2. Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches und individuelles Problem
Im Folgenden geht es weniger um eine bis ins Kleinste ausdifferenzierte Analyse der Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit, sondern eher um eine Bestandsaufnahme, um eine Zustandsbeschreibung der Lebenssituation der davon Betroffenen. Auf dieser Basis kann das bewährte sozialpädagogische Konzept, wonach Menschen dort abgeholt werden sollen, wo sie stehen, bei der Entwicklung einer Schreibgruppenaktivität Anwendung finden (ein Konzept, das in heutigen Zeiten mit verstärkter Eingriffsverwaltung aus der Mode zu kommen scheint). Ziel ist nicht die Indoktrinierung von Langzeitarbeitslosen, sondern ihre Aktivierung zur Gegenwehr über ein wachsendes Verständnis zur eigenen Lage. Dies hätte ein höheres gesellschaftsveränderndes Potenzial als sämtliche Analysen, die unüberprüfbar von der Zielgruppe akzeptiert oder verworfen werden sollen. Es ist eine Tatsache: Die Arroganz von Macht beginnt und äußert sich durch Anwendung von Herrschaftssprache, die Tatbestände euphemistisch verbrämt und gar nicht verstanden werden will.
Beim Nachzeichnen der Bedingungen von Langzeitarbeitslosigkeit steht daher das Erleben der Betroffenen im Fokus, die solche Bedingungen eben – fern aller theoretischen Überlegungen – durch ihre subjektive Brille betrachten. Unter Einbeziehung dieser subjektiven Deutungen soll das zu entwickelnde Schreibgruppenkonzept erfolgen.
2.1. Arbeitslosigkeit im Kapitalismus in ihrer gesellschaftlichen Dimension
Die Situation Arbeitsloser in der kapitalistischen Gesellschaft war nie ein statischer Zustand, sondern unter wechselnden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen stets von einer dynamischen Entwicklung gekennzeichnet. Dies macht es erforderlich, zunächst diese Bedingungen in ihren jeweiligen Veränderungen nachzuzeichnen; denn neben den aktuellen Erfahrungen von Arbeitslosen spielt für alle abhängig Beschäftigten der historische Kontext, d. h. die gemeinsamen Erfahrungen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist eine seit Generationen kollektive und über Oral History weitervermittelte Erfahrung: Nach erkämpften sozialstaatlichen Verbesserungen wurden damit verbundene Leistungen letztlich wieder abgebaut. Sie wurden als Steinbruch genutzt, um gefährdete Profitinteressen durch eine entsprechend ausgerichtete Politik abzusichern. In Bezug auf staatlich organisierte Unterstützungsleistungen in Krisenzeiten verdichtete sich so überliefertes Wissen seit Beginn der Industrialisierung zu einem kollektiven Gedächtnis, das den jeweils nachwachsenden Generationen vermittelt wurde und das die Grundlage bildet für Einstellungen, Sichtweisen und Blockaden. Es sind tiefsitzende, nur schwer zu revidierende vermeintliche Gewissheiten, die Beschäftigte und Arbeitslose gleichermaßen verinnerlicht haben und die ihr Handeln entscheidend zu behindern vermögen. Die Hilflosigkeit signalisierende Einstellung, die da oben mach(t)en ja doch, was sie wollen, deutet auf eine der Hauptquellen, aus der sich die Ohnmacht Langzeitarbeitsloser speist. Wenn auch nur ein Teil der Betroffenen die sich darin manifestierenden Mechanismen durchschaut, wäre das für sie ein unterstützenswerter Ansatzpunkt, diesem Teufelskreis zu entrinnen. Abhängig Beschäftigte sind auch heute nicht geschichtslos. In ihrem kollektiven Gedächtnis sind Ereignisse und historische Brüche gespeichert, die sie mit aktuellen Erfahrungen in Beziehung setzen. So wird Realität stetig mit dem bisherigen Weltbild abgeglichen und auf Veränderung geprüft. Die historisch erlebte und überlieferte Entwicklung erhält so Referenzcharakter.
Bei der folgenden Betrachtung soll zunächst die Entwicklung sozialstaatlicher Leistungen für Arbeitslose skizziert werden. Zum besseren Verständnis wird die Gesamtentwicklung aller sozialstaatlichen Leistungen umrissen, in denen die Arbeitslosenversicherung heute als Vierte Säule gilt. Arbeitslosenversicherung als integraler Bestandteil solcher Leistungen wurde wesentlich später als Krankenversicherung und Rentenversicherung eingeführt. Eine genuine staatliche Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 eingerichtet (vgl. Metzler 2003, S. 71), während bis dahin bezogene Leistungen Fürsorgecharakter hatten. Seitdem hat sie einen stetigen Wandel erfahren, der vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Machtverhältnisse zu sehen ist.
2.1.1 Die Entwicklung sozialstaatlicher Politik, insbesondere unter dem Aspekt unterstützender staatlicher Maßnahmen für Arbeitslose
„Deutschland gilt als Mutterland des Sozialstaates. Da dieser nicht am Reißbrett konstruiert, sondern im Laufe eines Jahrhunderts gewachsen und das Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte wie politischer und geistig-ideologischer Auseinandersetzungen ist, erschließen sich seine Institutionen nur aus ihrem je konkreten Entstehungszusammenhang heraus“ (Butterwegge 2005, S. 37). Für die Entwicklung mit strukturellen Veränderungen, die sich in Perioden vollzog, waren jeweils die politischen Verhältnisse bestimmend, die je nach dem herrschenden System unterschiedlichen Bedingungen unterlagen. Diese Entwicklung kann in vier Phasen eingeteilt werden: in eine Konstruktionsphase von 1871-1914, in eine Konsolidierungsphase, die von wesentlichen Rückschritten während der NS-Zeit (1933 - 1945) geprägt war, in eine Rekonstruktions- und Aufbauphase von 19491975 und schließlich in eine Umbau- bzw. Abbauphase von 1975 bis heute (vgl. ebd., S. 37).
