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Traut euch zu denken!

Wie wir der allgemeinen Verdummung entkommen

AutorBeatrice Wagner, Ernst Pöppel
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783641187859
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Das Gegenmittel zur Dummheit
Durch den Bestseller Dummheit von Ernst Pöppel und Beatrice Wagner wurde uns klar, was wir heutzutage alles nicht mehr wissen. In seinem neuen Buch zeigt das Erfolgsgespann, dass unsere auf Kausalität und Effizienz getrimmte Denkweise daran Schuld hat. Dabei gibt es viele andere Arten zu denken, die Kreativität freisetzen und so ungeahnte Problemlösungsstrategien eröffnen. Dazu müssen wir uns trauen, wieder auf unser implizites Wissen zu achten, für eine Fragestellung erst einmal keine Antwort zu haben oder für eine Situation auch mehrere Ursachen in Betracht zu ziehen. Mit der Entdeckung dieser und weiterer Facetten unseres Denkens können wir der allgemeinen Verdummung entkommen.

Prof. Dr. Ernst Pöppel ist einer der führenden Hirnforscher Deutschlands. Er ist Professor für Medizinische Psychologie ist an der Universität München und Gastprofessor an der Peking University. Zudem ist er Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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Leseprobe

1 Traut euch, intuitiv zu denken

Nach mehreren Enttäuschungen in Liebesangelegenheiten beschloss ein junger Mann, nennen wir ihn einmal Viktor, es diesmal ganz anders anzugehen, nämlich logischer und überlegter, um von vornherein die häufigsten Trennungsgründe auszuschließen. Als ihn seine neue Finanzberaterin Simone begrüßte, konnte Viktor zwar nicht von Liebe auf den ersten Blick sprechen, doch er zog sie näher in Betracht. Hübsch war sie schon, zudem groß, schlaksig und sicher keine, die den Männern nur den Kopf verdrehen wollte. Mit den vorherigen Freundinnen war Zukunftsplanung nicht möglich gewesen, Simone hingegen wirkte gradlinig. Das Gerede über Diäten war ihm zuwider, doch eine bereits schlanke Frau wird ja wohl keine Diät mehr brauchen. Mit Geld sollte sie umgehen können, wer könnte das besser als jemand von der Bank? Wer Ordnung in seinen Finanzen hält, ist zudem ja wohl insgesamt ein ordentliches Wesen. Ein Jahr später nahm Simone seinen Heiratsantrag an.

Und heute, fünfzehn Jahre später? Jetzt ist die Welt ganz anders: Mit Diäten hat Simone in der Tat nichts am Hut, im Gegenteil, das Ganze schlägt doch sehr in eine andere Richtung um. Das Gradlinige ist nur noch bissig. Ihre Ordentlichkeit ist im Kaufrausch erstickt. Streit und Ernüchterung sind zwischen ihnen an der Tagesordnung. »Was stimmte an meiner Kriterienliste nicht?«, fragt sich Viktor wehmütig.

Nun gut, die Liste stimmte sicher, aber sie war nicht vollständig. Denn Viktor hatte sich ausschließlich auf sein bewusstes Wissen verlassen. Auf dieses berufen wir uns in unserer kopfgesteuerten hochbeschleunigten Gesellschaft, die versucht, alles berechenbar zu machen, und in der sich der Einzelne nichts mehr zutraut. Das sehen wir an den Kriterien für die Partnerwahl genauso wie an den Multiple-Choice-Fragen für Bewerber eines Studiengangs für Medizin. Doch der Bereich für das bewusste Wissen macht nur vielleicht 1 Prozent unseres Gehirns aus. Der meiste Anteil der restlichen 99 Prozent ist für andere Anteile unserer Langzeit-Wissensspeicher vorgesehen. Das ist zum einen all das, was zum unbewussten Wissen gehört, nämlich Kenntnisse und Steuerungsmechanismen, die wir brauchen, um als Menschen zu funktionieren, die uns aber nicht bewusst werden. Und zum anderen gehört dann das bildhafte Wissen dazu. Es umfasst unser Vorstellungsvermögen genauso wie unser episodenhaftes Erinnerungsvermögen. Letzteres ist deswegen bedeutsam, weil es in der Erinnerung stark mit Emotionen verknüpft ist. Kaum ein Bild aus unserem Leben, das wir eingespeichert haben, ist banal, fast jedes hat eine emotionale Bedeutung für uns. Nun kann man sich vorstellen, dass wir uns anders entscheiden, wenn etwa unser episodisches Gedächtnis mit einbezogen und berücksichtigt wird, weil wir dann natürlich subjektiver und persönlicher entscheiden, als wenn wir eine Kriterienliste erstellen. Dass Letzteres nicht funktioniert, musste auch schon Charles Darwin erkennen, der ähnlich wie Viktor zunächst objektiv ans Werk ging und sich dann aber die Ergebnisse seiner Berechnungen doch so hinbog, wie es ihm unbewusst offenbar von Anfang an suggeriert wurde. Auch bei ihm ging es ums Heiraten.

