/ 1 / Der Absturz
Der Tag der Niederlage
Es war doch immer gut gegangen.
Vielleicht hatte uns das zu arrogant gemacht.
Für den politischen Liberalismus in Deutschland sind Nahtoderfahrungen nichts Ungewöhnliches. Sein Überleben stand häufiger auf dem Spiel. Ich trat 1994 in die FDP ein; damals schrieben Journalisten auf Vorrat an Nachrufen, die später dann, falls man sie verwenden konnte, griffbereit in den Redaktionen liegen sollten. Doch die Freien Demokraten hatten es bei jeder Wahl seit 1949 in den Bundestag geschafft. Und hatten wir nicht vor ein paar Monaten noch eine Landtagswahl überraschend gut überstanden, in Niedersachsen, mit fast zehn Prozent? Ich glaubte, es würde auch diesmal reichen – wenn auch sehr knapp.
22. September 2013, es war der Tag der Bundestagswahl. Um 15.50 Uhr schrieb ich eine SMS an meine engsten Mitarbeiter: »Die Katastrophe ist da!« Ich saß zu dieser Zeit gerade im ICE von Düsseldorf nach Berlin und hatte die ersten Ergebnisse der exit polls bekommen, der Befragungen, die unmittelbar am Wahltag vor den Wahllokalen durchgeführt werden. Je näher wir der Hauptstadt kamen, desto deutlicher wurde, wie wenig die liberale Partei diesmal gefragt war. Um 15.09 Uhr hatte Philipp Rösler, der Parteivorsitzende, mir bereits eine Nachricht geschickt: »Immer noch unklar, ob wir überhaupt drin sind, oder AFD oder beide.« Beim Halt in Berlin-Spandau waren wir unter der Fünf-Prozent-Hürde angekommen.
Ich hatte eine Stunde Zeit. Vom Hauptbahnhof fuhr ich mit dem Taxi ins Hotel. Um 17 Uhr würde das Parteipräsidium tagen, um 18 Uhr auch die Öffentlichkeit erfahren, was wir schon zwei Stunden früher wussten. Hoch ins Hotelzimmer, schnell duschen, kurz fluchen. Unter der Dusche traf ich die Entscheidung: Ich werde es machen.
Es hatte doch früher immer geklappt. So wie 1969: Viele sagten der FDP damals den Untergang voraus. Aber mit 5,8 Prozent schaffte sie es dennoch knapp ins Parlament. Ein spärliches Ergebnis und der Mut von Walter Scheel und Willy Brandt reichten aus, um die Republik mit einer sozialliberalen Koalition zu modernisieren. Die neue Ostpolitik und das Wagnis von »mehr Demokratie« brauchten Gestaltungsmacht, die sich nicht an Prozentzahlen allein festmachte.
Oder 1983: Die FDP hatte ein halbes Jahr zuvor die Wende von der sozialliberalen hin zu einer konservativ-liberalen Regierungskoalition vollzogen. Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte außenpolitisch und wirtschaftspolitisch das Notwendige in der SPD nicht mehr durchsetzen. Der Koalitionswechsel war erforderlich. Danach aber war die liberale Partei umstritten und zerstritten wie nie zuvor. Die Zeitzeugen von damals haben mir von der Dramatik jenes Wahlkampfs und den Anfeindungen wegen des »Verrats der FDP« – so machte die SPD Stimmung gegen meine Partei – oft berichtet. Der FDP gelang es trotzdem ein halbes Jahr später, sieben Prozent zu erreichen. Sie setzte bei diesen Wahlen aus politischer Überzeugung ihre Existenz aufs Spiel.
1994 lagen die Dinge indessen anders: Die Partei war nach Jahrzehnten pragmatischer Regierungsarbeit programmatisch ausgezehrt. Sie investierte verzweifelt quasi ihr gesamtes Vermögen in den Wahlkampf – und mehr als das, wie der bis heute bestehende Schuldenstand zeigt. Außerdem warb sie in einem Akt der politischen Selbstunterwerfung mit dem Slogan: »FDP wählen, damit Kohl Kanzler bleibt«. Im Ergebnis reichte das dennoch für 6,4 Prozent.
64 Jahre saßen die Freien Demokraten im Bundestag. 45 Jahre davon regierten sie Deutschland mit, das ist länger als jede andere Partei in der Nachkriegszeit. Nie war die Partei des Liberalismus in der außerparlamentarischen Opposition. Sie begriff sich selbst als Teil der politischen Grundversorgung, als »die eigentliche Regierungspartei der Republik«, wie die Zeit einmal schrieb.
