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E-Book

Schluss mit dem täglichen Weltuntergang

Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren

AutorProf. Dr. Maren Urner
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783426454138
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Warum wir vor lauter News die Nachrichten übersehen - in ihrem Sachbuch erklärt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, warum uns die Informationsflut der modernen Medien überfordert und welche Auswege es gibt. Egal ob morgens in der Zeitung, abends im TV oder gleich den ganzen Tag im Liveticker auf dem Smartphone: Kriege, Skandale, Terroranschläge, Katastrophen. Der Welt scheint es so schlecht zu gehen wie noch nie, und in Zukunft wird alles noch schlimmer. Diese Sicht der Dinge drängt sich auf, wenn wir uns in den Medien über den Zustand der Welt informieren. Maren Urner warnt vor den fatalen Auswirkungen dieser Art von Berichterstattung: Wir sind ständig gestresst, unser Gehirn ist dauerhaft im Angstzustand, und unsere Sicht auf die Welt wird durch Schwarz-Weiß-Malerei und Panikmache verzerrt. So gewinnen wir keinen Überblick über die Geschehnisse, sondern bleiben überfordert und hilflos zurück. Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise erklärt die Autorin, was in der modernen Medienwelt schiefläuft und wie unser Steinzeithirn täglich von der digitalen Informationslandschaft überfordert wird. Als Gründerin von Perspective Daily berichtet Maren Urner aber auch von einer Alternative: von einem Online-Magazin, das lösungsorientiert berichtet. Als Neurowissenschaftlerin und Vorreiterin des Konstruktiven Journalismus in Deutschland erzählt sie von einer Berichterstattung, die uns nicht hoffnungslos zurücklässt, aber auch nichts schönreden will - inklusive interaktivem Crashkurs in kritischem Denken. Maren Urner studierte Kognitions- und Neurowissenschaften in Deutschland, Kanada und den Niederlanden und promovierte am University College London. 2016 gründete sie Perspective Daily mit, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. Seit April 2019 ist sie Dozentin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. »Sobald mich meine Berufskrankheiten Zorn, Angst oder Verzweiflung befallen, lese ich Maren Urner. Klug und mit frischer Schärfe zeigt sie, was ein verantwortungsvoller Journalismus leisten kann.« Hajo Schumacher

Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und seit September 2024 Professorin für Nachhaltige Transformation an der FH Münster und Studiengangsleiterin des neuen Masterstudiengangs Nachhaltige Transformationsgestaltung. Sie studierte Kognitions- und Neurowissenschaften, u. a. an der McGill University in Montreal, und wurde am University College London in Neurowissenschaften promoviert. 2016 gründete sie das erste werbefreie Online-Magazin Perspective Daily für Konstruktiven Journalismus mit. Sie leitete die Redaktion bis März 2019 als Chefredakteurin und war Geschäftsführerin. Nach ihrer Zeit bei Perspective Daily lehrte sie bis August 2024 als Professorin für Medienpsychologie an der Media University of Applied Sciences in Köln (ehemals HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft). Seit September 2020 ist sie Kolumnistin bei der Frankfurter Rundschau. Ihre drei Bücher Schluss mit dem täglichen Weltuntergang (Droemer 2019), Raus aus der ewigen Dauerkrise (Droemer 2021) und Radikal emotional: Wie Gefühle Politik machen (Droemer 2024) sind SPIEGEL-Bestseller. Sie ist Preisträgerin des B.A.U.M. Umwelt- und Nachhaltigkeitspreises 2023 in der Kategorie Wissenschaft.

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Leseprobe

Die Macht unserer Gewohnheiten


Richtig spannend wird es aber mit Blick auf meine und andere neue wissenschaftliche Ergebnisse, die klar zeigen, dass die Geschichte deines Gehirns – also alles, was du bisher in deinem Leben wahrgenommen und getan hast – beeinflusst, wie du Neues verarbeitest und lernst. Stärker noch: Was immer dein Gehirn in diesem oder jedem anderen Moment gerade tut, beeinflusst deine Wahrnehmung im nächsten Moment – also zum Beispiel, wie du die folgenden Zeilen dieser Buchseite liest und verarbeitest. In den Studien meiner Doktorarbeit konnte ich genau das zeigen. Also, dass sich die jeweils aktuelle Hirnaktivität und neue Erfahrungen unaufhörlich gegenseitig beeinflussen. Eben weil die aktuelle Aktivität in deinem Gehirn zu jedem Zeitpunkt beeinflusst, wie du die Welt wahrnimmst und wie du neue Erfahrungen verarbeitest. Umgekehrt bestimmt die vollständige Sammlung aller bisher gemachten Erfahrungen deine aktuelle Hirnaktivität.

Was sagt uns das? Dass die Aktivität deines Gehirns zu jedem Zeitpunkt eine wichtige Rolle dabei spielt, wie du die Welt wahrnimmst und Neues lernst.

