprechend eine theoretische Erörterung des Phänomens der Scham, Teil zwei wendet sich den Konflikten in unterschiedlichen ethischen Bereichsfeldern zu, identifiziert Scham als eine der oft übersehenen Ursachen und erwägt Strategien, mit der Scham klug umzugehen, um künftig Konflikte zu vermeiden.
Der erste Essay verortet die Schamethik im bisher nur vage kartographierten wissenschaftlichen Diskurs zum emotional turn. Mein Held ist der Philosoph Hermann Schmitz, der bereits einen emotional turn vollzog, als die Geisteswissenschaften noch hüftsteif in eine andere Richtung marschierten. Scham ergreift den Überwältigten mit einer normativen Autorität, die zugleich die Verletzung der sozialen Synthesis hautnah spürbar macht. Die Philosophie von Emmanuel Levinas dient mir dazu, die Schamsituation als eine primordiale Schlüsselsituation zu deuten, die für die Konstitution der ethischen Person schlechterdings notwendig ist. Nach Levinas ist die Ethik die erste Philosophie und Schäm dich! – so interpretiere ich ihn – der erste ethische Imperativ, dem der Imperativ Töte mich nicht! beigeordnet ist. Darin kommen beide Philosophen überein: Menschen sind Antwortwesen.2 Präziser: Menschen sind schamgeboren.
Obwohl die Schamerfahrung unerlässlich ist für die Konstitution der ethischen Person, bringt sie eine Gefahr mit sich: Die Scham drängt den Beschämten in eine extrem passive Rolle. Um diese Passivität zu überwinden und wieder die aktive Rolle zu erlangen, scheint es für den Beschämten attraktiv zu sein, Scham in Schuld zu verschieben, also eine aktive Handlungsweise zu wählen, die von der Scham ablenkt, indem der Beschämte gewalttätig wird. Damit ist aber zugleich gesagt: Die Situation der Scham markiert den kritischen Punkt menschlicher Freiheit: sich zu ändern, sprich: den eigenen Charakter zu formen und Haltungen auszubilden, die Schamerfahrung zu verdrängen oder – in unterschiedlichen Graden – schuldig zu werden. Daraus ergibt sich die notwendige Schlussfolgerung: Menschen sind nicht zur Schuld verdammt. Als Ursache für die Entstehung von Gewalt wird in diesem Buch die Sehnsucht, Scham in Schuld zu verschieben, ausgemacht. Eine Schamethik will die Konfliktpotentiale und Konfliktkanten, die durch diese Generaltheorie beschreibbar werden, präventiv bearbeiten.
Scham ist ein Schlüsselbegriff im ethischen Entwurf von Ernst Tugendhat, der mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit und in immer neuen Anläufen und Retraktationen die Möglichkeiten und Grenzen einer autonomen Begründung der Moral untersucht, in seinem Spätwerk aber auch den mystischen Nahverkehr mit der Transzendenz zugelassen hat. In der Auseinandersetzung mit seiner Ethik, die mich von allen aktuellen säkularen Ethiken am nachhaltigsten überzeugt, wird das Verhältnis einer theologischen zu einer nichttheologischen Ethik sehr präzise beschreibbar. Das ist für beide Seiten, sofern deren Vertreterinnen3 sich darauf ohne Überlegenheitsunterstellung einlassen, ein Diskursgewinn.
