Der Narzisst: Die Wut
Herr S. wurde in Nordafrika geboren und verbrachte, als jüngstes von sechs Kindern und einziger Sohn seiner Eltern, die Zeit bis zu seinem sechsten Lebensjahr fast ausschließlich in weiblicher Gesellschaft. Den sporadisch auftauchenden Vater erinnerte er rückblickend nur in blitzlichtartigen Sequenzen als einen ihm fremden Mann, der mit Geschenken kam, von allen bewundert und bedient wurde und nach kurzer Zeit wieder verschwand. Diese Besuche waren eher unangenehm: Während sich sonst alles um ihn drehte, wurde er in Anwesenheit des Vaters fast ignoriert und war daher recht zufrieden, wenn der wieder verschwand.
Als er das sechste Lebensjahr erreicht hatte, wurde schlagartig alles anderes: Zuerst kam eine hektische Betriebsamkeit in die Großfamilie, dann wurde alles Mögliche gepackt, es gab einen tränenreichen Abschied von der Großmutter und den Tanten, und als wieder Ruhe einkehrte, steckten alle in einer kleinen Wohnung mit drei Zimmern, draußen war es furchtbar kalt, er verstand nichts, wenn die Mutter ihn zum Einkaufen mitnahm, und der „fremde Mann“, der doch sein Vater war, wohnte nun offenbar auf Dauer mit ihnen zusammen und war die wichtigste Person im Haushalt, die, nach der sich alle richteten. Vorbei waren die sonnigen Zeiten, in jeder Hinsicht, und es wurde rasch klar, dass die Aussichten düster waren: Sie waren gekommen, um zu bleiben, da konnte er wüten und toben, so viel er wollte. Was zu Hause immer geholfen hatte, um seinen Willen durchzusetzen, funktionierte nun überhaupt nicht mehr, noch schlimmer, der Vater machte sich über ihn lustig. Vollends furchtbar wurde es, als er in die Schule kam, auch da verstand er keinen, die anderen ließen ihn links liegen, und trotz seiner Proteste bestand der Vater darauf, dass er jeden Tag hinging. Wenn er gewusst hätte, wohin er sonst gehen könnte, hätte er die Schule vermieden, aber er kannte sich nirgends aus, und da war das Herumsitzen in der Klasse mit den anderen noch das geringere Übel. Weil er nichts verstand, musste er die erste Klasse wiederholen, aber dann wurde es langsam besser, die Sprache war nun nicht mehr so fremd, er konnte dem Unterricht folgen. Bis zum Schulabschluss war dann eigentlich alles ganz ok, er hatte Freunde, mit denen er nach der Schule herumzog, manchmal demolierten sie irgendwas, nur so, aus Langeweile, einen Müllkübel oder irgendein Fahrrad, oder sie brachen am Wochenende die Zeitungskassen auf. Das war eine gute Idee gewesen, weil man da zumindest ein wenig Geld finden konnte, und das brauchten sie, wenn sie sich Alkohol besorgen wollten. Manchmal ließ zwar einer aus der Gruppe in einem Supermarkt irgendwas mitgehen, aber das war riskant, und für solche Dinge war er nicht geeignet. Wenn die anderen das machten, war es gut, aber seine Sache war das nicht, auch nicht das Einbrechen in irgendwelche Lagerräume, wo sie Bier vermuteten. Mittrinken ja, aber selbst so ein Risiko eingehen, nein danke.
Wie recht er gehabt hatte, zeigte sich, als einer erwischt wurde, das war dann gar nicht mehr lustig, und bei ihm, mit seiner humorlosen Familie, wäre es eine Katastrophe gewesen. Die Familie war überhaupt ein Problem: Die Mutter war zwar ganz brauchbar, was den Haushalt anging, und wenn er etwas von ihr verlangte, dann tat sie das auch sofort; ihr konnte er auch jederzeit das Geld wegnehmen, das sie in ihrer Küchenlade aufbewahrte, die würde ihn nie an den Vater verraten. Die Schwestern waren völlig uninteressant: dumme, gefügige Gänse, die sich nur für ihren Weiberkram interessierten, und der Vater war ein echtes Problem: verzopft, starrsinnig und ein unglaublicher Tyrann. Der hielt nichts vom Trinken und wurde wahnsinnig wütend, wenn er ihn wieder einmal betrunken erwischte. Dann gab es zuerst ein heftige Tracht Prügel und anschließend endlose Predigten über seine Verpflichtungen als gläubiger Moslem. Dabei konnte ihm das ganze Gerede gestohlen bleiben, er hatte schon lange entdeckt, dass er nur auf dem Papier Moslem und im Herzen eigentlich Christ war, mit den anderen in seiner Clique aß er auch Schweinefleisch und konnte überhaupt keinen Sinn darin erkennen, diese Litanei an Ver- und Geboten zu beachten. Ramadan war besonders mühsam, da war nicht einmal von der sonst ganz vernünftigen Mutter ein Entgegenkommen zu erwarten; das hatte sie sich dann eben selbst zuzuschreiben, wenn sein „Finanzierungsbedarf“ in dieser Zeit noch höher war als sonst.
Die relative, vor dem Vater verborgene Freiheit endete mit Ende der Schulzeit. Der Vater suchte ihm eine Lehrstelle und erwartete allen Ernstes, dass er dort täglich auftauchte und sich vom Chef sinnlose Dinge anschaffen ließ, wo der doch eigentlich froh sein musste, dass er die Stelle überhaupt angenommen hatte. Nicht mit ihm, das machte er seinem Vater dann nach zwei Wochen klar und weigerte sich schlichtweg, dort noch einmal hinzugehen, nachdem er zuvor noch dem Chef gründlich seine Meinung gesagt hatte. Vorerst gab es dafür natürlich wieder die üblichen Prügel, aber dann wurden die Aussichten zunehmend rosig: Er konnte den ganzen Tag tun, was er wollte, die Freunde waren großteils auch nicht so blöd, sich von irgendeinem Idioten herumkommandieren zu lassen, die Clique war ziemlich vollzählig erhalten, er verlebte drei nette Jahre, das Leben war schön.
