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Grundfragen schulischer Prävention
2.1 Welche allgemeinen Aspekte präventiven Handelns gelten auch für präventive schulische Maßnahmen?
Das Thema Prävention von Lernschwächen bzw. von Lernstörungen und Verhaltensstörungen ist Forschungs- und Diskussionsgegenstand in verschiedenen Wissenschaftsgebieten, insbesondere in der Medizin, Psychologie, allgemeinen Pädagogik, in Fachdidaktiken und in der Sonderpädagogik. Der Begriff „Prävention“ wird innerhalb und zwischen diesen Disziplinen nicht einheitlich verwendet und unterliegt zudem einem zeitlichen Wandel (Herriger, 1986). Im Kontext schulischer Prävention ist insbesondere die seit längerem geführte sozialwissenschaftliche Debatte um Prävention interessant. Am Begriff „Prävention“ haftet in der sozialwissenschaftlichen Literatur eine überwiegend positive Konnotation. Nur vereinzelt finden sich kritische Stimmen gegenüber der Idee einer umfassenden Vorbeugung. So weist beispielsweise Göppel (1991) auf problematische Ausprägungen des präventiven erzieherischen Handelns in verschiedenen Epochen hin („Ausmerzen von Kinderfehlern“, antiautoritäre Erziehung als Neurosenvorbeugung). Herriger (1986) sieht die Gefahr einer Steigerung der staatlichen sozialen Kontrolle durch Förderprogramme und Schrottmann (1990) wirft die Frage auf, ob es verantwortbar sei, Personen, die aktuell frei von deutlichen Symptomen sind, Maßnahmen zu unterziehen, die in die Privatsphäre des Einzelnen eingreifen. Mehrheitlich wird Prävention in den Sozialwissenschaften aber eher als eine vielversprechende Handlungsmöglichkeit angesehen.
Es stellt sich die Frage, was unter Prävention konkret verstanden wird. In der Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur fällt zunächst die Vielzahl erläuternder sowie angrenzender Begriffe auf:
- primäre, sekundäre, tertiäre Prävention (Caplan, 1964),
- personen- und systemorientierte Prävention (Schrottmann, 1990; Mörtl, 1989),
- Verhältnis- und Verhaltensprävention (Wember, 2000),
- aktive und passive Prävention (Brandstädter & Eye, 1982),
- spezifische und unspezifische Prävention, Grundprävention, Gesundheitsförderung (Faltermeier, 1999, Hartke, 2000a; 2000b),
- professionelle und eigeninitiative Prävention (Mörtl, 1989),
- home based, center based, community based prevention (Perrez, 1994),
- Optimierung (Enrichment), Prävention, Beratung/Therapie, Rehabilitation (Perrez, 1994),
- Frühförderung und kompensatorische Erziehung (Sarimski, 2000; Wember, 2000).
- Universelle, selektive, indizierte Prävention (Gordon, 1983, Franzkowiak, 2008).
Die wesentlichen Begriffe werden im Folgenden erläutert.
Caplan schlug 1964 vor, primäre, sekundäre und tertiäre Prävention zu unterscheiden. Die Einteilung hat sich in der Fachdiskussion weitgehend durchgesetzt und wird international verwendet (Caplan, 1964; Goetze, 1991c, 2001; Hartke, 2000a; 2000b; Brandstädter & Eye, 1982; Cowen, 1984);
- primäre Prävention: „… involves lowering the rate of new cases of mental disorder in a population, over a certain period by counteracting circumstances before they have had a chance to produce illness“ (Caplan, 1964, S. 26),
- sekundäre Prävention: „… is the name given by public health workers to programs which reduce the disability rate due to a disorder by lowering the prevalence of the disorder in the community“ (S. 89),
- tertiäre Prävention: „… reducing the rate residual defect, the lowered capacity to the occupational and mental disorder has ended” (S. 113).
Die Einteilung von Caplan ist in verschiedener Hinsicht kritisiert worden. Exemplarisch ist hier die Kritik von Brandstädter (1982b) wiedergegeben. Brandstädter arbeitet heraus, „dass es sich bei den Konzepten der (spezifischen oder unspezifischen) primären, sekundären und tertiären Prävention keineswegs um scharfe Ordnungsbegriffe handelt. Beispielsweise mag eine Krisensituation als sekundärpräventive Intervention aufgefasst werden, wenn als Ziel dieser Maßnahme etwa die Reduktion krisenbedingter oder anderweitiger situationsbezogener Störungen ins Auge gefasst wird, dieselbe Maßnahme mag aber auch primärpräventiv gelten, wenn ihr die weitergehende Hypothese zugrunde liegt, dass krisenspezifische Störungen Vorläuferbedingungen anderer womöglich gravierender psychischer oder somatischer Probleme sind, und wenn als Interventionszweck eben die Vermeidung solcher Probleme betrachtet wird. In Anbetracht der Vielschichtigkeit interventionsleitender Zwecksysteme ist es ohne weiteres denkbar, dass ein und dieselbe Maßnahme gleichzeitig unter primär- und sekundärpräventiven Aspekten gesehen werden kann“ (S. 39).