Die Linderung von Armut in ihren individuellen Auswirkungen geschah bis zum 16. Jahrhundert vornehmlich aus christlichen Beweggründen. Ab dann begannen einzelne Städte mit ersten sozialpolitischen Maßnahmen. Dies hauptsächlich mit der Intention, das Bettlerproblem steuern zu können, indem Spitäler und Armenhäuser errichtet wurden. Diese ersten Ansätze von Sozialpolitik waren letztlich der Schlüssel, mit dem allmählich jener wachsende Anteil von Lohnarbeitern verfügbar wurde, der eine umfassende Industrialisierung erst ermöglichte. In diesen Institutionen wurde eine Arbeitseinstellung gefördert und erzwungen, wie sie von einer arbeitsteiligen Gesellschaft unter bürgerlichen Bedingungen fortan benötigt wurde. Repression, z. B. über ein strenges Reglement in Armenhäusern, Zucht- und Arbeitshäusern, war hierzu das wirksame Mittel. Ökonomisch bewirkte dies einerseits eine Entlastung der Armenkassen, andererseits bot sich ordnungspolitisch so ein Instrument, die notwendige soziale Disziplin zu erreichen bei jenen, die als Lohnarbeiter benötigt wurden. Über die auf solche Weise verinnerlichten Werte und Normen wurden sie erst für die neuen Arbeitsbedingungen funktionstüchtig und verwertbar (vgl. ebd., S. 37).
Vor Einrichtung staatlicher Sozialversicherungen und bis in die Zeiten des Kaiserreichs hinein betrieben Arbeiter eigene Kassen als kollektive Selbsthilfeeinrichtungen nach dem Vorbild der Handwerkszünfte. Durch die bürgerlichen Revolutionen wurde der modernen Industrieproduktion der Boden bereitet und ihr zum Durchbruch verholfen. Der wirtschaftliche Liberalismus gelangte so mit staatlicher Unterstützung zur Blüte. Das entstehende Industriesystem schuf einerseits das Fundament für ein sozialstaatliches Engagement, durch seinen Rigorismus im Umgang mit den arbeitenden Menschen aber auch die Notwendigkeit, staatlich zu intervenieren und entstandene Not zu lindern.
Die Sozialgesetzgebung Bismarcks ist vor diesem Hintergrund als sozialpolitisch logisch anzusehen. Allerdings ging es ihm bei der Einführung auch darum, den Einfluss vorhandener Selbsthilfeorganisationen (vornehmlich politische Parteien und Gewerkschaften) zu verringern. Bismarck als Gründer des Sozialstaates bezeichnen zu wollen hieße jedoch, einen wesentlichen Aspekt zu ignorieren: Tatsächlich wurde durch die von ihm initiierten Maßnahmen die Armenpolitik von der Arbeiterpolitik getrennt. Arbeiter waren nun potenziell leistungsberechtigt, während Arbeitslose der Armenpflege anheimfielen. Dies bewirkte faktisch eine Spaltung zwischen Arbeitsbesitzern und Arbeitslosen und war politisch gewollt.
Durch die Auswirkungen des 1. Weltkriegs erhielt der Sozialstaatsgedanke einen neuen Stellenwert. Das Hauptproblem stellten die zurückkehrenden Soldaten dar, die sich in der Arbeitslosigkeit wiederfanden. Als Konsequenz daraus wurde im November 1918 eine Verordnung über Erwerbslosenfürsorge erlassen. Dies stellte für Betroffene eine Verbesserung dar. Eine Anspruchsberechtigung auf Grundlage einer Arbeitslosenversicherung wurde jedoch erst neun Jahre später geschaffen. Die im Vergleich zum Kaiserreich fortschrittliche Weimarer Republik erhielt in ihrer neuen Verfassung noch kein Sozialstaatsbekenntnis, aber immerhin Schutzrechte für Arbeitende und sozial Benachteiligte. Erst ab 1927 wurde eine Arbeitslosenunterstützung für zunächst 26 Wochen, später für 52 Wochen gezahlt – auf Grundlage einer scharfen Bedürfnisprüfung, die nicht nur direkt Betroffene, sondern auch die mit zu unterhaltenden Personen betraf. Nach Auslaufen der Anspruchsfrist wurden die Betroffenen aus der Erwerbslosenfürsorge ausgesteuert. Sie konnten stattdessen Wohlfahrtsfürsorge beantragen, wegen der scharfen Prüfungskriterien erhielten jedoch nur 50% bis maximal 80% von ihnen weitere Leistungen (vgl. ebd., S. 49). Dies erklärt sich dadurch, dass die für die Leistungen zuständigen Kommunen ihre Etats schützen wollten und rigoros alle Möglichkeiten nutzten, Leistungen nicht zahlen zu müssen. Für viele Betroffene war daher die Armenpflege jenseits der staatlich vorgehaltenen Leistungen der letzte Ausweg. Dazu gab es für die Betroffenen im Rahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge eine...