1. Steter Tropfen höhlt den Stein … – Könnten diese Zeilen das Recht, sich frei zu bilden, eröffnen?
In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.
Voltaire (eigentl. François-Marie Arouet) 1694-1778
Seltsam: Wenn von Bildung gesprochen wird, denken die meisten an Schule. Und oft genug an deren Versagen. Diese so üblich und normal gewordene Verwechslung von Bildung und Schule ist ebenso erstaunlich wie die Gleichsetzung von Gesundheit und Medizin oder von Kommunikation und Telefon.
Indem Bildungsfragen üblicherweise als Schulfragen verstanden werden, verkommen sie zu pädagogischen Angelegenheiten, über die zu entscheiden bestimmte Personen sich besonders berufen fühlen: zuvörderst die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen pädagogischen Richtungen, die Schulbürokraten, die Lehrerschaft, die Eltern. Auch die Politik greift hie und da Fragen der Bildung auf: beispielsweise wenn ein gutes Thema für eine unverbindliche programmatische Rede benötigt wird oder, vor allem, wenn Wahlkampf herrscht.
Den Medien scheint die Bildung dann ein besonderes Thema zu sein, wenn ihnen die Schule wieder Anlaß gibt, die deutsche Bildungskatastrophe zu beklagen: Wenn eine neue internationale Untersuchung das schulische Versagen offenbart; oder wenn die Gelegenheit gegeben ist, sich an Merkmalen wie der schulischen Gewalt zu laben.
Auch die Wirtschaftsverbände greifen Bildungsfragen auf, um der Schule ihre Not mit dem Nachwuchs zuzuschreiben.
Die Aufzählung jener, die das Thema Bildung mißbrauchen und daraus eine Schulfrage machen, ließe sich fortsetzen. Und ebenfalls die Aufzählung jener, die ein Versagen der Schule zum Anlaß nehmen, deren Verbesserung zu fordern – als ob dies der Forderung nach Bildung und ihrer Förderung gleichkäme!
Schulkritik? Sie ist wahrlich so alt wie die Schule selbst und hat sich allem Anschein nach als modisches Diskussionsthema fest etabliert – ohne daß durch die lange Tradition diese Schulkritik an Stringenz gewonnen hätte!
Woran liegen solche Mißstände? solche Mißverständnisse? Vielleicht tragen zwei emotionale Belastungen, die – wie mir scheint – Verschulte lebenslang mit sich schleppen, zum allgemeinen Unbehagen bei:
• Einerseits müssen die eigenen schulischen Erinnerungen weitgehend verdrängt bleiben oder verbrämt werden.
Hierbei gilt es, eine interessante Beobachtung zu analysieren. Wenn ich Erwachsene nach ihren eigenen schulischen Erfahrungen befragte, offenbarten sie nicht selten ein in der Schule empfundenes Unbehagen, dessen Ursachen so vielfältig wie die Personen waren: einmal war es ob der »gemeinen« Mitschüler, ein andersmal ob einer Lern-Unlust; hier ging es um Langeweile und Sinnlosigkeit, weil der Stoff so öd und blöd war; da um »unfaire« Abfragen oder um Prüfungen mit ungerechten Benotungen; dort um gemeine Lehrer, deren damals wahrgenommenes Verhalten sie heute als subtiles Mobben bezeichnen würden… Entscheidend ist allerdings, welche emotionale Strategie sie einst, als Betroffene, entwickelten, um mit dem »zwangsbeglückenden Schulzwang« zurechtzukommen. Da beispielsweise selbst die wohlmeinenden Eltern zu Verbündeten des schulischen Systems werden – muß die Tatsache, daß sie sich nicht als solidare und verläßliche Verbündete ihrer Tochter oder ihres Sohnes verhalten, nicht als Verrat empfunden und bewertet werden? -, müssen innerhalb der unentrinnbaren Lage »Fluchtwege« gefunden werden. Diese sind nicht selten das, was in der Psychologie als »Identifikation mit dem Aggressor« bezeichnet wird: nicht allein sich unterwerfen, sich anpassen, sich in sein Schicksal fügen; sondern geradezu darauf stolz sein, dafür sogar gelobt und anerkannt zu werden. Das wirklich empfundene subjektive oder objektive Leid wird strategisch verdrängt, zurecht gebogen, schließlich gerechtfertigt (»rationalisiert«).
Kein Wunder also, daß das Befragen von Erwachsenen nach ihren Schuljahren sehr unterschiedliche Reaktionsweisen offenbart: Von jenen, die immer schon erfolgreich waren und es heute noch sind und die nun das System loben; über jene, die zwar gelitten haben, aber ihrem Leid nun einen positiven Sinn geben wollen, indem sie es umkehren – vielleicht indem sie in der Schule blieben und Lehrer wurden, gar vom Impetus getragen, es nun besser zu machen?; hin zu jenen anderen, die vieles haben vergessen müssen, um, dank der Strategie des Ignorierens, zu überleben. Nur selten gestehen befragte Erwachsene Gefühle von Wut, Zorn, Trauer, Verlust – aus denen ein Verhalten von mitfühlender Solidarität mit jenen, die es gegenwärtig trifft, abzuleiten wäre!