Die Unterscheidung zwischen sekundärer und tertiärer Prävention kann ebenfalls schwierig sein, weil die Unterscheidung zwischen Fördermaßnahmen für Gefährdete und Folgeschäden vermeidende Programme nicht immer trennscharf vorgenommen werden kann. Die Übergänge zwischen den Phasen nach Caplan (1964) sind also fließend. Dennoch bietet dieser Ordnungsversuch für Fördermaßnahmen Vorteile, weil ein sonst sehr unübersichtliches Praxisfeld nur bedingt in Teilbereiche differenziert analysiert werden könnte. Außerdem erleichtern Caplans Stufen über Prävention die Kommunikation unter Fachpersonen, obwohl anzumerken ist, dass die Terminologie Caplans von anderen Autoren oft eher nur sinngemäß übernommen wurde. Deshalb empfiehlt es sich, in jeder Veröffentlichung, in der diese Begriffe auftauchen, die jeweilige Interpretation kritisch zu erschließen. Ähnlich verhält es sich mit weiteren, Prävention erläuternden, Begriffen.
Die Gegensatzpaare subjekt- und systemorientierte bzw. Verhaltens- und Verhältnisprävention oder auch personen- und umweltzentrierte Prävention weisen auf grundsätzliche Unterschiede von Programmen hin. Kompetenztrainings oder Psychotherapie unterstützen die psycho-soziale Verfassung des einzelnen, während beispielsweise Plätze in Kindertagesstätten und Kinderhorten bzw. Freizeitbetreuungen allgemeine Lebensbedingungen für Familien verbessern. Hinter diesen unterschiedlichen Ansatzpunkten für präventives Handeln stehen unterschiedliche theoretische Auffassungen über psycho-soziale und pädagogische Probleme und deren Bewältigung. Individuenzentrierte Theorien, insbesondere sozial-kognitive Modelle sowie Modelle der Informationsverarbeitung, heben auf Möglichkeiten der Steigerung der Kompetenzen von Personen sowie der Förderung der Widerstandsfähigkeit von Personen gegenüber psycho-sozialen Belastungen ab. Umweltzentrierte Theoriebildung unterstützt bei der Identifikation von belastenden oder wenig hilfreichen Umweltbedingungen im Umfeld eines Kindes. Interaktionistische, systemische Theoriebildung unterstützt die Reflexion über Austauschprozesse und Wechselwirkungen zwischen Personen und sozialem System, fördert die kritische Betrachtung der ungeschriebenen Regeln und Rollen, die in einer Familie, einer Klasse, einer Schule, einer peer-group sowie zwischen Helfern gelten (Becker, 1980; Brandstädter & Eye, 1982). Unter der Voraussetzung, dass es sich bei diesen wissenschaftlichen Ansätzen nicht um sich ausschließende Alternativen, sondern um komplementäre Zugänge zur Prävention handelt, folgt hieraus für die Konzeptionierung von Präventionsprojekten: Es erscheint sowohl eine Arbeit mit Personen an ihren Kompetenzen als auch an der Verbesserung von Verhältnissen, in denen diese Personen leben, angezeigt zu sein. Projekte, die auf einem „Entweder-oder-Denken“ der Mitarbeiter aufbauen, werden vermutlich bei einer Vielzahl von Kindern nicht die gewünschten Effekte erzielen. Ein rein individuelles Training von Problemkindern und -jugendlichen ohne Umfeldveränderungen kann sich hinsichtlich seiner Effekte schnell abnutzen. Hierfür sprechen insbesondere die Forschungsergebnisse von Bronfenbrenner (1974) zum Head Start Programm sowie deren Replikation durch White (1985/86). Mörtl (1989) erläutert den komplementären Zusammenhang von System- und Personenorientierung mit dem Beispiel der Stress-Immunisierung und -Reduzierung. Stress-Reduktion beinhaltet die Beseitigung von störenden, krank machenden Faktoren in der Umwelt, während Stress-Immunisierung darauf abzielt, einzelne Personen widerstandsfähiger zu machen. Brandstädter (1982b) spricht in diesem Zusammenhang von aktiver und passiver Prävention. Mit aktiver Prävention sind Maßnahmen gemeint, die auf die Beseitigung problemproduzierender Faktoren in der Umwelt abzielen. Als passive Präventionsmaßnahmen bezeichnet er demgegenüber Maßnahmen, „die dem zu schützenden Objekt oder System Eigenschaften verleihen, welche es gegenüber äußeren Störgrößen unempfindlich machen, bzw. Maßnahmen, die es durch die Unterbrechung von Wirkungsketten von kritischen Einflussgrößen abschirmen“ (S. 45).
Die Unterscheidung zwischen spezifischer und unspezifischer Prävention hebt auf Unterschiede in der Zielgruppe und dem Kenntnisstand über Ursachen und Handlungsmöglichkeiten bei einem Problem ab. Spezifische Prävention setzt relativ genaue...