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Schritte über uns hinaus I (Schritte, Bd. 1)

Gesammelte Reden und Aufsätze I

AutorRobert Spaemann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl376 Seiten
ISBN9783608103007
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die moderne Weltanschauung ihrer inneren Widersprüchlichkeit zu überführen, ist ein Leitmotiv des Philosophierens von Robert Spaemann: Dem philosophischen Denken geht es um etwas jenseits seiner selbst. Und dass es ihm überhaupt um etwas geht, denn es verbindet den Menschen mit allem Lebendigem. Diese philosophische Haltung zeigt sich in seinem Gespräch mit den Großen der Philosophie und wird zum roten Faden seines Opus, dessen essayistischer Teil in Form von Reden und Aufsätzen der letzten 60 Jahre in diesem Band vorliegt. Ihre Lektüre bereitet zudem Vergnügen. 'Die Zeit' nennt Spaemann den das beste Deutsch schreibenden lebenden Philosophen.

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg, promovierte 1952 in Münster, war Verlagslektor und wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich 1962 für Philosophie und Pädagogik in Münster. 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an der TH Stuttgart und den Universitäten Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Er hatte zahlreiche Gastprofessuren inne und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden. Träger des Karl-Jaspers-Preises 2001 der Stadt und der Universität Heidelberg.

