Poesie der Wunde
Manchmal ist die Wirklichkeit phantastischer als jede der Phantasie entsprungene Geschichte. Ein begnadeter Dokumentarfilmer kann, gemeinsam mit einem fähigen Kameramann, ein Ereignis in einem großartigen Film verarbeiten, der jeden Spielfilm in den Schatten stellt. Dokumentarbücher haben es schwerer, denn es steht nur das Wort zur Verfügung, um den Stoff poetisch zu erhöhen. Diese Fähigkeit besitzen nur wenige. Samar Yazbek ist eine von ihnen.
Hundert Tage lang dokumentierte die syrische Schriftstellerin und Filmemacherin die Revolution in ihrer Heimat aus nächster Nähe. Aber sie war auch aktiv daran beteiligt. Sobald die Situation es zuließ, schrieb sie auf, was sie in den Stunden und Tagen zuvor erlebt, empfunden und gedacht hat, und das in einer eindrücklichen, wortgewaltigen Sprache. Wortgewaltig insofern, als sie trotz der brutalen Morde, trotz der vielen Toten um sie herum, trotz der Angst um sich selbst und ihre Tochter, der Tränen und der Verhöre, mit denen der Geheimdienst sie zu erpressen versuchte, poetisch schreibt. Diese Poesie erlaubt uns, den Leserinnen und Lesern, in Samar Yazbeks Begleitung den Aufstand hautnah mitzuerleben, ohne erdrückt zu werden oder in Atemnot zu geraten.
Samar Yazbek war eine aktive Zeugin. Und während sie ihr Leben aufs Spiel setzte, half sie verfolgten Demonstranten, tröstete Kinder, deren Eltern verhaftet wurden. Aber noch eindrücklicher als dieser Mut war und ist ihre Haltung gegenüber ihrer Sippe und der alawitischen Minderheit, durch die sie ihr Leben gefährdet. In ihrer Heimatstadt wurde sie öffentlich als Verräterin verurteilt. Das gab den Killer-Schwadronen mit dem neuen Namen «Schabbiha» grünes Licht, die das Assad-Regime auf die Syrer losgelassen hatte. Es sind Mörder, Kriminelle, die für einen geringen Lohn zu Söldnern werden und die Drecksarbeit erledigen. Sie ermorden jeden, ohne mit der Wimper zu zucken. Samar Yazbek musste sich äußerst vorsichtig bewegen. Jeder Schritt auf der Straße konnte ihr letzter sein.
Woher nimmt eine Frau den Mut, wirft all die Sicherheiten einer wohlhabenden alawitischen Familie über Bord und solidarisiert sich mit den Gedemütigten? Man kann sich die Enttäuschung ihrer Familie vorstellen, die ganz andere Erwartungen an sie gerichtet hatte.
Samar Yazbek wurde 1970 in der Küstenstadt Dschableh in eine angesehene alawitische Familie hineingeboren – in jenem Jahr, als Vater Assad gegen seine eigenen Genossen putschte, um eine nie da gewesene Art von Diktatur zu errichten, die auf einer Sippen- und Religionszugehörigkeit basierte. Syrien, das lebendige Land, wurde in eine Farm der Sippe Assad verwandelt.
Samar Yazbek gehört also einer Generation an, die kein anderes als das existierende politische System kennengelernt hat. Sie schrieb Kurzgeschichten und Drehbücher für Fernsehserien (auch für das Staatsfernsehen) und drehte Dokumentarfilme, aber berühmt wurde sie durch ihre Romane, von denen nur wenige in andere Sprachen (Italienisch und Französisch) übersetzt wurden. In diesen Romanen überschritt Samar Yazbek Grenzen, ließ alle Verbote außer Acht. Sie schrieb über verbotene Liebe und korrumpierte Militärs, über die Enge innerhalb der Sippe und die Heuchelei. Die professionellen Hüter der Moral verschonten sie nicht mit harscher Kritik. Aber sie war privilegiert, und man bestrafte sie nicht.
Samar Yazbek war auch als Frauenrechtlerin und Kulturschaffende aktiv. Ihre Abstammung und ihre privaten Beziehungen ließen ihr gewisse Freiheiten, die andere nicht hatten, aber sie ließ sich deswegen nicht blenden. Sie trat bereits lange vor dem Ausbruch der Revolution am 15. März 2011 mutig auf. Ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Schwachen und Entrechteten führten unter Assad, der keinen Widerspruch duldete, zur Konfrontation. Samar Yazbek schloss sich schnell der Protestbewegung an.
Das Assad-Regime hatte noch ein Auge zugedrückt, wenn ein Autor oder eine Autorin verbotenerweise erotische Passagen in einen Roman einfließen ließ. Das liegt daran, dass der Herrscher-Clan niemals religiös war. Es war nichts als Heuchelei, wenn der alawitische Präsident in der Omajjaden-Moschee mit dem sunnitischen Mufti betete. Kein Alawit nahm ihm diese Show ab, denn die Omajjaden waren mit Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Muhammad und Namensgeber der Alawiten, tief verfeindet.
Doch jetzt wurde die Situation weitaus bedenklicher. Denn wenn Intellektuelle in Aktion treten, wird es für das Regime gefährlich. Gehören sie gar der Minderheit der Alawiten an, so gelten sie als doppelt gefährlich. Die Alawiten werden härter bestraft, wenn sie, statt blinden Gehorsam zu zeigen, in den Widerstand gehen, statt loyal zu sein, sich als Gegner des Regimes bekennen. So wird klar, warum Samar Yazbek jetzt alle Privilegien verlor und zur Verräterin gestempelt wurde.
