1
Vor dem Gerichtsgebäude warten sechs Überfallwagen der Berliner Polizei. Mehrere Beamte in Uniform schlendern über die Turmstraße, Walkie-Talkies in Händen und Wind im Gesicht. Der Seiteneingang unmittelbar neben dem Hauptportal ist von metallenen Absperrgittern flankiert. Die Tür wird nach dem Drücken eines Klingelknopfes geöffnet, ich darf einen Vorraum betreten, dessen andere Tür sich erst nach dem Schließen der ersten bewegt.
Ich stehe in einem kahlen Kontrollraum mit gekalkten Wänden und kahlen Lampen, mit Schließfächern, mit Kabinen für die Leibesvisitation. Ich muss meinen Personalausweis vorzeigen. Ich muss meinen Aktenkoffer abliefern. Ich muss sämtliche Gegenstände, die ich bei mir trage, auf die Tischplatte legen. Ich werde mit einem Metalldetektor abgesucht. Ich muss meinen Mantel und meine Jacke ausziehen, sie werden befühlt, während ein Beamter meinen Körper mit den Händen abtastet. Ich muss mich auf einen Stuhl setzen, meine Schuhe abstreifen, damit der Beamte auch meine Füße abtasten kann. Mein Aktenkoffer wird in ein Schließfach gestellt. Ich erhalte eine apfelsinenfarbene Papiermarke, als Beleg, man händigt mir außerdem eine grüne Papiermarke aus, die mir den Einlass ermöglichen soll.
Der Zuschauerraum des Verhandlungssaales 500 im Berliner Landgericht ist über eine steile Treppe zu erreichen. Der Justizbeamte an der Tür nimmt mir meine grüne Marke ab. Die Bänke sind kaum zur Hälfte besetzt, überwiegend von alten Leuten, sie sind weißhaarig, manche tragen ein Hörgerät. Auf den Pressebänken sitzen fünf Personen. Der Saal zeigt Stuck am Plafond und dunkles Paneel an den Wänden. Gläserne Sicherheitskabinen stehen links und rechts, aber sie bleiben leer, die Angeklagten und ihre Verteidiger sitzen an Tischen unmittelbar davor.
Es ist der 84. Verhandlungstag des Strafprozesses gegen Egon Krenz und andere. Von den ursprünglich sechs Angeklagten blieben nur mehr vier: Dohlus, Kleiber, Krenz, Schabowski, einstige Mitglieder des SED-Politbüros und in dieser Eigenschaft beschuldigt, für Tötungen und versuchte Tötungen an der innerdeutschen Grenze verantwortlich zu sein. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes wurden die ursprünglich mitangeklagten Hager und Mückenberger aus dem Prozess entlassen. Sie sind Greise von über achtzig. Auch die verbliebenen Angeklagten stehen alle im Rentenalter, die Richter und Beisitzer der 27. Großen Strafkammer könnten, dem Alter zufolge, ihre Enkel sein. Der Vorsitzende Josef Hoch war noch nicht geboren, als die Berliner Mauer entstand.
Als ich eintrete, ist Egon Krenz dabei, eine Erklärung zu verlesen. Es geht um die Schusswaffengebrauchsbestimmung, die für die Grenztruppen der DDR gültig war und die fast wortwörtlich übereinstimmte mit der Schusswaffengebrauchsbestimmung für den Bundesgrenzschutz. Egon Krenz liest, wie er schon früher vortrug: mit jenem hochpathetischen Ton, den er als langjähriger Jugendfunktionär erwarb. Der weißhaarige Mann, neben dem ich sitze, nickt dazu, unentwegt, als wolle er zustimmen, erst später bemerke ich, dass dieses Nicken weitergeht, auch als Krenz geendet hat, es handelt sich um einen nervösen Tremor.
In den folgenden Stunden erlebe ich eine für mich gespenstische Wiederkehr von Vergangenheit. Schon die Kontrollmaßnahmen am Eingang haben mich an die alte DDR erinnert: Sie schienen einzig den Zweck zu haben, mich einzustimmen. Die Greise, zwischen denen ich sitze, zeigen die verwelkten Physiognomien und das versteinerte Gebaren hoher SED-Funktionäre. Die Wörter, die aus den Lautsprechern fallen, heißen Klassenauftrag, Grenzregime, Nationaler Verteidigungsrat, Nomenklaturkader: Wortmüll eines verwehten Präteritums, das hier zu geisterhafter Auferstehung erwacht. Krenz blickt mich an. Seine Augen wirken leer. Es ist der Blick eines, der mit der Macht alles Selbstverständnis verlor, der nur noch taumeln kann zwischen Trostlosigkeit und Trotz. In der Pause werde ich gefragt werden, was ich beim Anblick dieser Angeklagten empfinde. Ich werde antworten: Ein Gefühl leisen Triumphes und zugleich ein Gefühl der Scham.
Ein Zeuge wird gerufen. Es tritt auf ein kleiner alter Mann mit dünnem Haar, er hält einen Hut in der Hand, den er auf den Zeugentisch legt, er trägt einen grauen Kunststoffanorak, den er über die Lehne des Zeugenstuhles hängt. Umständlich befestigt er ein Hörgerät an seinem linken Ohr. Der Justizbeamte neben dem Saaleingang lehnt gelangweilt den Kopf an die Wand.
