4. Der Verlauf der Schizophrenie
4.1 Krankheitsrisiko und Lebensalter
Eine Schizophrenie kann in allen Altersstufen ausbrechen. Wie Abbildung 1 zeigt, besteht ein systematischer Unterschied der Altersverteilung zwischen den Geschlechtern.
Abbildung 1: Geschlechtsspezifische Verteilung des Krankheitsausbruchs von Schizophrenie (ICD-9: 295, 297, 298.3, 298.4) (erstes Zeichen) über den Lebenszyklus (nach Ergebnissen der ABC-Schizophreniestudie) und fiktive Trends bei weit gefasster Diagnose bis ins hohe Lebensalter[12]
Bei Männern liegt der Gipfel der Ersterkrankungen zwischen 15 und 25 Jahren, um danach wieder monoton abzufallen. Werden alle Schizophrenien oder schizophrenieähnlichen Erkrankungen – weite Diagnose – berücksichtigt, dann verläuft der Trend der Ersterkrankungsraten bei Männern von der Lebensmitte an auf niedrigem Niveau bis ins hohe Alter hinein weiter. Beim weiblichen Geschlecht steigt die Ersterkrankungshäufigkeit langsamer an, erreicht ihren ersten Gipfel bei 15 bis 29 Jahren und fällt danach ab, um in der Menopause einen zweiten, kleineren Gipfel zu bilden. Im höheren und hohen Lebensalter sind die Erkrankungsraten bei Frauen höher als bei Männern. Ein Grund dafür ist die in der Menopause sinkende Ostrogenproduktion; denn dieses weibliche Sexualhormon leistet durch eine Verminderung der Sensibilität der D2-Rezeptoren[13] im Gehirn – an demselben Ansatzpunkt, an dem auch die Antipsy-chotika angreifen – eine gewisse Schutzfunktion gegen das Auftreten einer Psychose. Als Folge davon tritt die Krankheit bei Männern früher auf und verläuft in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter im Mittel auch schwerer als bei Frauen. Offenbar wegen des Fortfalls der Schutzwirkung von Östrogen ist die Symptomatik der Schizophrenie bei Frauen jenseits der Menopause durchschnittlich schwerer als bei Männern und der Verlauf ungünstiger. Diese Untersuchungsergebnisse sind experimentell bestätigt worden. Die Ergänzung einer antipsychotischen Behandlung mit Neuroleptika durch Östrogengaben führt bei beiden Geschlechtern im Vergleich mit Kranken, die nur ein Psychopharmakon erhalten haben, zu einer signifikant rascheren Verminderung der Symptome.
4.2 Der Einfluss des Alters auf Symptomatik, Krankheitsschwere und Krankheitsfolgen
Auch unabhängig vom Geschlecht hat das Lebensalter Einfluss auf die Symptomatik. Die ziemlich seltenen Psychosen in Kindheit und Jugend sind schwerer und im Verlauf ungünstiger als die meisten Ersterkrankungen im Erwachsenenalter. Ein früher Krankheitsausbruch ist häufig die Folge schwererer genetischer Belastung und zieht ein noch in Entwicklung begriffenes Hirn in Mitleidenschaft.
Das Erscheinungsbild einer psychischen Erkrankung, der wesentliche Hirnfunktionsstörungen zugrunde liegen, wird auch von der Verarbeitungsfähigkeit der funktionsfähig gebliebenen Hirnanteile mit geprägt. Ein Teil der Altersunterschiede der Symptomatik geht so auf den unterschiedlichen Reifestand des Gehirns und der Persönlichkeit in den verschiedenen Lebensaltersphasen zurück. Bei den kindlichen Psychosen kommt es meistens zu einer elementaren psychischen Verstörung mit schweren Ängsten, wechselnden Sinnestäuschungen und unzusammenhängenden Wahnideen, eingebettet in eine mentale Desorganisation mit erheblichen Störungen von Denken, Sprache und Verhalten.
Im Gegensatz dazu führt der Einbruch einer Psychose im hohen Lebensalter bevorzugt zu einer paranoiden Wahnsymptomatik bei klarem Verstand, die oft zu einem komplexen Wahnsystem mit exterritorialer Abwehrfunktion – d.h. Projektion der Ursachen unerwünschter Gedanken und Gefühle nach außen – ausgebaut wird. Die Kluft zwischen Wahn und Wirklichkeit wird mit rationalen Konstruktionen wegerklärt. Desorganisation und schwere Ich-Störungen mit ernster Beeinträchtigung mehrerer mentaler Funktionen wie bei kindlichen Psychosen treten im hohen Lebensalter in der Regel nicht mehr auf, es sei denn, die Krankheit wird von einem neurodegenerativen Prozess wie bei der Alzheimer-Krankheit begleitet. Mit der abgeschlossenen Hirnreife und der verfestigten Struktur der Persönlichkeit ist im Laufe eines langen Lebens in der Regel eine Stabilität herangewachsen, die von einer Schizophrenie nicht mehr fundamental beeinträchtigt oder gar zerstört werden kann. Es bleibt deshalb im Alter meistens bei rational eingekleideten Sinnestäuschungen und wahnhaften Fehlurteilen. Persönlichkeit und Intelligenz bleiben oft unberührt, so dass der Kranke sein geordnetes Leben weiterführen kann, was von E. Bleuler als «doppelte Buchführung» beschrieben wurde.