Und dann kam der Hammer schlechthin: Er war, nichts Böses ahnend, nach Hause gekommen, und dort saß ein unglaublich wichtigtuerischer Typ, maximal zehn Jahre älter als er, der sich als sein Cousin vorstellte und großspurig von den drei Restaurants erzählte, die er in Deutschland betrieb. Anfangs dachte er sich noch nichts Schlimmes, bis klar wurde, dass der ihn allen Ernstes mitnehmen wollte nach Deutschland; er sollte für den Großkotz ein Restaurant leiten, irgendwo in der deutschen Pampa; da gab es garantiert gar nichts von all dem, was ihm lustig war, und der Vater war wild entschlossen, das wurde ihm sehr rasch klar. Als Alternative blieb nur der Auszug von zu Hause, und da dann sein Lebensunterhalt nicht mehr gesichert wäre, blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzugehen. Deutschland entpuppte sich dann als durchaus brauchbar: Er hatte, als Chef eines Lokals, ungehinderten Zugang zu Alkohol, fand auch rasch Anschluss und über die neuen Freunde Zugang zu einer tollen Sache: Drogen. Geld war kein Problem, das hatte er ja aus dem Lokal (aus der Kasse, nicht etwa als Gehalt, der Cousin meinte wirklich, ihn nur in Naturalien bezahlen zu können, da war er wohl selbst schuld, wenn er die Einnahmen einsteckte). Schließlich beschafften die Freunde ihm auch noch eine Frau, die ihn, pro forma natürlich nur, heiratete, so hatte er dann auch noch einen schönen, „leuchtenden“ deutschen Namen und konnte sich endlich von dem ganzen verhassten Traditionskram seines Vaters (und auch vom Vater selbst) noch deutlicher distanzieren.
Die paradiesischen Zustände in Deutschland fanden ein jähes Ende, als der Cousin die sehr einseitig zweckdienliche Geschäftsgebarung des Herrn S. bemerkte und ihn prompt seinen Eltern retournierte, nicht ohne diese auf den Drogenkonsum ihres Sohnes und die bei ihm aufgelaufenen Schulden hinzuweisen. Die Eltern sperrten Herrn S. kurzerhand drei Monate in sein Zimmer und hofften offenbar, ihn so zu einem anständigen Lebenswandel bekehren zu können. Außerdem wiesen sie ihn deutlich auf seine finanziellen Verpflichtungen hin und erwarteten, dass er nun seine Schulden abarbeite und ein „anständiges Leben“ führe. Herr S., wieder in Freiheit, verzog fluchtartig zu einem alten Freund aus der Schulzeit, der nun auch im Drogenmilieu verkehrte, widmete sich intensiv seinen alten (Alkohol, Drogen) und neuen Leidenschaften (Spielen und Wetten), war mit sich und der Welt wieder im Reinen und brauchte nur mehr eines: jemanden, der ihn finanzierte. Wie praktisch, dass er eine alte Schulkollegin wiedertraf, die ihn schon damals attraktiv gefunden hatte und auch jetzt noch bereit schien, ziemlich viel für ihn zu tun. Anfangs dachte er an, sie als „Alibi-Ehefrau“ an einen einwanderungswilligen Landsmann zu verkaufen, dann aber entdeckte er, dass er ein weit kontinuierlicheres und beständigeres Einkommen lukrieren konnte, wenn er sie an sich band. Er erzählte ihr völlig desperat von seinen finanziellen Sorgen (die ihm zwar die Arbeitslust, aber leider nicht die Spielsucht genommen hatten), sie zahlte. Er verspielte das Geld, sie zahlte wieder. Nach diesem Muster konnte man leben, zumindest so lange, bis sie ihre gesamten Ersparnisse in ihn investiert hatte. Schuld an seinem Lebenswandel war nun natürlich sie, sie hatte ihn ja „gekauft“ und war damit auch verantwortlich für seinen Drogenkonsum, den er ebenfalls mit ihren finanziellen Zuwendungen abdeckte. Als ihre Vorräte sich dem Ende zuneigten, verkündete er ihr das Ende der „Beziehung“, die sowieso, zumindest aus seiner Sicht, nie eine gewesen war: Gegenüber Freunden äußerte er sich abfällig über ihr Äußeres und ihre „schlechte Fleischqualität“ und wies die Vermutung, sie seien ein Paar, weit von sich. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war ihre Hartnäckigkeit: Anstatt sich folgsam zurückzuziehen, begann sie ihn zu verfolgen, suchte ihn im Wettbüro auf und blamierte ihn damit vor seinen Freunden (bei dieser Gelegenheit begnügte er sich damit, sie anzuspucken), verlangte dauernd eine „Aussprache“ und versprach weiteres Geld, so dass er schließlich wieder einwilligte, sie gelegentlich zu besuchen. Immerhin kochte sie, wenn er das forderte, für ihn und seine Freunde, gab ihm ihre Bankomatkarte und wusch seine Wäsche, und wenn vom Konto nichts mehr zu holen war, blieben immer noch ihre Wertgegenstände, die er verkaufte. Wenn man das Ganze als eine Art Spiel betrachtete und den Gewinn mit dem Einsatz abglich, dann war das...