Eine Gemeinsamkeit, die ich als Neurowissenschaftlerin mit vielen Journalisten teile, ist das Interesse an den Momenten, wenn etwas schiefläuft – oder sagen wir mal besser, nicht so läuft wie erwartet. In diesem Fall bedeutet das: Was passiert, wenn wir mit unseren Erwartungen über die Welt und wie sie funktioniert, falschliegen?

Dabei hilft ein einfaches Beispiel: Stell dir vor, du betrittst ein Krankenhaus, aber statt in Weiß gekleideten Ärzten und Pflegepersonal kommen dir lauter Frauen und Männer entgegen, die wie Rettungsschwimmer gekleidet sind. Das würde dafür sorgen, dass in deinem Gehirn ein kleines Feuerwerk neuronaler Aktivität zu beobachten wäre, die signalisiert, dass hier irgendetwas unerwartet – also falsch – läuft. Auch der Rest deines Körpers würde entsprechend überrascht reagieren, vielleicht würdest du wie angewurzelt stehen bleiben, die Rettungsschwimmer ungläubig anstarren und deine Kinnlade hinunterklappen.

Mit Blick auf die konstante Wechselwirkung zwischen aktueller Hirnaktivität und neuen Erfahrungen würde diese Erfahrung dein Gehirn und damit auch deine Erwartungshaltung verändern, wenn du das nächste Mal ein Krankenhaus betrittst. Angenommen, du besuchst dieses zunächst verwirrende Krankenhaus immer und immer wieder, würde sich mit jedem Mal deine Vorstellung, was ein Krankenhaus ist und wie es aussieht, verändern – genau wie dein Gehirn. Vielleicht würdest du sogar irgendwann automatisch Badesachen einpacken, wenn du dich auf den Weg ins Krankenhaus machst.

Genauso formen wir Gewohnheiten. Und die bestimmen unser Leben massiv: 50 bis 95 Prozent unserer Handlungen sind nichts anderes als Gewohnheiten.[23] Das untersuchten Wissenschaftler, indem sie ihre Probanden über längere Zeiträume jede Stunde aufschreiben ließen, was sie in den letzten 60 Minuten gemacht hatten, inklusive einer Bewertung, die den Wissenschaftlern erlaubte zu entscheiden: Gewohnheit oder nicht?

Wecker ausstellen, aufs Smartphone blicken, kurz strecken, Kaffeemaschine starten, Meerschweinchen füttern, Haare waschen. Würdest du jede dieser morgendlichen Handlungen in einem Tagebuch notieren, stelltest du fest: Die meisten Dinge, die du tust, laufen automatisch ab, also ohne dass du viel darüber nachdenkst.

Dabei sind Gewohnheiten mehr als bloßes sich wiederholendes Verhalten: Sie benötigen eine geringe bis gar keine bewusste Kontrolle, werden also durch relativ automatische Vorgänge gesteuert, die minimales Nachdenken erfordern. Nicht nur verhältnismäßig einfache Dinge, wie das Tippen auf einer Tastatur, Kochen und Radfahren, können zur Gewohnheit werden, sondern auch komplexe Zusammenhänge, wie das Frühstücksgespräch zwischen dem lang verheirateten Ehepaar, das trotz laufenden Radios und Zeitungslektüre mühelos gelingt.

Schon die Bandbreite zeigt: Gewohnheit ist nicht gleich Gewohnheit, und die Frage, wie lange es dauert, bis eine Gewohnheit zu einer solchen wird, hat in der populärwissenschaftlichen Literatur schon für das eine oder andere Gerücht gesorgt. Allen voran die 21-Tage-Hypothese, die auf Ergebnissen aus der plastischen Chirurgie beruht: Nach Operationen, die das eigene Aussehen verändern, benötigen Patienten durchschnittlich 21 Tage, um sich an ihre neue Nase oder ihren amputierten Arm zu gewöhnen.[24] Daraus schlossen findige Journalisten, dass neue Gewohnheiten generell nach 21 Tagen etabliert sind. Ganz unabhängig davon, dass unsere Gewöhnung an das eigene Spiegelbild wenig mit Gewohnheiten zu tun hat.

Tatsächlich kann es sehr unterschiedlich lang dauern, bis sich eine Gewohnheit einstellt. Das hängt nicht nur von der Tätigkeit ab, die zur Gewohnheit wird oder werden soll, sondern auch von der jeweiligen Person und anderen äußeren Faktoren. Jeden Morgen ein Glas Wasser zu trinken wird für die meisten Menschen schneller zur Gewohnheit, als täglich 50 Sit-ups zu machen. Die realistischere Einschätzung, wie lange es braucht, bis sich eine neue Gewohnheit in unserem Gehirn verankert hat, lautet: 18 bis 254 Tage.[25] Außerdem gilt: Je stärker eine Gewohnheit ist, desto schwieriger können wir sie ändern oder verlernen.

