1 ZOOM-IN: Sehhilfe in turbulenten Zeiten
In meiner Praxis für Paar- und Sexualtherapie bekam ich vor ein paar Monaten einen Anruf mit unterdrückter Rufnummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Mann, der mich fragte, ob ich auf Outdoor-Sex spezialisiert sei. Nun habe ich mich über die Jahre hinweg schon an die ungewöhnlichsten Anfragen gewöhnt und fragte höflich nach, wo denn das Problem dabei sei. Er meinte, es würde ihn tierisch nerven, dass seine Partnerin ausschließlich auf Outdoor-Sex stünde und dabei nur eine Sexstellung bevorzuge, was ihm bei der derzeitigen Witterung zu kalt und auch zu einseitig sei. Es kommt ja durchaus vor, dass Paare unterschiedliche sexuelle Vorlieben haben, aus denen sich dann partnerschaftliche Spannungen aufbauen, nur irritierte mich die Art und Weise, wie er sein Problem vortrug. Besonders erfreut reagierte er auf meine Frage, ob er zu dem Termin seine Partnerin mitbringen wolle. Dabei ließ er dann ganz beiläufig die Bemerkung fallen, dass seine Partnerin ein Schaf sei! Ich traute meinen Ohren nicht und überlegte kurz, ob er vielleicht gemeint haben könnte, dass seine Frau »scharf« sei, verwarf den Gedanken aber kurzerhand, als er fortfuhr und sich bei mir für die Bereitschaft bedankte, auch Tiere mit in die Therapie einbeziehen zu dürfen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass dies keine ernsthafte Therapieanfrage war, sondern mein Gesprächspartner vermutlich mit heruntergelassener Hose am anderen Ende der Leitung gespannt auf meine Schreckreaktion wartete. Die vom Anrufer vorgegebene Zoophilie, im konkreten Fall die sexuelle Hingezogenheit zu einem Schaf, kaschierte dabei seine eigentlich dahinterliegende exhibitionistische Neigung, die er gerade im Schutz der Anonymität des Anrufes auslebte.
Nun leitet die »Schaf-Stellung« des Anrufers metaphorisch, neben einer gewissen orthografischen Ähnlichkeit zum Titel, nur mittelbar in das Thema des Buches ein, in dem es weniger um Sex mit Tieren als vielmehr um unsere tierisch triebhafte Seite der Sexualität gehen wird. Sollten Sie also assoziativ bei »Scharfstellung« an »spitz«, »pikant«, »hot« oder Liebespraktiken des Kamasutras denken, so geht das durchaus in die richtige Richtung.
Seit Jahren beobachte ich eine Verschiebung sexueller Normen: Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus und BDSM, denen früher ein Krankheitswert zugeordnet wurde, sind heute in weiten Teilen der Bevölkerung fest verankert. Für jede denkbare Vorliebe gibt es Portale und Apps, über die sich unverbindlich sexuelle Kontakte knüpfen lassen. Selbst für die ausgefallensten Spielarten finden sich über das World Wide Web im Handumdrehen Gleichgesinnte, mit denen man sich verbal und bei Gefallen auch nonverbal austauschen kann. Der Blick des Voyeurs durch das Schlüsselloch virtueller Möglichkeiten weckt ungeahnte sexuelle Fantasien, die nach Verwirklichung streben. Neueste technische Trends zielen dabei diametral auf unsere Triebe, die im Deckmantel der Anonymität des Internets eine unendlich große Spielwiese für Lust ohne Limit und frei von Last finden.
Auslöser der »alten« sexuellen Revolution in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war die Einführung der Antibabypille und die gesetzliche Grundlage zur straffreien Abtreibung, welche Sexualität und Fortpflanzung voneinander abkoppelten. Ohne drohendes Damoklesschwert einer unfreiwilligen Elternschaft im Nacken war es nun erstmals möglich, Sexualität angstfrei zu genießen. Mit Slogans wie »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!« und »Mein Bauch gehört mir!« verschaffte sich die Bewegung damals lautstark Gehör.
