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E-Book

Schreiend ungerecht

Alltägliche Justizskandale in Deutschland - wie sich das System gegen Unschuldige und Opfer richtet

AutorBurkhard Beneken
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783745305920
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Wahre Fälle, die zeigen, wie schlecht es um unser Rechtssystem bestellt ist Immer mehr Menschen verlieren das Vertrauen in die Justiz: Urteile, heißt es, fallen zu milde aus, Täter werden nicht mit Nachdruck verfolgt und Unschuldige leichtfertig zu Tätern erklärt - nur um einen Schuldigen zu präsentieren und das Verfahren abzuschließen. Anhand von elf wahren Fällen legt der bekannte Strafverteidiger Burkhard Benecken dar, was sich tagtäglich in unseren Polizeirevieren, Rechtsanwaltskanzleien und Gerichtssälen Unfassbares abspielt. Ob Beamte, die Zeugen eines Verbrechens raten, lieber keine Aussage zu machen, oder Anwälte, die von Richtern wirtschaftlich abhängig sind und dafür die Interessen ihrer Mandanten verkaufen - diese Fälle machen auf beängstigende Weise klar, wie schreiend ungerecht es in Strafverfahren zugeht und was man tun muss, um nicht selbst Opfer einer immer willkürlicher agierenden Justiz zu werden. Ein aufrüttelndes Buch. Ein Buch, das den Justizopfern endlich eine Stimme gibt.

Burkhard Benecken arbeitet seit 15 Jahren als Strafverteidiger in der Kanzlei Benecken & Partner in Marl, einer der renommiertesten Strafrechtskanzleien der Bundesrepublik. Gemeinsam mit 13 Kollegen vertritt er jährlich mehr als 5000 neue Mandanten. Bundesweit bekannt wurde er aufgrund der Prominenten aus Film und Fernsehen, die er vor Gericht vertreten hat.

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Leseprobe

Vorwort


Bilder mit Buntstiften ausmalen – langweilig! Klötzchen aufeinanderstapeln – uninteressant! Fangen spielen – was für Mädchen! Kindergarten war für mich alles andere als aufregend. Deshalb freute ich mich jedes Mal aufs Neue, durch die Glastür hinauszurennen, um in den tannengrünen Kleinwagen zu steigen, an dessen Steuer Evelyn Z. saß. Evelyn, eine elegante, freundliche Gestalt mit schwarzem Haar, Bleistiftrock und Rollkragenpullover, war die Bürovorsteherin der Kanzlei Benecken & Partner, die mein Vater Siegmund 1975 gegründet hatte. Sie organisierte nicht nur die gesamte Kanzlei, sondern auch mich. Meine Eltern waren beide berufstätig, und so holte mich Evelyn mehrmals in der Woche vom Kindergarten ab und nahm mich mit ins Büro.

Ich freute mich immer, wenn ich in die Anwaltskanzlei kam. Als erstes rannte ich stets ins Zimmer meines Vaters, der an seinem Schreibtisch saß und hinter roten Aktenbergen fast verschwand. Meist schnappte ich mir zunächst das Diktiergerät und spielte daran herum. Mein Vater setzte dem stets schnell ein Ende, bevor ich wichtige Gesprächsnotizen löschen konnte. Dann setzte ich mich in den Supermarkteinkaufswagen, in dem normalerweise Akten aller Farben über die langen Flure der Kanzlei geschoben wurden, und ließ mich von einer der Mitarbeiterinnen durchs Büro fahren. Besonders faszinierte mich die Frankiermaschine. Ich durfte Briefumschläge mit Kanzleilogo durchziehen, bewacht von geduldigen Sekretärinnen. Im Eingangsbereich warteten die Mandanten, eine im wahrsten Sinne des Wortes bunte Mischung an Charakteren. Multikulti, das war für mich immer schon Normalität. Die einen nannten meinen Vater »Big Babba«, die anderen bezeichneten ihn – in Anlehnung an den bekannten Münchner Strafverteidiger – als den »Bossi des Ruhrgebietes«. All dies fand ich weit spannender als den Besuch des Kindergartens.

