1. Einführung – Menschheit unter der Schuld-Wolke
Im Zentrum des Bildes war nichts als ein schwarzer Strudel, der alles in die Tiefe riss – die Farben und mit ihnen jede Lebensfreude. Maria hatte während ihres schweren Depressionsschubs, der über mehrere Monate andauerte, wieder begonnen zu malen. Doch solange sie mittendrin steckte, half auch der künstlerische Bewältigungsversuch kaum. Maria wollte sich nur noch unter dem Schutz der Bettdecke verkriechen – unterbrochen von hektischem Surfen im Internet. Freizeit, gutes Wetter, Natur und Bewegung brachten keine Linderung – es herrschten nur Hoffnungslosigkeit, innere Qual und »Schwärze«. Was wartete am tiefsten Punkt dieses Strudels? Es war der Tod. Maria fühlte sich, als habe eine Macht von ihr Besitz ergriffen, die sie zwingen wollte, bis zu dem Punkt völliger Verelendung und Selbstzerstörung hinabzusteigen.
Ich war erschrocken, als mir Maria, mit der ich lange nur lockeren Kontakt gehalten hatte, von ihren vergangenen Monaten erzählte. Nach einer langen Odyssee hatten erst Medikamente und die Unterstützung durch liebe Menschen sie wieder in hellere Regionen führen können. Als wir über Details ihrer depressiven Episode redeten, merkte ich, dass ein Thema dabei immer wieder mitschwang: Scham und Schuld. Schuldgefühle waren sowohl Ursache als auch Symptome der Depression. Schon der Anfang von Marias Leben war – für sie natürlich zunächst unbewusst – mit dem Leid eines anderen Menschen belastet: Maria war das vierte Kind ihrer Mutter. Diese hatte einen kleinen Kropf, und mit jedem Kind wuchs er stärker nach innen und drückte auf die Luftröhre. Die Atemnot über Wochen auszuhalten war irgendwann nicht mehr möglich. Wegen der Schwangerschaft gab es während der Halsoperation keine Narkose, sondern nur örtliche Betäubung.
Maria wurde sich dieses Zusammenhangs erst viel später, in einer Art therapeutischer Traumreise, bewusst. Hinzu kam, dass ein viertes Kind die Familie in zusätzliche finanzielle Schwierigkeiten brachte. Auch dies wurde, wie vieles im religiösen Elternhaus Marias, nicht offen ausgesprochen, war aber nichtsdestotrotz atmosphärisch spürbar. Beschränkung und finanzielle Not waren der Alltag.
Eine weitere Belastung erfuhr Maria durch ihren Vater. Er musste Kriegserlebnisse verarbeiten, über die er aber den Mantel des Schweigens breitete. Nie wurde deutlich, was damals geschehen war. Offen zutage lag jedoch die ausgeprägte Religiosität des Vaters, seine Fixierung vor allem auf die Themen Schuld und Höllenstrafe. Maria musste schon mit sieben Jahren den »Beichtspiegel« auswendig lernen und begann selbst kleine Schwächen an sich argwöhnisch und streng zu beobachten. Alle Kinder wurden täglich um 7 Uhr morgens zur Frühmesse geschickt. »Das Gefühl nach der Beichte war: Jetzt bin ich ›rein‹«, erzählt sie. »Aber kaum waren ein paar Tage vergangen, hatte ich schon wieder das Gefühl, ›unrein‹ zu sein.«
Zusammenhänge zwischen dem frühkindlich suggerierten Thema Schuld und Marias depressiven Schüben können kaum bewiesen, allerdings mit gutem Grund vermutet werden. Zusammenfassend sagt sie: »Wenn ich so zurückschaue auf mein Leben, dann habe ich den Eindruck, mehr depressiv als gut drauf gewesen zu sein – auch zwischen den inzwischen sechs Episoden.« Sicher ist, dass Schuldgefühle und Selbstvorwürfe während der schweren Depression eine wichtige Rolle spielten. Sie standen geradezu im Zentrum eines quälenden inneren Monologs. Maria fühlte sich in solchen Zuständen wertlos und als Versagerin. Hinzu kam eine Leistungsschwäche, die in ihr das Gefühl verstärkte, anderen eine Last zu sein. Letztlich fühlte sich Maria auch noch deshalb schuldig, weil sie aus der Krankheit nicht mehr herausfand – als wäre dies nur auf Schwäche zurückzuführen. Ein Arzt und bestimmte spirituelle Ratgeber verstärkten dieses Versagensgefühl, indem sie von Maria forderten, sich »zusammenzureißen«, oder behaupteten, jeder habe sein Schicksal selbst »kreiert«. Nicht nur, dass sie als Depressive scheinbar ohnehin ein »Loser« war – Maria versagte auch noch darin, die therapeutischen Ratschläge, die sie erhielt, erfolgreich umzusetzen. Ein Teufelskreis, aus dem sie erst durch Psychopharmaka wieder herausfand.
Marias Beispiel ist besonders drastisch, jedoch ist die hier skizzierte Dynamik kein Einzelfall. Ein vielschichtiger Zusammenhang zwischen bewussten wie unbewussten Schuldgefühlen und seelischen Leiden ist bei vielen Menschen gegeben – mögen die Details ihrer Geschichte auch anders sein, und mag sie ihre Krankheit auch nicht an den Rand des Selbstmords gebracht haben.