Die »neue« sexuelle Revolution geht mit einer Autonomisierung unserer Triebe einher. Sie kommt leiser, verborgener und subtiler daher, dafür aber mit einer nie dagewesenen Effektstärke und Wirkung. Drehscheibe der Veränderung ist diesmal weniger die Fortpflanzung als vielmehr die Befreiung unserer Triebe durch die Möglichkeit, Lust völlig autonom in einer Welt sexueller Superstimuli zu erleben. Unsere Triebe verabschieden sich dabei immer mehr aus verbindlichen Partnerschaften und führen ein illustres Eigenleben, das Gefahren und Inkompatibilitäten mit dem realen Leben weitestgehend ausblendet. Beziehungsgrenzen weichen zunehmend auf und der Begriff der Treue ist unklarer als je zuvor. Heute kann ich meinen Partner online betrügen, während er mit mir im Bett liegt. Das Smartphone als mittlerweile wichtigster Alltagsgegenstand nimmt hier eine Schlüsselfunktion ein. Es ist die Eintrittskarte in ein magisches Theater der Begierde. Im Verborgenen entstehen dabei Doppelleben, die über viele Jahre vom öffentlichen Leben unsichtbar und abgespalten sind. Einigen kosten die ständig verfügbaren verführerischen Reize nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Beziehung, ihren Job, ihr Vermögen, ihren Ruf und ihre Gesundheit. Pornografie, Online-Dating und käuflicher Sex im Übermaß genossen hat ähnlich starke Wirkung wie Kokain. Porno- und Sexsucht entwickeln sich über Jahre hinweg im Verborgenen und haben gravierende Folgen für Betroffene und deren Umfeld. Allein in Deutschland leben konservativ geschätzt eine halbe Million Sexsüchtige, Tendenz steigend.
Anders als früher findet Aufklärungsunterricht heute nicht mehr primär in der Schule oder zu Hause bei den Eltern statt, sondern über das Smartphone. Pornos laufen weit vor dem ersten Kuss in Kinderzimmern und auf dem Pausenhof. Sie wirken nachhaltig auf unsere sexuellen Fantasien und beeinflussen unser Wollen und Können. Besonders unter jungen Männern breiten sich sexuelle Funktionsstörungen wie Potenzstörungen, partnerbezogene Lustlosigkeit und Orgasmusverzögerung mittlerweile pandemisch aus.
All diese Entwicklungen passieren in unserem direkten Umfeld im Nahbereich. Sie verändern nicht nur unser aller Leben, sondern auch das unserer Partner, Kinder, Eltern, Freunde und Bekannten. Dabei spüren wir diese Veränderungen schon weit bevor wir sie sehen und verstehen können. Eine Ursache dafür ist, dass das Trio Liebe, Sex und Sucht mit einer Unschärfe der Wahrnehmung einhergeht, denn es fehlt ihnen der zum Fokussieren erforderliche Mindestabstand, um ein scharfes Bild auf der Netzhaut zu erzeugen. Zum anderen agieren unsere Triebe am liebsten ungehemmt im Schutz der Anonymität und im Verborgenen abseits ausgetretener Pfade. Wenn wir dann unfreiwillig und ungeplant einen Blick erhaschen, trauen wir unseren Augen kaum und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. So erging es der Ehefrau eines meiner Klienten, die es durch Zufall schaffte, sich in den geheimen Account ihres Mannes einzuloggen. Hier fand sie über hundert Bewertungen von Prostituierten, die sich zu den sexuellen Qualitäten ihres mittlerweile auf Gold-Freier-Niveau hochgearbeiteten Gatten äußerten. So einzigartig und tragisch die Einzelschicksale auch anmuten, sie sind Teil eines Massenphänomens, das sich tagtäglich in Varianz hinter zigtausend verschlossenen Türen der Republik immer und immer wieder abspielt.
Das Buch ist das Ergebnis aus unzähligen Gesprächen mit Klienten und Paaren, die sich mir in meiner Arztpraxis in den letzten fünfzehn Jahren anvertraut haben. Dadurch, dass ich tagtäglich hinter die Alltagskulissen meiner Klienten schaue und mich hier meist in Tabubereichen bewege, war es mir möglich, die sich verändernden Einzel- und Paarthemen mosaikartig zu Skizzen neuer Beziehungslandschaften zusammenzusetzen. Mir ist dabei wichtig, nicht zu werten. Vielmehr möchte ich neue Phänomene beschreiben und strukturieren.
Sexualität, Intimität, Leidenschaft und Erotik haben die verschiedensten Gesichter und zeigen sich auf vielfältige Art und Weise. Ich sehe in meiner täglichen Arbeit die unterschiedlichsten, teilweise auch nicht traditionellen sexuellen Lebensformen, denen ich offen, respektvoll und wertschätzend gegenüberstehe. Das Bewerten, was ethisch, moralisch und politisch korrekt, richtig oder falsch, gut oder böse ist, halte ich für überflüssig, solange in gegenseitigem Respekt gehandelt wird und Gesetze eingehalten werden. Jeder Mensch kann autonom und eigenverantwortlich entscheiden, was für ihn ein erfülltes und befriedigendes Sexualleben ausmacht. Wie im sonstigen Leben gehört es auch zur Sexualität dazu, mutig voranzuschreiten und zu experimentieren, um herauszufinden, was zu einem passt und, noch wichtiger, was eben nicht passt und wo die eigenen Grenzen liegen. Je nach Lebensabschnitt rücken dabei die drei sexuellen Komponenten Lustbefriedigung, Bindung und Fortpflanzung mal mehr oder weniger in den Vordergrund.
Das Buch versteht sich als eine Art Sehschule. Es möchte den Blick des Betrachters schärfen, um dadurch bisher unbekannte oder nur unscharf...