Eine einzelne Gewohnheit allein – egal ob das morgendliche Strecken oder das Anstellen der Kaffeemaschine – hat keine große Bedeutung. Doch in ihrer Summe bestimmen sie uns und unser Leben. Sie definieren unsere Kommunikation mit Freunden und Familie, unsere Freizeitplanung, wofür wir unser Geld ausgeben und wie wir unsere Gedanken organisieren. Sie sind die Dinge, die wir uns irgendwann mal bewusst überlegt haben zu tun – und die wir dann automatisiert haben. Ausgelöst wird eine Gewohnheit immer in einer bestimmten Umgebung – oder wissenschaftlicher ausgedrückt: dem Kontext.

Das kann das Geräusch des klingelnden Weckers sein, der Duft von frisch gebackenen Brötchen oder ein bestimmter Ort wie die Straßenkreuzung an der Bushaltestelle, an der du wie von selbst abbiegst.[26] Bleibt die Frage, wie etwas zur Gewohnheit wird. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Wiederholung eines Verhaltens in einem bestimmten Kontext dafür sorgt, dass nach einiger Zeit der Kontext allein ausreicht, um das Verhalten auszulösen. Wenn du also lange genug jedes Mal nach dem Aufstehen die Laufschuhe schnürst, reicht irgendwann der klingelnde Wecker aus, um dich scheinbar ferngesteuert deine Schuhe anziehen zu lassen – selbst wenn du keine Motivation oder Lust verspürst, durch den morgendlichen Nieselregen zu laufen. Sprich: Du hast eine neue Gewohnheit. Und die lässt sich auch im Gehirn messen. Zum Beispiel bei Ratten und Affen.

Eine neue Gewohnheit entsteht im Gehirn


In den 1990er-Jahren begannen Wissenschaftler mit Ratten zu untersuchen, wie Gewohnheiten entstehen.[27] Dafür setzten sie die Nager in ein kleines Labyrinth, an dessen Ende Futter lag. Die Ratten begannen also sich auf die Suche nach dem Futter zu machen, und bei ihren ersten Entdeckungstouren feuerten verschiedene Areale im Gehirn auf Hochtouren. Neue Gerüche und andere Sinneswahrnehmungen wurden vom Gehirn verarbeitet, erste Gedächtnisspuren gespeichert.

Nach nur einer Woche nahmen diese Hirnaktivitäten allerdings rapide ab. Die Ratten hatten das Labyrinth kennengelernt und navigierten auf direktem Wege zum Futter. Wie aber wird daraus eine Gewohnheit?

Um dies zu verstehen, trainierten Wissenschaftler Affen so, dass diese immer dann an einem Hebel ziehen, sobald sie auf einem Bildschirm vor ihnen einen bunten Kreis oder andere geometrische Formen entdecken. Ziehen sie zum richtigen Zeitpunkt am Hebel, erhalten sie einige Tropfen süßen Brombeersaft als Belohnung.[28]

Dazu musst du wissen: Affen lernen schnell und gewöhnen sich an die süße Belohnung. Sie gewöhnen sich so stark daran, dass die Aktivität der Nervenzellen in den Hirnarealen, die auf die Belohnung reagieren, sich verändert. Zu Beginn des Experiments, also wenn die Affen noch in der Lernphase sind, sind die Gehirnzellen erst aktiv, nachdem der Brombeersaft im Mund des Affen angekommen ist. Haben die Affen die Aufgabe gelernt und sich daran gewöhnt, dass sie, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt am Hebel ziehen, leckeren Brombeersaft erhalten, dauert es nicht lang und die Nervenzellen sind aktiv, bevor der Saft im Mund des Affen landet. Das Gehirn beginnt also die Belohnung zu erwarten.

Und wehe, es kommt dann kein Brombeersaft aus dem Schlauch, und das Verlangen des Affen wird nicht gestillt! Je nachdem, wie stark die Gewohnheit schon im Gehirn verankert ist, bleibt ein unruhiger und wütender Affe zurück, der in seinem Frust selbst die Möglichkeit, mit seinen Kollegen zu spielen, vernachlässigt. Seine Erwartung, süßen Saft zu bekommen, geht vor.

Dieser kleine wissenschaftliche Exkurs mit Ratten und Affen zeigt: Gewohnheiten sind Segen und Fluch zugleich. Die Frage ist also: Nutzt diese »Automatik des Seins« unserer Gewohnheiten uns mehr, als dass sie uns schadet? Wie bei fast allen Dingen im Leben gibt es auch hier keine einfache Schwarz-Weiß-Antwort. Denn unsere Routinen sind nicht nur »gut« oder nur »schlecht«.

Gewohnheiten sind Segen!


Was wäre unser Leben kompliziert, wenn wir jeden Morgen erneut darüber nachdenken müssten, wie wir unser T-Shirt überstreifen können, unsere Zahnbürste halten müssen und wie die...

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