Die Menschheit lebt unter einer schwarzen und drückenden Schuld-Wolke. Wie jede Wolke hindert uns auch diese oft daran, die Sonne zu sehen. Schuldgefühle machen uns müde, traurig und ängstlich, womit auch schon drei »Volkskrankheiten« benannt sind, deren Besorgnis erregende Zunahme in den letzten Jahren oft durch die Presse gegangen ist: Burnout, Depressionen und Angststörungen. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Schuldgefühle machen uns klein. Sie lassen uns zutiefst an unserem Wert zweifeln, und wir werden unsicher, ob wir es überhaupt verdienen, glücklich zu sein. In der Folge laufen viele von uns als Schatten dessen herum, was sie eigentlich sein könnten. Schuldgefühle haben eine ähnliche Wirkung wie die gespenstischen »Dementoren«, die in den Harry-Potter-Büchern als Gefängniswärter fungieren: Ihre Gegenwart laugt aus, sie raubt den Eingesperrten alle Kraft und allen Lebensmut, nur noch ein Gefühl schwärzester Trostlosigkeit bleibt übrig.
Es wäre sicher falsch, pauschal zu behaupten, dass Schuldgefühle die Ursache aller anderen psychischen Störung seien. Dies muss natürlich in jedem Einzelfall untersucht werden. Auffällig ist jedoch, dass das Thema im psychologischen Zusammenhang wenig zur Sprache kommt – auch nicht in Ratgeberbüchern, die sich mit Potenzialentfaltung, Heilung und verschiedenen Formen der Energiearbeit befassen. Dabei liegt der Zusammenhang sehr nahe:
- –Wer sich schuldig fühlt, wird Anstrengungen unternehmen, dies unbewusst durch Leistungen zu kompensieren. Außerdem hilft Arbeit beim Verdrängen. Wer mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, läuft also Gefahr, sich zu überanstrengen (Thema Burnout).
- –Wer sich schuldig fühlt, bremst sich in seiner Lebenslust, Tatkraft und Energie stark aus. Um den Schmerz zu bekämpfen, der mit der Erinnerung an eine »dunkle Vergangenheit« und an die damit verknüpfte Verachtung der Mitmenschen verbunden ist, wird er Wege suchen, die Intensität seiner Gefühle zu reduzieren. Er wird auf Sparflamme leben oder – anders ausgedrückt – in einer vereisten Welt ohne Farben und Freude (Thema Depression).
- –Schließlich wird, wer sich schuldig fühlt, stets Angst vor Entdeckung, Verachtung und Strafe empfinden. Auch wo kein juristischer Straftatbestand vorliegt, kann es sein, dass der Mensch unter der Schuld-Wolke um seine Beziehungen und seine gesellschaftliche Stellung bangt oder, wenn er religiös ist, die Strafe Gottes fürchtet (Thema Angststörungen).
Solchen weltlichen und überweltlichen Strafen versuchen viele Menschen durch Selbstbestrafung zuvorzukommen. Ein drastisches Beispiel hierfür ist der Country-Sänger Johnny Cash. Er durchlebte in den 1960er Jahren eine schwere Krise wegen Medikamentenmissbrauchs. Trotz seiner großen Erfolge mit Hits wie »Ring of Fire« war er in seiner Jugend labil und dünnhäutig, trank und kam mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt. Im Oktober 1967 legte er sich in eine Höhle zum Sterben. Mit Hilfe seiner späteren Frau June Carter gelang ihm aber der Entzug, er konnte sein Leben und seine Karriere wieder auf Kurs bringen. Johnny Cash fühlte sich schuldig am Tod seines Bruders Jack, der sich 1944 mit einer Kreissäge tödlich verletzt hatte. Als Johnny damals von einem Ausflug heimkam, begrüßte ihn der Vater mit dem Vorwurf: »Wo bist du gewesen?« Er suggerierte ihm, Jacks Tod durch Abwesenheit, quasi durch unterlassene Hilfeleistung, verschuldet zu haben. Außerdem sei eigentlich der falsche der beiden Brüder gestorben. Cash trug sein Leben lang schwer an dem Vorfall. Auch wenn ein Zusammenhang mit Tablettensucht und Todeswunsch schwer zu beweisen ist, liegt die Schlussfolgerung doch nahe.
Das unausgesprochene Motto einiger Menschen, die mit einem besonders empfindsamen Gewissen ausgestattet sind, lautet: »Je schlechter es mir geht, desto besser für die moralische Ordnung im Ganzen.« Oder: »Je mehr Lebendigkeit ich bei mir unterdrücke, desto eher sind Vergebung und Seelenfrieden möglich.« Das Problem besteht in vielen Fällen darin, dass eine Tat schwer wiedergutzumachen ist. Einen Ast, den wir unabsichtlich abgeknickt haben, können wir nicht wieder ankleben. Eine Narbe, die wir einem Klassenkameraden bei einer Schulhof-Rauferei zugefügt haben, verheilt nie wieder ganz. Versäumte Liebe und Fürsorge an einem Kind kann später nur sehr schwer wieder ausgeglichen werden. Das Kind ist dann schon »in den Brunnen gefallen«. Wir können unser Leben nicht per Fernbedienung zurückspulen, um zu der Situation zu gelangen, bevor wir den entscheidenden Fehler gemacht haben. Dieses Gefühl, dass etwas irreparabel ist, verleitet uns zu der Annahme, dass wir auch unsere Schuld nicht loslassen dürfen – nie mehr. So wie ein Insekt, das wir zertreten haben, auch nach zwanzig und nach fünfzig Jahren nicht weniger tot ist, nimmt eine strenge Instanz in unserer Seele an, dass sich die Schuld mit der Zeit nicht vermindert.
Die »Kunst« liegt nun darin, sich nicht vollständig zum Gefangenen der eigenen Vergangenheit zu machen. Die Frage sollte nicht sein: Was verdient jemand...