2 Verhaltensstörungen und ihr Umfeld
Wie man sich die Entstehung von
Verhaltensstörungen erklären kann
In der Einleitung waren Probleme erörtert worden, die im Zusammenhang mit der Anwendung pädagogisch-therapeutischer Methoden in der schulischen Erziehungshilfe stehen. In diesem Kapitel soll nun geklärt werden, um welche Zielgruppenprobleme es geht, an wen sich also die später dargestellten Methoden richten. Wir haben danach zu fragen:
- Welche Begriffe sind für die Zielgruppe optimalerweise zu verwenden?
- Wie sind Verhaltens- bzw. emotionale Störungen zu definieren?
- Welche theoretischen Perspektiven erklären die Entstehung dieser Störungen?
2.1 Definitionsprobleme
An erster Stelle ist in diesem Kapitel die Frage zu klären, was unter einer Verhaltens- bzw. einer emotionalen Störung zu verstehen ist. Dazu ist zuvor die Begrifflichkeit – Verhaltens- bzw. emotionale Störung – zu klären, die für diesen Text maßgeblich sein soll. Es gibt nämlich die unterschiedlichsten Bezeichnungen, die in der Fachwelt verwendet werden, wie z.B.:
- Verhaltens- bzw. emotionale Störung,
- Verhaltensauffälligkeit,
- emotionale Fehlanpassung,
- psychiatrische Auffälligkeit,
- psychosoziale Störung,
- Erziehungshilfebedarf.
Keiner dieser Begriffe kann für sich in Anspruch nehmen, den Gegenstand optimal zu bezeichnen. In diesem Band wird für die Bezeichnung „Verhaltens- und emotionale Störung“ auch die Kurzform „Verhaltensstörung“ verwendet, weil damit dem internationalen Sprachgebrauch gefolgt und Sprachökonomie berücksichtigt wird. Die Bezeichnung deckt zudem logisch-inhaltlich ein weites Spektrum an Störungen ab, die entweder auf ungenügendes soziales und personales Lernen zurückgehen oder inhärente Psychopathologien mit eher psychiatrischer Natur betreffen.
Wenn damit eine Entscheidung für die Begrifflichkeit gefallen ist, stellt sich als Nächstes die Frage nach der Begriffsbestimmung, eine Frage, die in der Fachliteratur viele Antworten findet. Warum „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ so unterschiedlich definiert werden kann, liegt an der wenig objektivierbaren Natur dieses Gegenstandes: In jeden Definitionsversuch gehen nämlich unterschiedliche Erziehungsphilosophien, Menschenbilder, wissenschaftliche Paradigmen und letztlich auch Subjektivismen ein. Je nach Arbeitsfeld der Fachleute muss die Antwort also unterschiedlich ausfallen. So wird ein Psychoanalytiker bei einer Verhaltensstörung an eine inadäquate Ich-Entwicklung denken, ein Verhaltenstherapeut verfehltes Lernen für ausschlaggebend und ein Psychiater abnormale Persönlichkeitsentwicklungen für entscheidend halten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es eine alles umfassende Definition für „Verhaltens- bzw. emotionale Störung“ nicht geben kann.
International haben sich zwei Definitionen durchgesetzt, für die der pragmatische Zugriff und die weitgehende Operationalisierbarkeit der verwendeten Begriffe sprechen.
Ein länger zurückliegender Definitionsversuch stammt von Bower (1981). Es handelt sich hier um eine Merkmalsdefinition, nach der man dann von einer Verhaltensstörung spricht, wenn
- eine Störung des Lernens vorliegt, die nicht auf intellektuelle, sensorische oder gesundheitliche Faktoren zurückgeführt werden kann,
- eine Unfähigkeit vorliegt, befriedigende soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten,
- unangepasste Verhaltensweisen oder unangemessene Gefühle auftreten, auch wenn die Umstände dazu keinen Anlass geben,
- eine generalisierte negative Dauerstimmung oder Depression den Alltag kennzeichnen,
- tendenziell psychosomatische oder Angstsymptome entwickelt werden, die zusammen mit persönlichen und schulischen Problemen auftreten.
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wichtigsten, empirisch ermittelten Merkmale einer Verhaltensstörung widerzuspiegeln. Von Nachteil ist allerdings, dass die Symptome additiv nebeneinandergesetzt erscheinen und unverbunden sind; man weiß also nicht, wie viele der genannten Merkmale in welcher Ausprägung zusammenkommen müssen, damit das Definitionskriterium einer Verhaltensstörung erfüllt ist. So entscheidende Kriterien wie das Entwicklungsalter, Nachbarschaft und soziales Milieu oder die Normenproblematik werden ebenfalls nicht thematisiert.