So war es auch an diesem kalten Dezembertag des Jahres 1978. Draußen – vor dem Kindergarten stehend – hörte ich das laute Motorengeräusch und öffnete die Hintertür des tannengrünen Wagens, um mich auf die Rückbank zu setzen. An diesem Tag wirkte Evelyn jedoch nicht so fröhlich wie sonst. Sie ärgerte sich über etwas, und weil ich sie aufmerksam ansah, erzählte sie es mir: »Das Urteil im Fall Werner Weinhold. Sind zwei Menschenleben wirklich nur fünfeinhalb Jahre wert?« Ich verstand nicht. An der nächsten Ampel griff sie nach einem Magazin mit einem roten Rand, das auf dem Beifahrersitz lag: die neueste Ausgabe des SPIEGEL, die sie an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen hatte. Laut las sie vor, was, wie ich später erfuhr, der legendäre Gerichtsreporter Gerhard Mauz geschrieben hatte: »Süßmilch und Benecken haben Weinhold hervorragend verteidigt.«

Süßmilch und Benecken haben Weinhold hervorragend verteidigt. Ich verstand nicht. Aber aus irgendeinem Grund prägte sich mir dieser Satz ein. Evelyn redete bereits weiter. »Mal ganz ehrlich«, sagte sie, »noch nicht mal sechs Jahre Gefängnis für zwei Tote. Das ist doch ungerecht, auch wenn Werner Weinhold unser Mandant ist. Da haben Dein Vater und sein Anwaltskollege doch mal wieder ordentlich gezaubert.«

Ich verstand nicht, was sie meinte. Ich kannte die Worte »Mandant« und »ungerecht«, nicht aber deren Bedeutung. Der Name Werner Weinhold hörte sich märchenhaft an, sagte mir aber nichts. Kein Wunder: Ich war bei diesem Gespräch, das ich später mit Evelyn Z. rekonstruierte, keine vier Jahre alt.

Werner Weinhold ist ein ehemaliger NVA-Soldat, der 1975 bei seiner Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik zwei ostdeutsche Grenzsoldaten erschoss. 1976 war er in einem ersten Prozess freigesprochen worden. Nachdem dieser Freispruch durch ein höheres Gericht jedoch wieder aufgehoben worden war, fällte 1978 ein anderes Gericht das endgültige Urteil: fünfeinhalb Jahre Haft für Weinhold1.

An diesem Dezembertag, an dem ich auf dem Weg vom Kindergarten zur Kanzlei in Evelyns grünem Wagen saß, war der Urteilsspruch erst einige Tage her. Der Fall wurde aufgebracht diskutiert, selbst die Mandanten, die im Wartezimmer der Kanzlei saßen, sprachen darüber. Man konnte die Diskutanten grob in zwei Lager teilen:

Die einen sagten, dass das Urteil viel zu milde sei. »Denke doch mal einer an die Angehörigen der beiden Opfer!«, war ein Satz, der besonders häufig fiel.

Die anderen fanden, man könne doch nicht automatisch von der Schuld Weinholds ausgehen. Er habe doch ausgesagt, die beiden Grenzsoldaten hätten zunächst auf ihn das Feuer eröffnet, bevor er zurückschoss. Wenn er damit recht hätte, dann wäre das ja Notwehr und Weinhold gar nicht zu bestrafen. So wirke das Urteil nun wie eine Art Kompromiss – nach dem Motto: Vielleicht sei ja was dran an der Notwehr, aber man müsse auch den Opferinteressen gerecht werden.

Fest steht jedenfalls: Mitte der 1970er herrschte kalter Krieg, der Fall Weinhold war ein hochpolitisches Verfahren, und das Gericht hatte es gewiss nicht leicht.