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Leseprobe
Versuche, das Ganze zu denken. Anstelle eines Vorworts Vorbemerkungen Dass wir niemals einen Schritt über uns hinaus tun, diesen Satz David Humes finde ich bei Durchsicht meiner Texte aus den letzten Jahren immer wieder zitiert. Er erscheint mir als ein Schlüssel zur modernen Weltanschauung. Allerdings ist er widersprüchlich, denn wenn er wahr wäre, könnten wir ihn nicht aussprechen und von seiner Wahrheit nicht wissen. Aber er ist suggestiv. Die Reflexion, die ihm zugrunde liegt, scheint ja unwiderstehlich. Auch das Jenseits unseres Denkens ist ja selbst wieder ein Gedanke. Und das Wohlwollen gegenüber anderen kann jederzeit uminterpretiert werden zu meinem Interesse an jener Befriedigung, die ich in diesem Wohlwollen finde, Gedanken aber und Interessen zu Zuständen von Gehirnen. Husserls »Logische Untersuchungen« von 1900 mit ihrer Kritik des Psychologismus haben - trotz der phänomenologischen Bewegung, die sie auslösten - die Richtung des Mainstream nicht umkehren können. Die dank dem Interesse des Verlages Klett-Cotta in dieser Sammlung erneut vorgelegten Texte aus mehr als sechs Jahrzehnten haben miteinander gemein, dass sie diesem Mainstream entgegenstehen - aus theoretischen, aber auch aus »existentiellen« Gründen. Der Gedanke der Menschenwürde scheint mir nämlich zu stehen und zu fallen mit der wenn auch noch so eingeschränkten Wahrheitsfähigkeit und der wenn auch noch so eingeschränkten Liebesfähigkeit des Menschen. Wichtig ist nur, sich klarzumachen, dass das selfish system ausschließlich auf einer Entscheidung beruht, einer grundlosen Entscheidung. Während die entgegengesetzte Denkweise eigentlich keiner Entscheidung bedarf, weil sie dem spontanen Selbstverständnis unser aller als Denkender und Handelnder entspricht, einem Selbstverständnis, das sich nur durch eine die Phänomene aushebelnde Reflexion selbst zum Verschwinden bringen kann. 4 Metaphysik oder Funktionalismus Ich habe zum Verständnis jenes Geschehens der Moderne, in das wir alle verwickelt sind, stets zwei Weisen des Zugangs gesucht. Die eine ist die Geistesgeschichte. In meiner Dissertation von 1951 über de Bonald, die unter dem Titel »Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration« 1959 erschien und 50 Jahre später in Italien, Spanien und Frankreich übersetzt wurde und eine Diskussion auslöste, versuchte ich zu zeigen, dass erst in der Kritik an der Französischen Revolution und an der sie vorbereitenden Ideologie die Moderne ihre spezifische theoretische Gestalt gewinnt. »Die Restauration«, so schrieb ich damals, »vermag den Zirkel der modernen Gesellschaft nicht zu durchstoßen, sie gerät nur tiefer in ihn hinein.« Metaphysik wird abgelöst durch eine soziologisch-funktionale Begründung der Notwendigkeit ihrer Erhaltung. »Ecarter Dieu comme irreligieux« hat dann bald darauf Comte gefordert: Funktionalismus, Rationalisierung als Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung, das waren die ersten Hilfsbegriffe der Selbstverständigung über das, was Moderne heißt. 5. Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus Mein zweiter Zugang zum Phänomen der Moderne ist ein spontaner Widerwille gegen die Uminterpretation unseres natürlichen Selbstverständnisses, die Vergessen verlangt. Philosophie ist Widerstand gegen dieses Vergessen, Erinnerung. Nicht als irrationaler Impuls zur Mimesis einer Natur, von der man gar nicht sagen kann, worin ihre Verletzung bestünde, sondern als denkender Vollzug einer teleologischen Struktur, als Bewegung, die den Anfang in der Gegenwart anwesend hält. Eine nichtteleologische Natur kann ja gar nicht verletzt werden. Sie ist eben nur der Anfang, der dadurch definiert ist, dass man sich von ihm entfernen muss: exeundum e statu naturali . Indem Philosophie den Anfang als arche, als Prinzip, als Maßstab des Weges erinnert, ist sie Vergegenwärtigung der verborgenen Voraussetzungen der Moderne und holt diese zurück in einen Horizont, der sie mit allen anderen Epochen verbindet, ihre selbstbescheinigte Inkommensurabilität nicht gelten lässt. ?Niklas Luhmanns Herausforderung der Psychologie (1989)? Das Werk von Luhmann ist meines Erachtens eine der wichtigsten Herausforderungen der Philosophie heute. Es zwingt die Philosophie - mehr noch als der biologische Materialismus -, das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung neu zu denken. Philosophie kann auf letzte Gedanken nicht verzichten sie diese denkt, verteidigt sie den Anspruch von jedermann, seine Selbstachtung auch dann ernst nehmen zu dürfen, wenn er über ihre Funktion nachzudenken beginnt. Aber Unmittelbarkeit im Denken des Unbedingten ist nur dann etwas anderes als ein Sich-dümmer-Stellen, als man sein könnte, wenn sie sich auf das eigene Vermitteltsein und Bedingtsein ohne Vorbehalt einlässt. In der reflektiertesten Form geschieht dies heute, wenn man Luhmann liest. Luhmann ist gewissermaßen der Musil der gegenwärtigen Humanwissenschaft. Sein Idealtypus ist weder der homo religiosus noch der homo oeconomicus oder faber , es ist der Mann ohne Eigenschaften. ?Was ist eine gute Religion? (2007)? Eine gute Religion - vielleicht ist das jene, von der wir wünschen, dass sie wahr wäre. Dieser Wunsch beweist nicht die Wahrheit. Er ist aber auch kein Indiz für ihre Unwahrheit, wie Ernst Tugendhat glaubt (vgl. »Von der Notwendigkeit und Unmöglichkeit eines religiösen Glaubens«, im unten angegebenen Band S. 92 - 101 ). Denn das würde ja voraussetzen, dass die Wahrheit auf jeden Fall unerfreulich ist. Das Gegenteil ist doch wohl richtig. Wir sind zwar zum wishful thinking geneigt, und das führt uns oft in Illusionen. Aber doch nur, wo es sich um kontingente - zufällige - Wahrheiten handelt. Mit Wünschen, die für den Menschen konstitutiv sind, ist es doch eher so, dass sie ein starkes Argument für die Wahrheit des Gewünschten sind. Die Oase in der Wüste kann ein Wahngebilde sein, dem der Durstige nachjagt. Aber dass Menschen Durst haben, ist ein Beweis dafür, dass es Wasser gibt. Ohne Wasser gäbe es so etwas wie Durst gar nicht. Kann nicht das unsterbliche Gerücht von Gott eine Weise Gottes sein, sich bemerkbar zu machen? Wie sähe also eine uneingeschränkt wünschenswerte Religion aus? Sie würde zunächst lehren, dass - entgegen häufigem Augenschein - die absolute Macht gut, ja dass sie in ihrem Wesen Liebe ist - was sie nur sein kann, wenn sie in sich selbst bereits die Struktur einer interpersonalen Beziehung hat. Oder auch umgekehrt, dass die Liebe allmächtig ist, dass sie »die Sonne bewegt und die anderen Sterne«, wie es zum Beschluss von Dantes »Divina Commedia« heißt. Gott kann nur der Sinngeber unseres Lebens sein, wenn er der Schöpfer der Welt ist. Sonst reicht seine Macht nicht aus, der Welt ein Ziel und einen Sinn zu geben. Die gute Religion würde lehren, dass es deshalb möglich ist, bedingungslos zu lieben und sich selbst loszulassen, ohne Angst haben zu müssen, dabei der Dumme zu sein und den Kürzeren zu ziehen. Sie würde, ähnlich wie Platon, die Einheit von Gutsein und Glücklichsein lehren und, angesichts überwältigender Gegenargumente, ein Endgericht, in dem alle Dinge so erscheinen, wie sie wirklich sind, wo jeder erfährt, was seine Taten wert sind, wo Gutsein gut und Bösesein weh tut, wo den Barmherzigen Barmherzigkeit widerfährt, den Unbarmherzigen Unbarmherzigkeit. Die gute Religion würde aber zugleich Verzeihung versprechen für jeden, der selbst zu verzeihen bereit ist und der begriffen hat, dass er selbst der Verzeihung bedürftig ist. Und diese Religion würde ihre Gläubigen in einer realen Gemeinschaft miteinander verbinden, einer prinzipiell allen offenstehenden »Menschheitsfamilie unter Gott«, einem »Reich Gottes«. Und sie würde lehren, dass nicht der Tod, sondern das Leben das letzte Wort hat. Das widerspricht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Satz von der unweigerlichen Zunahme der Entropie. Dieser gilt allerdings nur in geschlossenen Systemen. Die bestmögliche Religion wäre der Glaube, dass die Welt kein geschlossenes System ist, sondern dass das Absolute, der Schöpfer der Welt, selbst in diese Welt eingetreten ist und sich mit dem Menschen in einer unauflöslichen Einheit verbunden hat. Es gehört schließlich zu einer besten Religion, dass sie für den Glauben, dass es sich tatsächlich so verhält, wenn nicht zwingende, so doch gute Gründe hat. Andere Religionen wären dann besser oder schlechter je nach Nähe zu dieser bestmöglichen. Sie wären mehr oder weniger gelungene Bemühungen einer Annäherung an die Gottheit. Sie wären wie jenes Brett, von dem Sokrates sagt, es sei gut, auf ihm durch das Meer des Lebens zu schwimmen, »solange nicht jemand auf einem göttlichen Logos sicherer fahren kann«. Die beste Religion wäre die Fahrt auf diesem göttlichen Schiff.
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