Der kleine alte Mann arbeitete einst als Sektorenleiter in der Abteilung Sicherheit beim SED-Zentralkomitee, sein militärischer Rang war Generalmajor. Er berichtet, die Sekretariate des Zentralkomitees hätten Weisungsbefugnisse nur innerhalb der Partei besessen, während für den staatlichen Betrieb Regierungsstellen zuständig waren: im Bereich der Grenztruppen der Verteidigungsrat und das Verteidigungsministerium. Der kleine alte Mann beherrscht noch mühelos die untergegangene Sprache der SED-Nomenklatura, mit ihrer Verbarmut, mit ihren endlos fortwuchernden Genitiven, er redet von der Partei- und Staatsführung und vom Genossen Generalsekretär.
Die Strategie der Angeklagten besteht darin, die juristische Verantwortlichkeit der Partei und deren Führung für das Grenzgeschehen zu leugnen. Es scheint, das Gericht lässt sich darauf ein. Ein anderes Argument der Verteidigung, bei Grenzproblemen sei die Souveränität der DDR durch die Sowjets eingeschränkt gewesen, hat es bereits akzeptiert: am 80. Verhandlungstag, vor zwei Wochen. Es dürfte auf eine Strafminderung hinauslaufen. Gleichwohl bleibt es dabei, dass die SED in der DDR die entscheidende Kraft war, auch laut Verfassungstext; angesichts der durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten Urteile gegen Todesschützen und deren militärische Vorgesetzte ist eine völlige Straffreiheit kaum zu erwarten.
Der Vorsitzende fragt höflich, und der Zeuge entgegnet. Manchmal versteht er die Frage nicht. Der Justizbeamte neben der Tür schläft, halboffenen Mundes. Lethargie hängt im Saal wie eine unsichtbare Wolke. Egon Krenz macht sich Notizen. Die drei anderen Angeklagten starren vor sich hin. Der Verteidiger Pfanneschwarz liest im Spiegel.
Die Angeklagten, das weiß man, da sie es öffentlich mitgeteilt haben, betrachten den Prozess als einen Akt von Siegerjustiz. Daran ist wahr, dass Unrechtshandlungen, die eine politische Macht beging, immer erst justiziabel werden nach deren Niedergang. Es stellt sich die Frage nach Sinn und Nutzen einer Strafverfolgung in diesem besonderen Fall. Geht es um Prävention? Die Angeklagten werden nie wieder Macht haben über ein Grenzgeschehen oder überhaupt politische Macht. Geht es um Vergeltung? Sie ist Urgrund aller Strafverfolgung, aber, gestehen wir es ein, sie ist zutiefst atavistisch, vormodern, kein Verbrechen lässt sich wirklich abgelten, die aufgeklärten Strafziele heißen Sicherung und Erziehung. Wovor sollte man diese Angeklagten bewahren und wozu erziehen? Prävention meint auch Abschreckung. Von der wissen wir, dass sie kaum greift, am wenigsten im Politischen: Die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher 1946 in Nürnberg hat eine Wiederholung der damals verhandelten Verbrechen anderswo in der Welt nicht verhindern können. Der einzige Grund, über politische Untaten zu richten, bleibt die Tatsache, dass nicht über sie zu richten noch unerträglicher wäre.
Die Schuld der DDR-Führung ist außerordentlich. Sie reicht von schweren Menschenrechtsverletzungen über Misswirtschaft, Begünstigung, Fälschung und Lüge bis zur völligen Pervertierung einer großen Emanzipationsidee. Egon Krenz wird nur für die indirekte Mitwirkung an Totschlag belangt. Ich fühle mich an Al Capone erinnert: Er hatte fürchterlichste Verbrechen begangen, aber er wurde verurteilt wegen Steuerbetrug.
Moralische und juristische Schuld sind zweierlei Ding, ebenso wie Gerechtigkeit und Recht. Günter Schabowski, intelligentester der vier Angeklagten, hat wenigstens seine moralische Schuld akzeptiert, die anderen haben nicht einmal das. Egon Krenz sieht den Vorsitzenden Richter als Erfüllungsgehilfen von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er projiziert seine an der DDR gewonnene Vorstellung von abhängiger Justiz auf die 27. Strafkammer beim Berliner Landgericht.
Die ist formal völlig unabhängig, natürlich, unempfindlich gegenüber dem Zeitgeist ist sie kaum. Dass die allgemeine Stimmung gegen die frühere DDR-Führung sich gewandelt hat, nicht zur Nachsicht, doch zu Gleichgültigkeit und Desinteresse, wird ihr kaum entgehen. Vielleicht macht dies die Richter gelassener. Vielleicht macht es sie nachsichtiger. Ohnehin wirken Begriffe der alten DDR-Terminologie in ihren Mündern sonderbar befremdlich, fast ein wenig obszön.
Die Zeugenvernehmung wird unterbrochen, für eine Pause. Der Justizbeamte schließt die Tür auf. Das Treppenhaus ist für solchen Andrang zu schmal, die Greise murren, ein paar von ihnen hocken sich auf die Stufen. Ein dänischer Journalist tritt heran und fragt sie nach ihren Eindrücken....