Ich bin praktisch in der Kanzlei meines Vaters aufgewachsen. Mit zunehmendem Alter verlor ich das Interesse für den Einkaufswagen und die Frankiermaschine. Noch vor meiner Einschulung wurde ich in den Dienst der Kanzlei gestellt. Mein Vater brachte wichtigen Mandanten Weihnachtsgeschenke nach Hause, um sich für die gute Zusammenarbeit am Jahresende zu bedanken. Eine Flasche Cognac hier, eine Schachtel Pralinen dort. Und ich musste ihn begleiten, um auftragsgemäß nach spätestens zehn Minuten mit dem vorgetäuschten Quengeln zu beginnen: »Papa, ich möchte nach Hause.« So lieferte ich ihm einen Grund, den Besuch zu beendigen. Einmal sagte er zu mir nach einem solchen perfekten Schauspiel: »Sohnemann, du wirst bestimmt mal ein richtig guter Strafverteidiger.«

Bereits im Grundschulalter begann ich mich für Strafverfahren zu interessieren, Diskussionen über Recht und Unrecht sog ich in mich auf wie andere Kinder Zeichentrickfilme.

Als Gymnasiast saß ich bei jeder sich bietenden Möglichkeit als Zuschauer im Gerichtssaal und verfolgte gespannt die Zeugenbefragungen und die Schlussplädoyers. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Mandantin meines Vaters, von Beruf Krankenschwester, die schwerkranken Patienten aus Mitleid tödliche Injektionen verabreicht hatte und in den Medien »der Todesengel« genannt wurde.

Und als Rechtsextreme einen Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in Solingen verübten, bei dem fünf Menschen zu Tode kamen, durfte ich für meinen Vater Teile der Akte in den Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Gerichtsgebäudes tragen.

Einmal nahm er mich auch in die forensische Psychiatrie mit, wo ein psychisch kranker Mandant behandelt wurde. Er hatte seiner Nachbarin mit einem Messer den Kopf abgetrennt und versucht, diesen die Toilette hinunterzuspülen. Der Mann sah in ihr den Teufel.

Zu Studien- und Referendarzeiten durfte ich in der Kanzlei meines Vaters Verteidigungsstrategien mitentwickeln – und widmete mich dabei unter anderem Fragen wie der folgenden: In welches Licht rückt man vor Gericht ein Ehepaar, das als »Die Satanisten« bekannt ist? Der Hintergrund: Ehemann und Ehefrau hatten einen Bekannten mit 66 Messerstichen hingerichtet, um ihn Satan zu opfern. Als an einem der Hauptverhandlungstage mein Vater die beiden Sonnenbrillen für die Mandantschaft vergessen hatte, mussten meine kurz zuvor in einem Spanien-Urlaub erworbenen verspiegelten »Oakleys« aushelfen. Schließlich galt es, die beiden Angeklagten im Gerichtssaal vor irdischem Licht zu schützen.

Ständig wurde darüber diskutiert, ob das, was da in den Strafverfahren passierte, auch gerecht war. Was eigentlich allgemein unter »Gerechtigkeit« zu verstehen war – das fragte ich mich immer häufiger. Es schien mir, dass diese Frage nicht so einfach zu beantworten war. Der Fall Weinhold hatte mir früh gezeigt, dass die Gerechtigkeits-Definition durchaus eine Frage der persönlichen Einstellung ist. Gerechtigkeit exakt zu definieren, halte ich für unmöglich. Denkbar ist es als Minimalformel, Gerechtigkeit als Abwesenheit von schreiendem Unrecht zu bezeichnen.

Über wenige Dinge diskutiert man in Deutschland aufgebrachterals über angeblich ungerechte Strafgerichtsurteile. Das Vertrauen in die Justiz bröckelt unter Schlagzeilen wie »Kinderschänder wieder frei – nur zwei Jahre auf Bewährung!« Aus der Ferne spielen viele Menschen gerne Richter und bewerten Ergebnisse von Strafverfahren, deren Details und Hintergründe sie meist nicht kennen. Trotzdem ist ihr Urteil schnell gefällt: Die Justiz habe versagt, sei zu täterfreundlich und lasse sich von Verbrechern auf der Nase herumtanzen.

Nehmen wir doch ein klassisches Stammtischthema: Ein »Kinderschänder« bekommt zwei Jahre mit Bewährung, ein Steuerhinterzieher drei Jahre Haft. Den Schwerverbrecher lässt man laufen, den kleineren Übeltäter...

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