Mit diesem Thema hatte sich Charles Darwin nach dem Ende seiner berühmten Forschungsreisen mit der »Beagle« befasst. Viel Aufmerksamkeit hatte er bis dahin den Frauen noch nicht entgegengebracht. Jetzt aber hatte es seine Cousine Emma Wedgwood dem bald Dreißigjährigen angetan. Um sich über die Vor- und Nachteile einer Heirat Klarheit zu verschaffen, katalogisierte er seine Gefühle und Motive in einer zweispaltigen Tabelle. Auf die eine Seite schrieb er »Heiraten«, auf die andere »Nicht-Heiraten«. Unter Heiraten merkte er positiv an, »eine ständige Gefährtin und Freundin im Alter« zu haben. Jemanden, der sich für einen interessiert. Jemanden zum Liebhaben. Besser als einen Hund. Eigenes Heim und jemanden, der den Haushalt führt. Charme von Musik und weiblichem Geplauder. »Diese Dinge sind gut für die Gesundheit«, hielt er fest. Allerdings stand da auch ein Nachteil: »dass mit der Hochzeit Verwandte hinzukommen. Verwandte zu besuchen – eine schreckliche Zeitverschwendung.« In der Spalte »Nicht-Heiraten« listete er demzufolge auf: »die Freiheit, hinzugehen, wohin man will, und die Gesellschaft kluger Männer in Clubs«, aber auch »keine Kinder, kein zweites Leben also. Niemand, der sich im Alter um einen kümmert.«2

Und was nun? Er hatte so wissenschaftlich mit seiner Entscheidungsfindung begonnen, wie aber sollte er nun diese sehr unterschiedlichen Vor- und Nachteile gewichten? Am Ende gab dann doch sein eigentlicher Wunsch den Ausschlag, den er nachträglich zu rationalisieren versuchte: »Mein Gott, es ist unerträglich, sich vorzustellen, dass man sein Leben wie eine geschlechtslose Arbeitsbiene verbringt. Stell dir den ganzen Tag vor in einem schmutzigen Haus. Halte das Bild einer sanften Frau dagegen. Also: Heiraten, heiraten, heiraten.« Und er schloss wie ein Mathematiker nach einer Beweisführung mit dem berühmten Abschlusssatz »Qed – Quod erat demonstrandum«, was nur selbstironisch gemeint sein konnte, denn von einer expliziten, das heißt sprachlich ausdrückbaren Beweisführung war er ja weit entfernt. Stattdessen hat er sich auf sein intuitives Wissen bezogen, das genauer als seine Tabellen wusste, was gut für ihn ist.

Intuition: Das blitzartige Erkennen

Der Begriff »Intuition« wird erstmals in der altgriechischen Philosophie gebraucht und beschrieb damals eine Art des Erkennens. Er wurde für das blitzartige Erfassen des ganzen Erkenntnisgegenstandes benutzt. Das Gegenteil der Intuition war das partielle Erkennen, bei dem Teilaspekte des Ganzen betrachtet werden. Dies war die Basis für die spätere Unterscheidung zwischen Intuition und Ratio.