Kurz vor der Bundestagswahl 2013, auf der Zielgeraden, war Panik ausgebrochen. Eine Woche vor dem Wahlsonntag flog die Partei mit 3,3 Prozent aus dem Landtag in Bayern. Philipp Rösler und Rainer Brüderle, der Spitzenkandidat, ließen sich mit Altkanzler Helmut Kohl zusammen in dessen Garten in Oggersheim für die Bild-Zeitung fotografieren. Hastig überklebte die Wahlkampfleitung in ganz Deutschland FDP-Plakate mit einem Slogan, aus dem nicht der Mut der Verzweiflung, sondern mutlose Zweifel sprachen: »Jetzt geht’s ums Ganze«, war darauf zu lesen. Unverhohlen wurde mit der Botschaft geworben: Wer Angela Merkel weiterhin als Kanzlerin will, muss die FDP wählen. Ich fand das falsch. Und das sagte ich auch öffentlich in einem Interview mit einer großen Regionalzeitung. Zwar kandidierte ich, Landtagsabgeordneter in Düsseldorf und stellvertretender Parteivorsitzender, nicht selbst für den Bundestag. Ich war aber sozusagen als »Vorprogramm« von Guido Westerwelle, unserem Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen, Tag für Tag auf Tournee. Wir übernahmen die Sprachregelung aus Berlin bewusst nicht. Werben um die Leihstimmen von Unionswählern – das war genau das, was wir nicht wollten. Denn so machte die FDP sich klein und auf entwürdigende Weise von der Gunst eines politischen Mitbewerbers abhängig.
Parteiintern war in den letzten Tagen vor der Wahl mit einem Ergebnis von »sechs plus x« gerechnet worden – auch jetzt wollte niemand ein Scheitern einkalkulieren.
Das Parteipräsidium traf sich am Wahlabend im »Berliner Congress Centrum« am Alexanderplatz, einem Haus aus der Zeit des real existierenden Sozialismus, das nun zur Kulisse für den surreal wirkenden Untergang der liberalen Partei wurde, die historisch entscheidenden Anteil an der Überwindung der Teilung unseres Landes hatte. Eine Ironie der Geschichte. Vor dem Haus trafen Bundesminister und Staatssekretäre in ihren Dienstlimousinen ein, Journalisten standen nervös tuschelnd herum, Fernsehreporter probten für ihre Live-Schaltungen. Für mindestens eine Stunde noch war die FDP staatstragende Regierungspartei. Ihr Erfolg oder Misserfolg entschied mit über die Frage, wer das größte und wirtschaftsstärkste Land der Europäischen Union in den nächsten vier Jahren politisch führen würde.
Die Parteispitze traf sich in einem Sitzungsraum, der mir nur als ein düsterer Bunker in Erinnerung geblieben ist. Der Weg dorthin führte durch einen langen Flur. Ich lief an vielen Mitarbeitern der Bundestagsfraktion vorbei, die alle sichtbar angespannt waren – für sie hing vom Ergebnis dieses Wahlabends die eigene berufliche Existenz ab. Anders als Abgeordnete bekommen Mitarbeiter kein Übergangsgeld, wenn die Mandate wegfallen. Sie stehen ebenfalls vor dem Aus und müssen sich nach zum Teil jahrzehntelanger Zugehörigkeit völlig neu orientieren. Und das, obwohl sie ja selbst gar keine politische Verantwortung getragen hatten. Aber die Konsequenzen unserer Entscheidungen, der politischen Führung, die würden sie jetzt zu spüren bekommen.
Drinnen im Präsidium war die Atmosphäre natürlich gedrückt. Die sonst üblichen Scherze zur Überbrückung der Wartezeit – diesmal gab es sie nicht. Alle, die wir in den vier Jahren der schwarz-gelben Koalition die Wahrnehmung der liberalen Partei geprägt hatten, saßen zusammen: Parteichef Philipp Rösler, Außenminister Guido Westerwelle, Fraktionschef Rainer Brüderle, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Gesundheitsminister Daniel Bahr, Entwicklungsminister Dirk Niebel. Der Vorsitzende versuchte noch, eine halbwegs geordnete Gesprächsführung zu organisieren.
Wie die Lage denn sei, fragte einer der Anwesenden in die Runde. »Welche Lage denn? Es gibt keine mehr für uns«, bekam er zu hören. Ein Mitglied des Präsidiums appellierte an uns, die Auszählung der Briefwahlstimmen abzuwarten, denn erfahrungsgemäß würden diese das Ergebnis der FDP an einem Wahlabend noch nach oben drücken. Es wurde eben nach jedem Strohhalm gegriffen. Philipp Rösler fragte, wie die gemeinsame Sprachregelung denn nun laute. Angesichts der vollständigen Niederlage erklärende Textbausteine suchen? Ich schüttelte den Kopf: »Was für eine Sprachregelung soll es jetzt noch geben?« Wir brauchten keine Sprachregelung mehr, wenn die liberale Bundestagsfraktion untergegangen sei. »Da kann es nur eine Botschaft geben: Ab morgen wird die FDP neu aufgebaut.«
Noch vor 18 Uhr bat Guido Westerwelle mich um ein Gespräch. Wir verließen kurz den Raum und gingen an der Rückseite des Kongresszentrums zwischen den Übertragungswagen der Medien auf und ab. »Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, fragte er mich und sagte: ...