Es scheint eine der Hypotheken einer gefühlsabstinenten Erziehung zu sein, daß Emotionen für viele Menschen im Zusammenhang mit Lernen, Arbeit und Erfolg einen negativen Beigeschmack haben. Sie werden meist als hemmend oder störend bzw. als Schwäche interpretiert. Bereits in der frühen Kindheit werden unterschiedliche Verhaltensweisen bei Buben und Mädchen verstärkt, wenn es um das Zeigen von Emotionen geht (vgl. Bast 1988). “Ein Bub weint doch nicht”, heißt es zumeist in der männlichen Sozialisation, und dieses Nicht-zeigen-Dürfen von Gefühlen wird für viele Männer zur nie mehr hinterfragten Leitlinie ihres Lebens. Im Gegensatz dazu formulieren viele Frauen ihre Einstellung zu Emotionen so, daß deren Ausdruck zwar zu ihrem Selbst gehöre, sie aber die Welt der Gefühle oft als Gefängnis erleben, aus dem sie sich willentlich nicht mehr befreien könnten. Wut, Haß, Rache und Eifersucht etwa sind solche Emotionen, die sich oft sogar noch steigern, wenn man versucht, sie zu bekämpfen.
In der täglichen Schul- und Berufswelt scheint also für Gefühle kein Platz zu sein. Vordergründig mag sich dieser Eindruck bestätigen. Der distanzierte Schulaufsichtsbeamte, der knallharte Manager, die gewandte, sachliche Geschäftsführerin und der Trainer mit dem Pokerface sind gängige Stereotypen, die auf Emotionslosigkeit schließen lassen. Beim genaueren Nachspüren sind die Gefühle jedoch nur zurückgedrängt, sie werden abgewehrt und ziehen sich ins Unterbewußtsein zurück. Höchstens Schuldgefühle oder Wut werden verhältnismäßig leicht an die Oberfläche gespült. Gefühle sind mit dem Erfolg ebenso verbunden wie mit dem Mißerfolg. Wenn wir Erfolg haben, fühlen wir uns glücklich, wir sind stolz, wir freuen uns, wir möchten die ganze Welt umarmen. Aber für manche Menschen bricht eine Welt zusammen, wenn sie Mißerfolg haben. Dann fühlen sie sich als Verlierer und Versager, und in der Folge entstehen unangenehme Gefühle wie Scham, Schuld, Verzweiflung oder Haß. Es gibt also Gefühle, die uns emportragen und das Leben lebenswert machen, aber auch solche, die uns entmutigen und krank machen. Streß, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Verdauungsbeschwerden und viele degenerative Erkrankungen sind u.a. auch die Folge von Emotionen, die wir nicht in den Griff bekommen und die ihr Zerstörungswerk aus dem Unterbewußten her einleiten und begleiten. Die beiden stärksten Gefühle, die unser Leben zum Erfolg im Hinblick auf Gesundheit, Partnerschaft, Finanzen, Führung und Zeitmanagement bestimmen, sind einerseits die Angst vor dem Mißerfolg, vor Versagen und Schmerz und andererseits das Glücksgefühl, das Vergnügen, das wir mit dem Erreichen eines Zieles verbinden. Von diesen beiden ist wiederum die Angst bzw. der Schmerz der stärkere Motivator. Im Zweifelsfall verzichten wir auf einen Erfolg, wenn damit Schmerz verbunden ist. Der Umgang mit unseren Emotionen bietet uns die Möglichkeit, unsere persönliche Autonomie zu verwirklichen und das zu erreichen, was wir wirklich wollen.
Auch in der Schule macht die nicht adäquate oder mangelnde emotionale Auseinandersetzung mit Mißerfolgen vielen Schülern das Leben schwer, und sie durchleiden ähnliche Schicksale wie Erwachsene. Die Folgen können sich in unkontrollierten Aggressionen oder depressiven Zuständen bis hin zu tragischen Suizidfällen manifestieren. Eine spezielle schulische Sprachregelung pathologisiert Schüler, die in ihren Emotionen gefangen sind, als verhaltensauffällig, verhaltensgestört, hyperaktiv oder umgangssprachlich als “Störenfried”, “Nervensäge” oder “Sargnagel”.
Manche Menschen versuchen unbefriedigende Gefühle mit Hilfe von Suchtoder Aufputschmitteln zu vertreiben. Wieder andere wollen angenehme Gefühle mit Hilfe von Alkohol, Tabak oder Drogen erzeugen. Allen diesen Versuchen gemeinsam ist, daß sich die Menschen der Willkür von Gefühlen ausgeliefert glauben. Sie sind Opfer und nicht Regisseure ihrer Emotionen. “Ich könnte explodieren!” sagt eine Lehrerin, wenn wieder einmal die Klasse nicht zum Aushalten ist. “Ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus!” meint resignierend eine Führungsperson, die eben eine Mitarbeiterin abgekanzelt, verletzt oder beleidigt hat. “Jetzt habe ich die Nase voll!” tobt der Mathematiklehrer, als er merkt, daß man ihm den Text der Prüfungsarbeit geklaut hat.
