Im Vorübergehen las ich den Aufmacher einer Zeitung: »Zweckehe oder wahre Liebe?« Bei näherer Betrachtung ging es dabei um eine politische Koalition zwischen SPD und Grünen. Aber die Schlagzeile stammt aus unserem Beziehungserleben. Genau so denken wir. Wahre Liebe hui, Zweckehe pfui. Doch unsere ganz gewöhnliche Lebensgemeinschaft ist beides. Sie hat einen doppelten Charakter, sie ist einerseits Liebesbeziehung, andererseits Partnerschaft. Was sich heftig widerspricht. Wie sollen die wilde, ungezügelte leidenschaftliche Liebe und die ausgewogene, faire und aushandelnde Partnerschaft eins werden? Nachts fessele ich dich ans Bett. Und morgens erklärst du mir, dass ich dich nie wieder ans Bett fesseln darf, wenn ich nicht das Altglas wegbringe.
Und wie wollen wir eigentlich mein Bedürfnis nach persönlicher Selbstentfaltung und dein Bedürfnis nach persönlicher Selbstentfaltung gemeinsam und gleichzeitig in einer Neubauwohnung in Hamburg-Altona verwirklichen? Wenn ich dreimal die Woche zur Bandprobe gehe, dann ist das meine Lebensqualität, aber du vermisst mich. Du brauchst deine Puppensammlung und deine Freundinnen unbedingt um dich, aber ich werde dabei wahnsinnig. Wir wissen nicht, wie das gehen soll. Wir wissen nur, wie wir unsere Liebesbeziehung innerhalb von zwei Wochen zerlegen könnten. Wir könnten uns fragen: »Was müsste ich tun, damit unsere Beziehung mit Sicherheit so schnell wie möglich zu Ende geht?« Und dann genau das alles nicht tun. Ungefähr so funktioniert Beziehungsarbeit.
Eine Liebesbeziehung fühlt sich wie ein unlösbares Zen-Koan an. »Welchen Laut macht das Klatschen einer Hand?« erscheint leichter zu beantworten zu sein als »Wie werde ich in meiner Liebesbeziehung zufrieden?« Besonders heute. Denn wir haben gewaltige Ansprüche. Wir möchten unsere Wünsche wirklich alle erfüllt bekommen. Zu einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis. Wir leben im Gefühlsrausch glücklicher Konsumenten, die ein Recht auf Erfüllung zu haben glauben. Wir sind gar nicht so unzufrieden mit unserem Liebesleben. Wir sind unzufrieden, weil wir glauben, ein weitaus besseres finden und noch glücklicher leben zu können. Wir ruinieren unsere Beziehungen weniger durch Bindungsangst oder emotionales Analphabetentum als durch die fixe Idee, dass eigentlich eine viel großartigere Beziehung für uns irgendwo auf uns warten könnte.
Wir wollen das Unmögliche. Und das ist immer zu unterstützen, besonders in der Liebe. Denn wie Eugene O’Neill schrieb: »Wer nach Erreichbarem strebt, der soll verdammt sein, es zu bekommen.« Doch das Unmögliche ist nicht, sich den begehrtesten Junggesellen Hollywoods gleich von der Leinwand zu pflücken. Das Unmögliche ist eine ganz durchschnittliche, stinknormale langjährige Liebesbeziehung zu führen und dabei nicht an den eigenen unendlichen Ansprüchen zu scheitern. Ein Applaus für alle, denen dies gelingt!
In 92 Prozent aller untersuchten Gesellschaften wurden romantische Gefühle gefunden. Aber deswegen zu heiraten, wie wir es tun, ist verwegen. Dieses Ideal hat sich erst vor 200 Jahren in der Romantik entwickelt und nur in Europa als Reaktion auf die Verunsicherungen durch die Industrielle Revolution. Im Mittelalter zum Beispiel war ein Mann, der seine Frau wirklich liebte, eher Ziel von Hohn und Spott. Und Liebe als sexuelle Leidenschaft auszuleben, galt im 16. Jahrhundert als gefährlich und musste vermieden werden. Wir sind Gefangene unserer Zeit. Liebe ist immer auch Zeitgeschichte. Sie war und ist kein einfaches Gefühl. Liebe ist ein komplexes Erleben, das sich aus Vorstellungen, Wünschen, Emotionen und Fantasien zusammensetzt. Sind Bindung, Fürsorge und Sexualität die Elemente einer Liebesbeziehung? Oder Leidenschaft, Intimität und Verbindlichkeit? Wir können voller Schmerz und Trauer Liebe fühlen. Wir können in größter Freude Liebe fühlen. In rasender Leidenschaft, in stillem Mitgefühl. Das Gefühl an sich ist dabei nicht immer angenehm. Liebe hat dunkle Seiten. Liebeskummer, Betrug, Eifersucht, unerfüllte Sehnsucht, tiefe Einsamkeit. Verdammt, was ist Liebe und wie lebt man sie?
