Aua!
Meine ersten wirklich hässlichen Schmerzerfahrungen durfte ich im Alter von fünfzehn Jahren machen: Die Weisheitszähne waren fällig, alle vier. Nach längerem Hin und Her – nur jeweils zwei Zähne operieren oder gleich alle vier, in Vollnarkose, weil sie allesamt noch im Kieferknochen sitzen, oder lieber doch nur in örtlicher Betäubung – überzeugte mich der Kieferchirurg letztlich mit den Worten: »Ich setz dir einfach ein paar kleine lokale Spritzen, da merkst du gar nichts und nach spätestens einer halben Stunde sind wir fertig.«
Dann lag ich da, auf diesem Folterstuhl, der ganz nach hinten gekippt war und der nette Doktor ging beherzt – sein eigenes Tun stets launig kommentierend – ans Werk. Während der ersten halben Stunde wirkte die lokale Betäubung noch ganz anständig und fast wäre auch schon der erste Zahn draußen gewesen, hätte er sich nicht mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt und Raffinesse fest in meinen Kiefer gekrallt. So hebelte der Chirurg mit seinem Werkzeug, das sich wie ein meterlanges Brecheisen anfühlte, wild in meinem Kiefer herum und fluchte – inzwischen gar nicht mehr so gutgelaunt, doch immer noch sehr mitteilungsbedürftig – immer wieder lautstark: »Scheißwurzel, wie soll ich das Drecksding da jemals rauskriegen? Hoffentlich bricht mir jetzt nicht der Kiefer!«
Letzten Endes musste die lokale Betäubung noch fünfmal nachgespritzt werden, weil die Dosierung nicht ausreichte und ich mich immer krampfhafter in die Lehne krallte, und – so gut das mit einem sperrangelweit geöffneten Mund und einer Brechstange darin eben geht – elendig vor mich hin wimmerte. Nach insgesamt zweistündiger Folter – alle vier Weisheitszähne mussten mit einer Spezialsäge im Kieferknochen zerkleinert und einzeln herausgepopelt werden – war ich dann endlich fertig, und zwar nach Ansicht des Arztes genauso, wie es mir im Vorfeld versprochen wurde: schmerzfrei, schnell und problemlos. Jedenfalls fast. Routine eben.
Das nächste nicht minder prickelnde Schmerzerlebnis hatte ich mit Anfang zwanzig. Nach der gefühlt 527sten eitrigen Mandelentzündung wurde mir wärmstens ans Herz gelegt, mir den Problemherd doch ein für alle Mal entfernen zu lassen, und so entschloss ich mich zu einer Mandeloperation. Blöderweise hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon knapp zwei Jahre Rettungsdienst als Zivildienstleistender hinter mich gebracht und wiederholt beobachten müssen, wie zum Teil sehr junge, sehr überforderte Notärzte im Eifer des Gefechtes und beim Versuch, Menschenleben zu retten, bei der Platzierung eines Schlauches in der Luftröhre mit dem dazu notwendigen Werkzeug – dem Laryngoskop (ein Spatel mit einer Lichtquelle, mit dem man die Zunge weghält und den Kehlkopfeingang beleuchten kann) – versehentlich den ein oder anderen Schneidezahn herausgehebelt hatten. Natürlich geht es bei einem Routineeingriff wie einer Mandeloperation nicht um Leben und Tod, aber die Vorstellung, ohne Frontzähne wieder aufzuwachen, war mir durch und durch unerträglich. Hinzu kam, dass mir meine Tante mit großer Begeisterung von einem Eingriff (ich glaube, an ihrem Knie) erzählt hatte, den sie erst kürzlich bei vollem Bewusstsein und nur unter regionaler Betäubung bei ihr vorgenommen hatten und den sie über einen Fernsehmonitor vollständig hatte mitverfolgen können. Ganz locker klopfte sie mir auf die Schulter und sagte: »Mensch Sven, du studierst doch Medizin, lass dir das örtlich betäuben, da hängen überall Spiegel, damit du alles sehen kannst. Schau einfach zu, wie sie dich operieren. Das ist total faszinierend.«
Am Vorabend der Operation, ich war schon im Krankenhaus eingecheckt, bestellte ich dann äußerst zuversichtlich und zum Erstaunen aller tatsächlich eine Operation in lokaler Betäubung. Der Professor schaute mich fragend an und sagte: »Sie sind der erste Patient, der das in den letzten zehn Jahren so haben möchte. Ich mache Ihnen das, aber eines sollten Sie wissen: Angenehm wird’s nicht! Außerdem haben Sie ein höheres Nachblutungsrisiko, weil wir Ihnen große Mengen an Betäubungsmitteln in und hinter die Mandeln spritzen müssen. Das drückt die Blutgefäße durch den Gewebsdruck zu, und wahrscheinlich blutet es während der Operation weniger, dafür kann es hinterher aber umso heftiger werden. Wollen Sie das immer noch?« Ja, klar wollte ich. Neugier gepaart mit der Gewissheit, dass ich so auf jeden Fall meine Schneidezähne behalten würde, ließen gar keinen Plan B zu.