Als dramatisch betrachte ich allerdings die Folgen jener notwendigen, also Not-abwendenden emotionalen Spaltung: Schulkritische Positionen werden gar nicht zugelassen, geschweige denn als innovativ rezipiert; nein, sie werden so empfunden, als ob es sich um Angriffe auf die geleistete Verdrängung handelte – und entsprechend heftig abgewehrt. So wie bei anderen tabuierten, vorurteilsbeladenen Fragen auch, werden selbst Fakten und Argumente keinen ruhigen, sinnvollen, konstruktiven Austausch ermöglichen…
Insofern wende ich mich vor allem an Menschen, die, nachdem sie ihre eigene – insbesondere schulische – Biographie »geklärt« haben, nun dazu fähig und willig sind, aus der – gewalttätigen und nachweislich unsäglich dummen – Institution Schule auszubrechen: entweder weil sie sowohl emotional wie ratio-nal sich mit betroffenen jungen Menschen, die sich der Schule verweigern, solidarisch verhalten; oder weil ihre Ahnung, ihre Vision oder ihr Wissen, daß Bildung viel sinnvoller anders zu gestalten ist, sie bewegt, statt ewig sinnlos zu reformieren endlich originell und innovativ zu sein: auch für sich selbst…
• Andererseits bedingt die Tatsache, daß es um den Nachwuchs und dessen Zukunft geht, das Aufkommen von zwar unwillkürlichen, aber fast unweigerlichen Erwartungen; um diese rechtfertigen zu können, wird auch lauthals verkündet, unsere Kinder sollen es doch besser haben – und diese Zukunft solle bitte sehr eine gute Schulbildung gewährleisten! Ist es erlaubt und angebracht, solch ach wie wohlmeinende Illusionen infragezustellen?
Wie bedauerlich ist es, gerade dieses Thema dermaßen zu belasten! Wollten wir nämlich Innovatives ermöglichen, müßten wir zunächst uns von so manchen uneinlösbaren Versprechungen, von ideologischen Erwartungen und von falschen Vorzeichen verabschieden, welche das Prospektive verstopfen; und wir müßten erkennen, daß just diese Frage nach persönlichem und kreativem Engagement ruft, zumal dieses Engagement dem Anliegen dient, es geradezu fördert und ermöglicht!
Zugegebenermaßen würde ich diese so radikale und kritische Infragestellung der schulischen Institution nicht wagen, wenn sie wenigstens erfolgreich wäre: entweder hinsichtlich der »Brauchbarkeit« der vermittelten Kenntnisse; oder hinsichtlich der totalen Erziehung, so daß viele der auf ihre subtile Manipulation sogar stolzen Betroffenen zumindest glücklich wären. Ist dem so? Offensichtlich nicht! Wieviele – heute junge – Menschen sollen noch auf dem Altar der ideologischen Tabus »geopfert« werden, weil dieses Versagen der Schule inzwischen die Grenzen des Hinnehmbaren und Vertretbaren zwar überschreitet, die verblendeten »zivilisierten« Erwachsenen dies aber ignorieren? Das gewiß schmerzvolle Anerkennen ist allerdings die Voraussetzung für radikalere, vor allem sinnvolle, menschliche und logische Schritte.
Zweifelsohne mangelt es nicht an Menschen, die mit aufopferungsvollem Heroismus versuchen, die Schule zu reformieren, sie zu verbessern. Ich halte dies für völlig fehl am Platze! Weshalb? Weil die schulische Institu-tion und der frei sich bildende Mensch aus meiner Sicht schlicht unvereinbar sind. Und statt des m. E. widersinnigen Versuchs, die Schulprobleme beispielsweise reformerisch anzugehen – solche Unlösbarkeit bezeichne ich, trotz aller guten Absicht, dennoch als »Quadratur des Kreises« oder als Sisyphusarbeit -, denke ich, daß jeder sensible, an Lebendigkeit, Freiheit und Würde interessierte Mensch sich selbstverständlich der Frage widmen wird, welche Bedingungen den Prozeß des sich bildenden Subjekts und der bildungsfreundlichen Kultur optimieren können. Eröffnet nicht just dieser grundlegende Wandel im Verständnis von Bildung und ihres Erfahrens neue, originelle Horizonte? Diese Reflektion 1 möchte Sie also zu einer Wanderung in eben diese Richtung einladen, gemäß dem chinesischen Motto: »Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt!«
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Aus Gründen der Deutlichkeit habe ich an einigen Stellen sprachliche Verkürzungen und Vereinfachungen benutzt. Selbstverständlich bin ich mir der Gefahr bewußt, daß einzelne Personen, die eine wohltuende Ausnahme bilden, sich durch Verallgemeinerungen verletzt fühlen könnten, weil pauschale Aussagen gewiß Unrecht tun. Dennoch: so herzensgut eine Lehrerin, ein Arzt, eine Polizistin, ein Richter… sein mag: beschreibt diese Berufsbezeichnung nicht vor allem eine eingegangene Bindung an einen Beruf und dessen Zwänge? Daher ist hier nicht die Person und ihre Qualität, vielleicht auch ihr eigenes Leiden unter den Bedingungen ihres Berufs gemeint, sondern der Beruf als Funktion in einem Zusammenhang mit den jeweiligen Institutionen. Erfahrungsgemäß wage ich zu bezweifeln, daß eben diese Institutionen an sich willig und fähig sind, Menschlichkeit, Lebendigkeit, auch Würde zuzulassen oder zu fördern!
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Vielleicht wird sich manche Leserin oder mancher Leser darüber wundern, daß in einem 2006 publizierten Buch...