Welche Möglichkeiten gibt es, sich aus solchen emotionalen Einschränkungen zu befreien und sie vielleicht sogar als positive Ressourcen zu nutzen? Das ist eine “Münchhausen-Frage”, werden sich manche denken, und es scheint zunächst tatsächlich eine unlösbare Aufgabe zu sein, sich selbst am eigenen Zopf aus dem (Gefühls-)Sumpf zu ziehen, wie oft auch die eigenen Erfahrungen zu beweisen scheinen. Wenn es gelänge, einen bewußteren Umgang mit Emotionen einzuleiten, dann könnte damit eine Lücke in der modernen pädagogischen Praxis und im Schulmanagement geschlossen werden. Denn dieser Bereich, der im allgemeinen eher als eine peinliche Falle gesehen wird, birgt tatsächlich den Schlüssel für eine positivere Lebensgestaltung und ein befriedigenderes Zusammenleben. Wir stellen daher diesen oft ausgeblendeten Bereich pädagogischer Führungsarbeit an den Anfang unseres Buches, da wir selbst erlebt haben, welche große Bedeutung Emotionen für Schule und Unterricht haben.
Was wissen wir über Gefühle?
Das Interesse der Menschheit am Thema Emotionen ist seit Platon und Aristoteles sehr groß. Der Erkenntnisstand der Emotionsforschung ist jedoch im Vergleich zu anderen psychologischen Disziplinen gering (vgl. Goleman 1996). Offensichtlich kann die rational abstrakte Wissenschaft mit “Gefühlen” kaum etwas anfangen, vermutlich deswegen, weil die Modellbildung, die auf Präzision und materielle Wirklichkeit ausgerichtet ist, automatisch alles ausgrenzt und wegfiltert, was nicht im diesen Rahmen paßt. Nadig und Erdheim (1984) etwa haben in ihren ethnopsychoanalytischen Studien aufgezeigt, wie Abstraktionen in den Wissenschaften gefühlsbetonte Anteile ins Unterbewußte verdrängen, von wo sie in unkontrollierter und destruktiver Weise die Lebendigkeit der Forschung zerstören.
Allein schon die vielen gebräuchlichen Begriffe wie Emotion, Affekt, Stimmung, Gefühl, Erregung usw. sind ein Hinweis auf die unterschiedliche Konzeptualisierung der ablaufenden Prozesse. Weiters signalisieren die zahlreichen und vielfältigen Definitionsvorschläge eine außerordentliche Komplexität dieser Thematik. Um einen Überblick über die Einordnung der Emotionen im Gesamtsystem Mensch zu bekommen, kann man von der Annahme ausgehen, daß der menschliche Organismus durch das Zusammenwirken von fünf Subsystemen im weitesten Sinne handlungsfähig wird.
! | ■ Das Informationsverarbeitungs-Subsystem vertritt vor allem die kognitive Komponente, die für die interne und externe Reizbewertung verantwortlich ist. ■ Das Versorgungs-Subsystem umfaßt die neurophysiologische Komponente, also das neuro-endokrine System und das autonome Nervensystem, und dient in erster Linie der homöostatischen Regulierung des Organismus. ■ Das Steuerungs-Subsystem betrifft die Plan- und Zielstruktur und ist verantwortlich für die motivationale Komponente. ■ Das Aktions-Subsystem dient vorwiegend dem Ausdruck und der Ausführung von Handlungen. Es basiert auf dem somatischen Nervensystem und der quergestreiften Muskulatur. ■ Das Monitor-Subsystem ist ein Kontrollsystem, das alle anderen Subsysteme reflektiert und integriert. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Umwelt- und Innenweltbedingungen und wird vorwiegend als Gefühl aktiviert (vgl. Scherer 1990, 5 ff.). |
Damit wird der Stellenwert der Gefühle als umfassendes Reflexions- und Integrationssystem beschrieben. Ständige Informations- und Interaktionsprozesse zwischen den Subsystemen bewirken wechselseitige Veränderungen. Daraus resultieren komplexe Wechselwirkungen, innerhalb derer vorübergehend die Systemzustände synchronisiert werden, also auf einen speziellen Auslöser ausgerichtet sind. Dabei wird von der Vorstellung ausgegangen, daß es eine Art neutralen Gleichgewichtszustand gäbe, der vorübergehend immer wieder durch Auslöser bzw. durch die Mobilisierung von Ressourcen unterbrochen wird, um bestimmte notwendige Anpassungsforderungen meistern zu können. Die Funktion der Emotionen kann in dieser systemischen Vorstellung sowohl in der Erzeugung von Alarmzuständen liegen als auch in der Bestätigung von positiven Erlebniszuständen. Nicht umsonst betont die Volksmeinung, daß einem das Gefühl schon “sagt”, was “richtig” ist.
Das Abklingen der Emotionen geht mit einem Schwächerwerden des gegenseitigen Einwirkens der Subsysteme einher, und nach einem vorübergehend stärkeren Synchronisieren übernehmen die...