Bis in das letzte Jahrhundert hinein blieb die Intuition ausschließlich in der Philosophie angesiedelt. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Psychologie im 20. Jahrhundert, von ihr wurde die Intuition als eine Form des Denkens beschrieben. Wie genau diese aber aussehen sollte, war lange nicht klar. Der Begriff wurde unspezifisch für alle nichtanalytischen Arten zu denken benutzt. Sie erscheint einem wie ein Gedankenblitz oder ein Bauchgefühl, das beispielsweise sagt: »Heiraten, heiraten, heiraten …«, wobei die Herkunft dieses Wissens für uns im Dunkeln liegt. Was passiert da im dunklen Bereich unseres Wissens? Damit hatte sich in einer grundlegenden Arbeit der Neurologe Rüdiger Ilg befasst, als er im Jahr 2005 im Klinikum rechts der Isar mithilfe eines Hirnscanners untersuchte, welche Bereiche unseres Gehirns bei einer intuitiven Eingebung aktiviert werden.

Ilg hatte zunächst mit freiwilligen gesunden Versuchspersonen einen Sprachtest durchgeführt und die Aktivierung des Gehirns während der Antworten mit einer funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) gemessen. Mit einer fMRT lassen sich aktive Zentren im Gehirn sichtbar machen. Die Probanden bekamen die Aufgabe, spontan zu entscheiden, ob zwischen drei vorgegebenen Wörtern eine Gemeinsamkeit besteht. Als spontan wurden solche Antworten gewertet, die innerhalb von drei Sekunden gegeben werden, denn innerhalb dieses Zeitfensters ist ein explizites Durchüberlegen nicht möglich. Die vorgegebenen Wörter lauteten beispielsweise »grün, hoch, Ziege« oder »Berg, Schere, weiß«. Die Probanden mussten schnell entscheiden, ob die Wörter zusammengehören und für sie ein Bild ergeben (Antwort A). Oder ob die Wörter zusammengehören, ohne dass der Proband weiß, warum (Antwort B). Oder ob sie nicht zusammengehören (Antwort C). Zu den genannten Beispielen meinten die meisten Probanden, dass die Dreierkombination »grün, hoch, Ziege« ein Bild ergäbe, und sahen vor ihrem geistigen Auge Ziegen, die auf der Wiese einer Hochalm weideten. Auf die Kombination von »Berg, Schere, weiß« hingegen antworteten die Probanden, dass diese Wörter nicht zusammengehörten. Sie ließen sich nicht zu einem schlüssigen Bild vereinen.

Ilg interessierte nun, welche Hirnbereiche an den unterschiedlichen Antworten beteiligt waren. Vor allem interessierte ihn der Vergleich zwischen Antwort A (»Die Wörter gehören zusammen, und sie ergeben ein Bild«) und Antwort B (»Die Wörter gehören zusammen, aber ich weiß nicht, warum«). Und tatsächlich: Die fMRT zeigte Unterschiede. Bei Antwort A wurden vornehmlich Areale der linken Gehirnhälfte aktiviert. Hier ist das logische analytische Denken angesiedelt, das auf dem expliziten oder semantischen Gedächtnis beruht. Auf diese Bereiche haben wir mit unserem Bewusstsein Zugriff. Das Ergebnis war zu erwarten, weil die Probanden ja ihre Antwort begründen konnten. Das heißt, sie haben diesen Teil des Gehirns angestrengt und aus den drei einzelnen eine gemeinsame Schlussfolgerung gezogen.

Wenn die Probanden hingegen mit B geantwortet haben, kam es zur Aktivierung von drei ganz besonderen weiteren Arealen, die unserem Bewusstsein nicht zugänglich sind. »Die Areale, die wir gefunden haben, besitzen eine assoziative Verknüpfungsfunktion im Gehirn. In ihnen laufen Informationen aus verschiedenen Hirnarealen zusammen«, erklärte Ilg.3 Und hier kommen wir der Ergründung der Intuition näher. Die Ergebnisse aus der fMRT bedeuten nämlich, dass bei intuitiven Entscheidungen solche neuronalen Zentren im Gehirn beteiligt sind, die nach einem Muster hinter den Begriffen suchen. Das sind sogenannte »assoziative Zentren«. Diese werden aktiviert, wenn die Antwort nicht sofort aus dem bewussten Wissen abzurufen ist. Dann werden intuitive Entscheidungsprozesse angeregt, bei denen das Gehirn nur untersucht, ob sich die einzelnen...

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