Nicht nur die Schwere des Leidens, sondern auch seine Folgen werden vom Alter bei Ausbruch der Krankheit mit bestimmt. Ein früher Krankheitsbeginn ereignet sich häufig in einer sensiblen Periode persönlichen und sozialen Aufstiegs. Führt er zum Abbruch von Schule, Ausbildung oder Partnerschaft und erlaubt es die Krankheit nicht mehr, das Verlorene aufzuholen, bleibt es beim Verlust wesentlicher Lebenschancen. Der erreichte persönliche und soziale Status bei Krankheitsausbruch ist deshalb für die weitere persönliche und soziale Karriere und damit für die Prognose der Krankheit von großer Bedeutung. In Kulturen mit gleichen Bildungschancen haben Frauen, die im Mittel einige Jahre später erkranken als Männer, insoweit einen Vorteil, denn ihre Ausbildung und Entwicklung sind bei Krankheitsausbruch weiter gediehen, zumal sie in Deutschland bisher etwa zwei Jahre früher heiraten als Männer. Früh schizophren erkrankende Männer verbleiben dagegen häufiger auf einer niedrigeren Stufe sozialer Entwicklung und einer lebenslang niedrigeren Ehehäufigkeit als Frauen.
Während eine schwere schizophrene Erkrankung in jüngerem Alter den sozialen Aufstieg beeinträchtigen kann, bringt sie später das Risiko des sozialen Abstiegs, des Verlusts von Arbeitsplatz, Rang und Ansehen mit sich. Im späten Alter jedoch, wenn die soziale und die ökonomische Position – etwa durch stabile Partnerschaft und Rente – unverlierbar geworden sind, droht in der Regel kein sozialer Abstieg mehr. Alterspsychosen haben deshalb eine gute soziale Prognose. Aber in allen anderen Altersabschnitten des Lebens sind die therapeutische und die rehabilitative Minderung der sozialen Risiken eine wichtige Aufgabe; denn noch mehr als unter den Krankheitssymptomen leiden die Kranken und ihre Angehörigen unter sozialen Einbußen.
Die dargestellten Zusammenhänge machen deutlich, dass einmal biologisches Alter und Geschlecht, zum anderen altersabhängige und biographisch determinierte Umweltfaktoren mit dem neurobiologischen Krankheitsgeschehen interagieren. Von seiner Auslösung durch heterogene Faktoren abgesehen, scheint das Kernsyndrom der Krankheit selbst einheitlicher und von Umweltfaktoren unabhängiger zu sein. So leiden etwa Männer und Frauen an derselben Kernsymptomatik der Schizophrenie. Untersucht man nur schizophren erkrankte Zwillinge oder jeweils zwei oder mehrere erkrankte Verwandte ersten Grades vergleichend, so verschwindet der mehrere Jahre betragende Geschlechtsunterschied im Ersterkrankungsalter. Offenbar überwindet die stärkere genetische Determinante des Krankheitsrisikos die neurohormonelle Schutzwirkung des Östrogens.
4.3 Vom Krankheitsausbruch bis zur ersten psychotischen Episode
Prodromalphase und Frühverlauf
Der Mehrzahl schizophrener Ersterkrankungen geht ein mehrjähriges Vorstadium voraus. Nur weniger als 20% der Psychosen treten so akut auf, dass zwischen dem Ausbruch der ersten Symptome und dem Höhepunkt der Psychose nicht mehr als vier Wochen vergehen. In zwei Drittel aller Erkrankungen geht dem Höhepunkt der ersten Episode eine mindestens einjährige Verlaufsphase voraus. Sie lässt sich in eine vorwiegend durch depressive, negative und unspezifische Symptome, häufig auch durch kognitive Beeinträchtigung charakterisierte präpsychotische Prodromalphase sowie eine psychotische Vorphase gliedern. Die Letztgenannte beginnt mit dem Auftreten des ersten psychotischen Symptoms. Sie ist durch die mehr oder weniger rasch zunehmende Zahl und Intensität psychotischer Symptome beim Weiterbestehen der nicht psychotischen Prodromalsymptome gekennzeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass die ungünstigen Folgen der Krankheit, vor allem soziale Behinderung und berufliche Beeinträchtigung, meist nicht erst nach langem Krankheitsverlauf, sondern bereits im Prodromalstadium und in der ersten Krankheitsepisode eintreten.
In Tabelle 4 sind die zehn häufigsten ersten Symptome der Schizophrenie aufgelistet. Psychotische Zeichen sind nur in 6,5% als erste Symptome zu finden. Angst, Unruhe und depressive Verstimmung sind die häufigsten Initialsymptome.
Tabelle 4: Die ersten Zeichen einer schizophrenen Erkrankung nach Häufigkeit verglichen mit «gesunden» Kontrollpersonen aus der Erhebungsregion (Symptome mit Rangplatz 1–10 in einer der beiden Gruppen)[14]
Die Prodromalphase geht also meist mit ansteigenden affektiven, negativen und später mit positiven Symptomen und mit funktioneller Beeinträchtigung und kognitiven Dysfunktionen einher. Tabelle 5 zeigt die Prävalenzraten und Häufigkeitsränge der zehn häufigsten Symptome vom...