Ein zweiter Essay fragt nach der theologischen Verankerung der Schamethik, die im ersten Essay ohne explizite religiöse Anleihen auskommt. Mustert man die gängigen evangelischen Ethiken, dann entdeckt man ein Füllhorn an Begründungsinstanzen: Schöpfungslehre, Christologie, Pneumatologie, Trinitätslehre, Rechtfertigungslehre, Erwählungslehre, Eschatologie. Ich werbe für die bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Weisheitslehre. Die biblische Weisheitslehre ist eine Wahrnehmungs- und Inszenierungsschule, die durch ihre Texte versucht, Selbst, Welt und Gott religiös erfahrbar zu machen, und zugleich eine hochsensible Persönlichkeitsbildung anbietet. Biblische Modell-Lektüren bestätigen (und erweitern) die im ersten Essay präsentierte Phänomenologie und Anthropologie der Scham. Narrationen, die Schlüsselsituationen inszenieren, verleihen durch ihre emotional gesättigten Überzeugungen orientierende Kraft und Motivation, die dort erschlossene Weltsicht zu übernehmen. Genau hierin besteht das Surplus einer narrativen Ethik.4
Weil in weisheitlicher Perspektive der Mensch trotz aller Rückschläge für fähig gehalten wird, mit Kontingenzen und der geschenkten Freiheit lebensdienlich umzugehen, ist eine weisheitliche Anthropologie in ihrer Anlage optimistisch gestimmt. Diese die Weisheitstheologie und Weisheitsethik befeuernde, milde optimistische Anthropologie macht sie allerdings hochgradig verdächtig für Theologen, die ihre pessimistische Weltsicht schnappatmend pflegen. Die biblischen Schriftsteller präsentieren einen Gott, der mit wohlwollender Beschämung und souverän mit Satire arbeitet, um das irdische Personal, an dessen Bildungsfähigkeit dieser literalisierte Gott trotz aller Rückschläge trotzig glaubt, an die Hand zu nehmen und zu schulen – und der selbst im Vollzug seiner Schulung einen von den Schriftstellern zugeschriebenen Bildungsprozess durchläuft. In dieser Hinsicht ist der Weisheitserzähler und Geschichtenerzähler Jesus von Nazaret der Vollender der weisheitlich-pädagogischen Tradition, die Altes und Neues Testament verbindet. Ich lese die Bibel aus Altem und Neuem Testament als weisheitliches Beispielbuch zur ästhetisch-ethischen Erziehung des Menschengeschlechts.
Die Weisheitstheologie deutet das eigene Leben im Kontext mit anderem Leben und eingebettet in die Welt als wohlwollend begleitet durch Gott. Die dogmatische Tradition hält dafür den Topos vom concursus divinus bereit, vulgo als göttliche Mitwirkung tradiert.5 Mal diskret wie ein warmer, stabilisierender Schatten, mal nachdrücklich indiskret zeigt sich in den biblischen Texten das begleitende und schulende Handeln Gottes. Der narrativ inszenierte Optimismus ist ansteckend und bewahrt in den Bereichsethiken davor, Möglichkeiten, die durch die neuen technisch-wissenschaftlichen Leitwissenschaften erschlossen werden, theologisch reflexhaft alarmistisch zu dämonisieren.
Das Kontrastgefühl zur Scham ist die Ehre – ein vorbelastetes und etwas aus der Mode gekommenes Gefühl. Ich verstehe darunter das soziale und symbolische Kapital eines Menschen6, sein Kapital an Ansehen und Anerkennung, das in der Schamsituation auf dem Spiel steht.7 »Ehre«, so treffend Notger Slenczka, ist »ein Bewusstsein des Anerkanntseins in einem sozialen Gefüge, ein ›Sich wissen als anerkannt‹.«8 In der Schamsituation droht eine galoppierende Inflation dieses Kapitals. Wenn ich Scham und Ehre verbinde, dann greife ich die in der Antike vorgeschlagene Zuordnung wieder auf und setze mich betont von der bei Augustin und Thomas von Aquin vollzogenen Verjochung von Scham und Schuld, Scham und Sünde ab.9 Präzise in dieser Umwidmung verorte ich den Sündenfall der schuldfixierten Theologie. Biblische Lektüren legen eine andere Sicht der Dinge nahe.
»Die Ethik ist eine Optik«10 – eine spezifische Sichtweise auf die Welt. Damit wird die Frage drängend, durch welche Stilmittel und welche Pragmatik weisheitliche Literatur diese Sicht für Leserinnen und Leser erschließt und bis in den Habitus hinein prägt. Wer den Inszenierungskünsten für die neue Weltsicht auf die Spur kommen will, wer also die Frage beantworten will, wie Glaube entsteht, muss die poetischen, sprich: produktionsästhetischen Kniffe der biblischen Schriftsteller untersuchen. Nichts weniger als eine Poetik des Geistes der Weisheit (oder des Heiligen Geistes) steht damit künftig auf der Agenda – ein mächtiges Projekt für eine interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft.
Immer wieder greife ich in meinen Essays auf die biblische Literatur und nachbiblische Literatur zurück, um der Struktur der Scham und ihren möglichen Konkretionen näherzukommen. Ulrich Greiner, ehemals Feuilleton-Redakteur der ZEIT, hat eine beeindruckende kulturwissenschaftliche Studie über die Scham vorgelegt und sehr zu Recht die Literatur gefeiert: »Die Literatur ist ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur...