Von Freiheitskämpfern zu Kleinhändlern
Polenbilder
Wir Deutsche haben ein Problem mit Polen. Schon zum zweiten Mal innerhalb einer Generation. Vor 1989 war alles klar. Die Polen, das waren »Leute, die arm, aber fröhlich sind und gern tanzen«. So lautete in einem westdeutschen Kinderbuch, das ich in Erinnerung habe und das auf wenigen Seiten die Völker Europas vorstellte, die Beschreibung der Polen. Außerdem wusste man, dass diese im Grunde fröhlichen Menschen zutiefst unglücklich über die wechselnden Besatzer und Diktatoren waren, die ihre Armut noch vertieften und gegen deren Herrschaft sie sich immer wieder mutig zur Wehr setzten. Damit konnten sie, wenn es gut ging, manchmal »diese versteinerten Verhältnisse … zum Tanzen zwingen« (wie Karl Marx gesagt hätte). Leider ging es nicht immer gut. Gewalt siegte über Recht, Fremdherrschaft über Selbstbestimmung, kurz, die feindlichen Kräfte waren stärker, und die Polen mussten für ihren Wunsch, so zu leben wie andere Völker auch, immer wieder einen furchtbaren Preis zahlen. Als das zuletzt der Fall war, nach der gewaltsamen Zerschlagung der Solidarność, der Demokratiebewegung in den 1980er-Jahren, halfen ihnen die Deutschen: mit Lebensmittelpaketen und Hilfstransporten. Das tat beiden Seiten gut, auch den Deutschen, deren Angehörige ja vielfach als Soldaten Unglück und Leid über ihre polnischen Nachbarn gebracht hatten.
Manche Deutsche haben sich damals, in den 1980er-Jahren, von den Polen ein wenig anstecken lassen. Womit, das hat eine deutsche Journalistin damals stellvertretend für viele so beschrieben:
»Wir suchten bei unseren östlichen Nachbarn diese Leichtigkeit, Spontaneität und Herzlichkeit, diesen Geist des Widerstands und der Aufopferung, den wir an unseren Landsleuten, die im Geist des Rationalismus, des Kalküls und der Effizienz erzogen waren, so schmerzlich vermissten. Bei uns entscheiden über die Anerkennung (eines) Menschen sein Einkommen und seine berufliche Stellung, in Polen dagegen sein Mut und seine Unbeugsamkeit. Bei uns wird eine pragmatisch flexible Haltung belohnt, in Polen eine fundamentalistische. Bei uns ist das öffentliche Leben eher überorganisiert, in Polen dagegen herrschte – selbst unter totalitären Verhältnissen – auf vielen Gebieten Anarchie. An Polen gefiel uns das, was wir selbst nicht hatten. […] Auch die deutschen Korrespondenten in Polen waren emotional stark engagiert und hielten sich selbst manchmal für die ›polnische Lobby‹ im Westen, für Anwälte des östlichen Nachbarn, dessen bedingungslose Freiheitsliebe auf den Gesichtern der westdeutschen Entspannungspolitiker oft ein zorniges Stirnrunzeln hervorrief.«
Und dann das: Der Ostblock brach zusammen, die Berliner Mauer wurde mit kleinen Hämmern in Stücke geschlagen, die Sowjetunion zerfiel friedlich in ihre Bestandteile – Ereignisse, an deren Eintreten zu Lebzeiten kaum jemand geglaubt hatte, am allerwenigsten die Deutschen, die doch entlang der Mauer am deutlichsten hätten spüren müssen, wie unnatürlich die gewaltsame Teilung Europas war. Polen spielte eine Schlüsselrolle in diesem Völkerherbst des Jahres 1989. Dort siegte die friedliche Revolution als erste, nämlich schon im Frühling. Und was geschah mit den Deutschen? Zitieren wir noch einmal die erwähnte Journalistin:
»In jüngster Zeit habe ich an mir und anderen deutschen Kollegen festgestellt, dass unser Verhältnis zu Polen, seit es frei und demokratisch ist, abgekühlt ist. Ein Polen, das nicht mehr leidet, ist uns innerlich fremd geworden. […] Was ist geschehen, dass diese Liebe verblasst ist? Wenn ich meine Reaktion auf eine einfache Formel bringen sollte, würde ich sagen: Auf Bewunderung ist Enttäuschung gefolgt.«1
Sie müsse sich sogar stark bremsen, »damit die Enttäuschung nicht in Aggression umschlägt«, fügte die Journalistin noch hinzu. Im milderer Form habe auch ich damals Ähnliches verspürt: ein Befremden, eine Entfremdung. Polen war ein anderes Land geworden. Die Verhältnisse hatten heftig getanzt, und die Polen wurden – durch die tiefgreifenden Veränderungen ihres Alltags, ihres Daseins, ihrer täglichen Dinge – irgendwie zu anderen Menschen. Vielleicht hat ein polnischer Witz, der damals mit den Klischees spielte und zugleich eine Art Rollentausch unter den Völkern beschrieb, diesen Umbruch gut beobachtet: »Kinder, Kinder, was hat sich die Welt verändert! Die Deutschen kämpfen für den Frieden. Die Juden führen Krieg. Und die Polen handeln.« Die Polen waren von einem Volk der Freiheitskämpfer zu einem Volk der Kleinhändler geworden, wie man auf den »Polenmärkten« an der Oder und selbst im Herzen Berlins feststellen konnte.
Der Philosophiestudent Józef, den ich drei Jahre zuvor als Kriegsdienstverweigerer und Aktivisten der Oppositionsgruppe »Freiheit und Frieden« kennengelernt hatte, kam plötzlich mit einem Kleinlaster voller Dosenbier zu mir nach Berlin, um es einem Getränkehändler anzubieten. (Wir bekamen am Telefon Antworten wie diese: »Von Polen kaufen wir kein Bier.«) In kurzer Zeit wurden in unserem östlichen Nachbarland zwei Millionen Firmen gegründet. Die beschriebenen positiven Züge wie Spontaneität, Herzlichkeit und Widerstandsgeist wurden von eher unangenehmen Eigenschaften, wie sie der Kapitalismus mit sich bringt, in den Hintergrund gedrängt. Und viele Deutsche, die mit Polen zu tun hatten, wussten nicht, wie ihnen geschah, und waren enttäuscht.
Dann gingen ein paar Jahre ins Land. Die polnische Gesellschaft krempelte die Ärmel hoch und packte hart an. Noch heute haben die Polen die längsten Arbeitszeiten in der EU. Kein Wunder – sie hatten ja auch, anders als die ehemaligen DDR-Bürger, keinen reichen Onkel, der ihnen das Geld rüberschob und neues Personal gleich dazu. Trotzdem ging es aufwärts. Es ruckelte und rumpelte heftig, aber es ging voran. Das haben viele Deutsche zunächst nicht mitbekommen. Kein Wunder: Bis heute (Stand 2018) sind zwei Drittel der Deutschen, die sich gerne die Reiseweltmeister nennen, noch nie in dem Nachbarland gewesen. Hierzulande erzählte man sich lieber Polenwitze, wie es sie – mit anderen »Themen« – seit langer Zeit auch in Amerika gab. Dort erinnerten diese Witze in ihrer Schlichtheit an die deutschen Ostfriesenwitze; meist war vom »dummen«, primitiven oder betrunkenen Polen die Rede. In Deutschland drehten sich die Witze dagegen um das Thema Kriminalität. »Heute gestohlen, morgen in Polen.« Talkmaster Harald Schmidt fand die Witze zeitweise so witzig, dass er sie in seine Sendungen einbaute. Die Fixierung der deutschen Öffentlichkeit auf die Kriminalität der Polen hielt jedoch zahllose Deutsche nicht davon ab, Hunderttausenden polnischer Frauen und Männer ihre Wohnungsschlüssel anzuvertrauen, damit sie dort tagsüber unbeobachtet putzen und bügeln, handwerkern und malern konnten.
Ein paar Jahre gingen ins Land, im ehemaligen Jugoslawien, in Russland und in manchen seiner Nachbarländer wurden Kriege geführt – die Polen arbeiteten weiter. Bald war klar, dass Demokratie und Marktwirtschaft bei Deutschlands östlichen Nachbarn keine Eintagsfliegen bleiben würden. Nach und nach freundeten sich die bisherigen Nato-Länder mit der Idee an, ihre beitrittswilligen Nachbarn in das Bündnis aufzunehmen. Viele deutsche Politiker erklärten die Bereitschaft, in dieser Entwicklung »Polens Anwalt« zu sein. Im Jahr 1999 wurde ein Traum Wirklichkeit: Polen war in der Nato mit einem starken »Erzfeind« im selben Bündnis, Deutschland war nun auch von Osten her von Partnern umgeben – ein seltener Glücksfall in der europäischen Geschichte, der vielen heute bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
Der europäische Nachbar
Ein paar Jahre gingen ins Land, und Polen wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union. Gleichzeitig mit neun kleineren Ländern, die zusammengerechnet weniger Einwohner hatten als Polen allein. Jetzt wurde der Bündnispartner auch Teil eines gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftsraums. Während bisher vor allem die »alten« EU-Länder vom wirtschaftlichen Ost-West-Austausch profitiert hatten, wuchs jetzt allmählich auch der Nutzen für die neuen Länder. Nach einer längeren Anlaufphase wurde Polen zum Netto-Empfänger mehrerer Milliarden Euro EU-Gelder pro Jahr.
Noch ein paar Jahre gingen ins Land....