Um aber Samar Yazbeks Haltung und ihr Buch richtig würdigen zu können, muss man den syrischen Diktator eingehender betrachten.
Der Assad-Clan hält in seinem Land, auf seiner «Farm» 20 Millionen Syrer gefangen. Und er ist selbst Gefangener seines Systems. Baschar al-Assad lügt, wenn er Reformen verspricht, nicht aus Spaß, sondern weil er nicht anders kann. Der erste Schritt der Reform hieße nämlich: die Auflösung aller fünfzehn Geheimdienste, Freilassung aller fast 100 000 politischen Gefangenen und Bestrafung der Mörder von über 4000 unschuldigen Menschen. Solange das nicht geschieht, ist es absurd, über die Erhöhung der Gehälter und die Verbesserung der Krankenversicherung zu reden. Aber die Auflösung der Geheimdienste würde den Sturz des Regimes bedeuten.
Assad versprach mehrmals, die Armee und die Scharfschützen aus den Städten abzuziehen. Er brach sein Wort, denn er wusste und weiß, dass diese Städte eine Stunde später von den Revolutionären kontrolliert würden. Deshalb ist bislang nicht ein einziger Panzer, nicht ein einziger Scharfschütze weniger im Einsatz. Elf Jahre lang hätte er eine Reform vorantreiben können, aber das vom Vater geerbte Unrecht hat sich um keinen Deut verändert. Wie soll ihm jetzt binnen weniger Wochen ein solches Unterfangen gelingen? Unmöglich!
Man muss wissen: Ein arabischer Diktator wird als Held geboren. Er heiligt seine Mutter und seinen Vater, weil sie ihm, dieser historischen Ausnahme, das Leben ermöglicht haben. Er lebt als «Herrscher für die Ewigkeit». Und er stirbt als Heiliger, auch wenn er durch Krankheit (wie Vater Assad) oder einen Autounfall (wie Bassel al-Assad, der Bruder) den Tod findet.
Dass Assad, Saddam Hussein, Gaddafi und der jemenitische Ali Saleh in bitterem Elend aufwuchsen und ihr Abitur mit Müh und Not bestanden, das verdrängten sie. Sie verbanden sich mit dem Teufel, um an die Macht zu kommen. Sie zerstörten den Staat und bauten etwas auf, was aus der Ferne ähnlich aussieht: Ein mafiöses Netz der Herrschaft, das es ihnen erlaubte, das Land zu knechten. Alle Ämter an der Spitze der Macht wurden von Brüdern, Cousins, Schwägern und Schwiegersöhnen besetzt. Reichte die eigene Sippe nicht aus, bediente man sich der Anhänger aus befreundeten Sippen, der Nachbarn und der Freunde aus Kindheitstagen. So entstand Schicht für Schicht eine korrupte Pyramide der Macht. Ganz unten ist das Volk. Je länger sich ein Regime an der Macht hält, desto dichter wird das Netz, desto besser ist es gegen Angriffe gewappnet. Das Assad-Regime regiert blutig seit vierzig Jahren – nach der ersten bereits ergrauten Generation der Putschisten inzwischen in der zweiten und dritten Generation des Clans.
Aber Vater Assad war viel zu klug, um zu übersehen, dass die Alawiten allein auf Dauer keine Chance haben zu regieren. Deshalb beteiligte er die große Sippe der Sunniten, aber immer nur so, dass sie zwar wirtschaftliche Nutznießer waren, aber politisch nichts zu sagen hatten. Deshalb ist es auch widersinnig, wenn Islamisten in fast rassistischer Manier auf die Alawiten allein schimpfen. Dennoch bleibt das System hierarchisch. Ein sunnitischer oder christlicher General fürchtet sich vor einem alawitischen Unteroffizier. Und das ist kein Gesetz des Militärs, sondern eines der Mafia.
In einem solchen System ist Loyalität die einzige Möglichkeit, um an der Macht zu partizipieren. So ist es nicht verwunderlich, dass bald nur noch Claqueure mitregierten, die schnell gelernt hatten, dass der Präsident nichts als Zustimmung hören wollte. Seine Porträts und Denkmäler wurden von Jahr zu Jahr größer, alle wichtigen Errungenschaften wurden nach ihm benannt, der Stausee am Euphrat etwa oder die Nationalbibliothek. Bücher über seine Heldentaten, die es ja gar nicht gab, füllten die Regale, Loblieder entstanden. Die Medien knieten vor ihm nieder, und aus dieser Perspektive wurde er zu einem Riesen. Wie sollten und sollen da Charaktere wie Gaddafi, Saddam Hussein oder Assad (Vater wie auch Sohn) an ihrer eigenen Genialität noch zweifeln.
Die arabischen Diktatoren stürzten ihre Länder ins Elend, aber anders als den europäischen Diktatoren, von Mussolini und Hitler über Stalin zu Honecker, die vor allem machtbesessen waren, genügte ihnen die absolute Macht nicht. Die arabischen Diktatoren sicherten sich zudem mit einem milliardenschweren Vermögen ab, das sie dem Land raubten und in den Banken ihrer offiziellen «Feinde» bunkerten. Es ist vollkommen absurd, dass sich der Assad-Clan als Gegner der Amerikaner gibt. Und die USA spielen das dumme Spiel auch noch mit. Hinter den Kulissen aber kooperiert der syrische Geheimdienst mit der CIA, und die Assads, Makhloufs und Schallahs und wie die syrischen Räuber auch alle heißen, bringen ihre Beute nach Amerika. Nicht eine Million, nicht hundert Millionen, sondern gleich hundert Milliarden, und mit der Armut, die im eigenen Land Einzug hält,...