Am nächsten Morgen ging es gutgelaunt in den Operationssaal. Zwei Stunden vor dem geplanten Eingriff hatte ich schon meine Leck-mich-am-Arsch-Tablette bekommen und war entsprechend relaxt. Was dann kam, war allerdings alles andere als entspannend: Mit einer unendlich langen Nadel wurden mir gefühlte tausend Liter Betäubungsmittel durch den Mund in die Rachenhinterwand geschossen. Zu meiner eigenen Sicherheit, damit ich während der Operation nicht reflexartig meinen Mund schließe, bekam ich einen Mundspreitzer aus Edelstahl in die Kauleiste gehakt, sozusagen eine Maulsperre. Die Spritzen hinten in den Rachen taten höllisch weh, und leider war die Betäubung auch nicht das, was man darunter vermuten würde. Zu allem Überfluss äußerte die erfahrene OP-Schwester, während der Arzt mit einem scharfen Löffel in meinen Gaumenbögen herumschabte, immer wieder ihre Bedenken: »Das gefällt mir gar nicht, der blutet zu wenig, der blutet viel zu wenig. Eijeijeijeijei, und dann ist er auch noch ein angehender Kollege. Ich hab kein gutes Gefühl, gar kein gutes Gefühl.«
Nach überstandener Prozedur kam ich zurück auf die Station. Langsam begann ich mich wieder zu entspannen und überlegte, welchen Trick ich anwenden könnte, um die unangenehmen Bilder und Geräusche der OP wieder aus meinem Kopf zu bekommen. Viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, denn ich merkte, wie mir plötzlich irgendeine Flüssigkeit hinten die Rachenwand herunterrann. Ich klingelte nach der Schwester, die schaute mit der Taschenlampe in meinen Hals, sagte: »Auweia, das sieht nicht gut aus«, und hängte mir ein blutgerinnungsförderndes Medikament an. Zehn Minuten später hatte ich einen massiven metallischen Geschmack im Mund und musste dauernd irgendetwas Ekliges herunterschlucken. Ich klingelte erneut. Als die Schwester mich fragte, was los sei, und ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schoss ihr spritzend arteriell und pulssynchron mit jedem Herzschlag eine kleine Blutfontäne entgegen. Keine zwei Minuten später fand ich mich, ohne jedwede Betäubung und bei vollem Bewusstsein im OP wieder, wo man mir zur notfallmäßigen Blutstillung ein Elektrolasergerät in die Blutungsquelle im Gaumen hielt. Ein scharfer Schmerz, wie eine Kombination aus Stromschlag und Messerstich, machte sich in meinem Rachen breit und eine dunkle Rauchwolke verbrannten Fleisches stieg aus meinem Mund auf. Die Blutstillung dauerte noch einmal etwa zehn bis fünfzehn Minuten. Wie gesagt, ohne jedwede Betäubung wurde mir im Rachen Gewebe verkocht, es wurden tiefe Umstechungen vorgenommen und beherzte Knoten in höchst empfindlichem Gewebe festgezurrt.
Als ich danach wieder auf die Station kam, wurden meine Blutwerte kontrolliert und siehe da, ich war von initial einem Hb von 16,9 auf einen Hb auf 8,3 heruntergeblutet. Hb ist die Abkürzung von Hämoglobin. Das ist der rote Blutfarbstoff und damit unser Sauerstoffträger im Blut. Er ist auch ein Marker für Blutverlust, das heißt, ich hatte in dieser kurzen Zeitspanne, von Beginn der Blutung bis zur Blutstillung, auf mein Körpergewicht bezogen (ich gehöre zur Gattung der »Ühus«, der über hundert Kilo-Menschen), rund zwei Liter Blut verloren. Ein wahrhaft einmaliges Erlebnis!
Da aller guten Dinge bekanntlich drei sind, fehlt noch eine letzte Geschichte: Ich war mittlerweile Anfang dreißig, stand kurz vor meiner Facharztprüfung und hatte Nachtdienst auf der Kinderintensivstation, als sich hinterrücks eine Mittelohrentzündung anschlich. Und was macht man natürlich als guter, pflichtbewusster Arzt in so einer Situation? Man schleppt sich trotz Schmerzen und Fieber auf die Arbeit! Ich hatte mich zwar mit Schmerzmitteln und Antibiotika ein wenig gedopt, allerdings führte mein falsch verstandenes Pflichtbewusstsein dazu, dass ich wenig später richtig auf der Schnauze lag und die Kollegen der Hals-Nasen-Ohren-Klinik mir eine Mittelohrentzündung diagnostizierten, die gerade dabei war, ins Innenohr durchzubrechen. Es erfolgte eine notfallmäßige ambulante Schlitzung beider Trommelfelle, das Absaugen von Eiter im Mittelohr, sowie die Einlage von sogenannten Paukenröhrchen, das heißt, zwei minikleine Goldröhrchen im Trommelfell, die die Belüftung des Mittelohres wieder herstellen sollten. Ein durchaus gängiges Verfahren bei vielen Kleinkindern, bei denen sich zum Teil zäher Schleim im Mittelohr sammelt, der zur Beeinträchtigung des Hörvermögens und auch der Sprachentwicklung beitragen kann. Die unsäglichen Worte des Kollegen vor der OP kamen mir irgendwie bekannt vor: »Das machen wir gleich hier und ambulant in lokaler Betäubung, das ist keine große Sache!« Ich bekam ein paar schmerzlindernde Kokain-Tröpfchen ins Ohr, kombiniert mit einer lokalen Betäubungsspritze. An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, dass es zumindest unter Fachleuten bekannt und unstrittig ist, dass in entzündetem Gewebe lokale Betäubungsmittel nicht oder allenfalls nur äußerst unzureichend ihre Wirkung entfalten können und auch von Kokain hatte ich mir, nach allem, was man aus der Boulevardpresse so hört, deutlich mehr erwartet. Im Nachgang kann ich sagen, dass ich alles, aber auch...