Eine andere Definition, die diese Probleme zu überwinden sucht, geht auf eine US-amerikanische Vorlage des Council for Children with Behavioral Disorders zurück und ist z.B. für das Bundesland Brandenburg maßgeblich geworden (Goetze 2001, 17):
Der Begriff der emotionalen Störung oder Verhaltensauffälligkeit bezeichnet eine soziale Behinderung, die durch abweichende Verhaltens- oder sozial-emotionale Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen gekennzeichnet ist. Die Normabweichungen in entwicklungsbezogener und gesellschaftlicher (kultureller, ethnischer) Hinsicht lassen die weitere Bildung und Erziehung des Schülers bzw. der Schülerin als gefährdet erscheinen. Symptomatisch sind im Allgemeinen sozial-emotionale und schulleistungsbezogene Störungen.
Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit tritt über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) in mehreren (mindestens zwei) Lebensbereichen auf, wovon einer die Schule ist, und ist also mehr als eine zeitlich begrenzte Reaktion auf besondere Stressereignisse; eine emotionale Störung bzw. Verhaltensauffälligkeit ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie mit den Möglichkeiten der allgemeinen Schule nicht ausreichend abgebaut werden kann. Eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit kann in der Regel durch ein abgestuftes Fördersystem so weit abgebaut werden, dass Betroffene möglichst unter Regelbedingungen unterrichtet und zu einem qualifizierten Schulabschluss geführt werden.
Wie man dieser Definition entnehmen kann, geht es einerseits um Abweichungen von gesellschaftlichen Normen, andererseits um länger andauernde personale Symptome, die nicht auf identifizierbare Stressereignisse zurückgeführt werden können; schließlich soll eine Verhaltensstörung in zwei unterschiedlichen Settings auftreten, wovon eines die Schule ist. Es ist auch festgelegt, dass die Regelschule mit den ihr eigenen Ressourcen augenscheinlich das pädagogische Problem zu lösen nicht in der Lage ist – man denke nur an Kinder mit extrem ausgeprägten psychiatrisch zu behandelnden Symptomen, die oft nicht einmal zeitweise integrativ beschult werden können. Als weiteres Kriterium tritt hinzu, dass Verhaltensstörungen auch in Verbindung mit anderen Behinderungen oder Störungen auftreten können. Eingeschlossen sind ausdrücklich psychiatrische Auffälligkeiten wie affektive Störungen.
Diese Definition kann für sich in Anspruch nehmen, die wesentlichen Aspekte abzudecken. Entscheidend ist die letzte Aussage, dass sämtliche sonderpädagogischen Bemühungen darauf auszurichten sind, einen qualifizierten Schulabschluss zu ermöglichen; denn zu leicht kann dieser zentrale Aspekt aus dem Blickwinkel geraten, wenn die Anwendung pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen, wie sie im Hauptteil dieses Buches dargestellt werden, allein der psychosozialen Rehabilitation dienen, ohne dass der junge Mensch auch für seine berufliche Zukunft fit gemacht wird.
2.2 Theoretische Zugänge
Nachdem eine längere Begriffsbestimmung für eine Verhaltens- bzw. emotionale Störung diskutiert worden ist, sollen nun knapp einige theoretische Perspektiven erörtert werden, denen die im Hauptteil dieses Buches diskutierten Methoden zugrunde liegen.
In der Fachliteratur wird ein breites, auch zahlenmäßig umfängliches Spektrum an theoretischen Konzepten diskutiert. Um die Leserschaft dieses Bandes knapp zu orientieren und nicht mit einer Überfülle an Informationen zu konfrontieren, werden die drei bedeutsamsten theoretischen Perspektiven nach Newcomer (2003) vorgestellt, die dann auch zum Verständnis der Interventionen notwendig sind:
- Verhaltensstörung als Pathologie der Person,
- Verhaltensstörung als sozio-kulturelle Abweichung,
- Verhaltensstörung als Ergebnis der Entfremdung von sich selbst.
2.2.1 Verhaltensstörung als Pathologie der Person
Unter dem Etikett der Pathologie werden Verhaltensstörungen als Erkrankung verstanden, die sich nach außen hin als Verhaltenssymptome äußern. Verhaltensweisen tragen dann gewissermaßen Signalcharakter und geben zu erkennen, dass innerhalb des Organismus nach außen nicht sichtbare Störungen vorhanden sind. Wenn die Verhaltensstörung als Krankheit begriffen wird, dann wird die betroffene Person nicht für ihre Störung und damit für ihr Verhalten verantwortlich zu machen sein, sie wird von Antrieben gesteuert, die außerhalb der Reichweite ihrer Kontrolle liegen, die entweder – physiologisch – durch neuronale Bedingungen oder – psychoanalytisch – durch ihr Triebschicksal verursacht sind. Es muss also ungünstige Bedingungen gegeben haben, die im weiteren Verlauf zu pathologischen Erscheinungen geführt oder sie zumindest ausgelöst haben.
Eine Verhaltensstörung wird also als Symptom gesehen, hinter dem sich Ursachen verbergen, die von außen nicht ohne...