Wir können in anderen Kulturen sehen, dass es ganz andere Wege gibt, Liebe zu leben: Vielehen, arrangierte Ehen, institutionalisierte Geliebte. Aber ob dabei eine bessere Lösung gefunden wurde als unsere? Wir werden das nie wissen. Es ist auch unwichtig. Denn wir sind dabei, die falschen Fragen zu stellen. Wir wollen immer wissen, wie es geht. Wie es richtig geht. Wie die Lösung aussieht. Dass wir auf manche Fragen keine Antwort bekommen, finden wir unerträglich. Wir wollen nicht akzeptieren, dass keine Antwort zu finden auch eine Antwort ist. Und das dürfte ganz eindeutig eine Zeitkrankheit sein, die unser wissenschaftlicher Fortschritt mit sich bringt. Für jedes Problem finden wir eine Lösung. Gletscher schmelzen? Decken wir sie eben mit Folien zu. Wir pusten zu viel O2 in die Luft? Dann pressen wir es eben in die Erde. Wir wollen wissen, wie das Wetter am anderen Ende der Welt ist. Schalten wir unser Smartphone ein. Unsere Frau ist enttäuscht von uns. Tja, dann haben wir ein Problem. Oder wir suchen eine App. Die Meine-Frau-ist-enttäuscht-von-mir-App. Die App wird es bald geben, falls es sie nicht schon gibt. Aber die Antwort werden wir dort nicht finden. Die finden wir nur bei unserer Frau, mit unserer Frau. Im guten alten Miteinandersein, das so verdammt komplex und schwierig ist. Auf unserem eigenen Weg, der allein schon deshalb so holprig ist, weil was eben noch galt, jetzt schon wieder nicht zutrifft. »Man kann sich zwar aussuchen mit wem man lebt, aber nicht was aus ihm wird«, schreibt der amerikanische Schriftsteller David Vann. Das Leben ist eine Baustelle, wir spüren es nirgendwo mehr als in der Liebe. Wenn wir wirklich Jahrzehnte miteinander verbringen, leben wir nicht eine, sondern eine ganze Reihe von Beziehungen, und alle Lösungen, die wir miteinander gefunden haben, gelten dann wieder nicht mehr, und wir stehen immer wieder vor neuen Fragen.
Es geht also darum zu akzeptieren, dass es keine Antworten und keine Norm gibt. Wir haben die Wahl. Jedes Paar lebt anders. Das ist auch die Einsicht der Paarforschung. Jedes Paar wird auf seine Weise glücklich. Es gibt Paare, die leben vergnügt damit, gar keinen Sex zu haben, andere schlafen jeden Tag miteinander. Manche streiten von morgens bis abends. Andere kehren alles unter den Teppich. Der so groß sein muss wie drei Fußballfelder. Aber solange sie es gemeinsam tun, ist alles cool.
Unsere jahrzehntelange monogame Ehe ist nur eine mögliche Lebensform von vielen. Und das moderne Leben, die ungeheuren Zwänge zu Mobilität und Flexibilität, sprechen sowohl dafür, dieses Modell weiter zu vertreten, als auch dafür, sich schleunigst davon zu verabschieden. Die Lebensformen wandeln sich, brechen auf. Die serielle Monogamie ist längst Normalität, genau wie die Patchwork-Familie. Und weil ständig immer mehr Flexibilität von uns gefordert wird und wir bald mehr Zeit mit Facebook-Freunden als mit realen Freunden verbringen, brauchen wir die feste, vertraute Bindung zu einem geliebten Partner mehr denn je. Und weil immer mehr Flexibiliät gefordert ist und wir bald mehr Zeit mit unseren Facebook-Freunden als mit realen Freunden verbringen, ist eine feste, vertraute Bindung zu einem geliebten Menschen eine anachronistische Fessel, die uns nur behindert.
Wir Menschen sind flexibel. Und wo sich das gute Leben versteckt hält, muss jeder für sich herausfinden. Gerade jetzt, wo sich unsere Gesellschaft durch die neuen Technologien so dramatisch verändert. Diesmal verändert sich nicht, wie schnell wir von Stuttgart nach Ulm kommen, wie es der Otto-Motor tat. Diesmal verändert sich direkt, wie wir unsere Beziehungen leben. Wir haben keine Ahnung, was es mit uns machen wird, dass mit einem »Wisch« auf Tinder endlos neue Beziehungspartner auftauchen. Dass wir unsere Sehnsüchte nicht mehr aufsparen müssen, sondern den anderen ständig erreichen können. Dass wir immer mehr voneinander erfahren und uns bald lückenlos gegenseitig überwachen können. Dass jeder schon als Achtjähriger per Mausklick zwei Milliarden Sites zu Sex und Porno abrufen kann. Dass interkulturelle Paare die Regel werden. Und wir ständig den Herzschlag unseres Liebsten auf unserer Smart-Watch pulsieren sehen können. Und dass wir zu jedem Beziehungsproblem endlos Lösungen oder Ratschläge googlen können. Gerade das bringt mit sich, dass wir als Liebende letztlich immer unglücklicher miteinander werden. Denn wir vergleichen uns schon längst nicht mehr allein mit unseren Freunden Biggi und Olli, sondern mit der ganzen Welt. Wir bekommen das Gefühl zu versagen angesichts all der Beispiele von Paaren, die ihre Beziehungsprobleme gelöst zu haben scheinen, die happy Promi-Pärchen, die uns mit ihren gebleachten Zahnreihen anstrahlen. Und wir sind wieder so genervt voneinander, dass wir froh sind, wenn das Wochenende endlich vorbei ist, und wir wieder arbeiten gehen können. Ständig werden wir mit neuen Erkenntnissen über die Liebe konfrontiert und mit dem Druck, sie umzusetzen. Ein Forschungsergebnis besagt, dass in stabilen Beziehungen auf eine negative Interaktion fünf positive kommen – 1 : 5. Leicht zu merken. Aber zählen wir jetzt mit? Bekommt »gimme five« eine ganz neue Bedeutung? Geben wir fünf Streicheleinheiten vor und hauen unseren Partner dann einmal ganz gefahrlos so richtig in die Pfanne?
Oder: Verheiratete Menschen sind glücklicher als Nicht-Verheiratete. Aber was ist der Zusammenhang? Sollten wir deshalb unbedingt heiraten? Oder könnte es nicht auch sein, dass einfach niemand Bock hat, miesepetrige, unglückliche Menschen zu ehelichen? Die Liebe währt nicht ewig, weil wir begriffen haben, wie man den...