Zu diesem Buch
Noch ein Buch über die Schule? Nein. Eines für die Schule. Eines gegen das kollektive Raunzen über die Schule. Eines für die wichtigste Ursache von Bildung, das Lernen. Denn Schule sind WIR: Schule geht uns alle an. Sie wird nicht besser durch Strukturreform, nicht durch Polemisieren und Polarisieren, nicht durch Volksbegehren, nicht durch Teacher Bashing. Sie wird besser, indem wir ihr Wert zuschreiben, uns für sie mitverantwortlich fühlen. Ich glaube an die Schule als einen Ort der Bildung für jene Menschen, auf die wir hoffen.
BILDUNG BEGEHRT, WER BILDUNG VEREHRT
Das Ergebnis des österreichischen Bildungsvolksbegehrens1 ruft weder nach Schadenfreude noch nach Strukturreform. Vielmehr fordert es eine Reform des Bewusstseins und der Akzeptanz für Bildung in einer Schule ein, die Übungsfeld für Mitmenschlichkeit und für Wahrscheinlichkeitsrechnung ist. Die aber auch Ort sozialer Chancengleichheit und begabungsorientierter Chancengerechtigkeit sein muss. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, den Erziehenden Mitverantwortung zu gewähren, die Lernenden neugierig zu machen auf Wissen und Werte und den Lehrenden jene Wertschätzung zu bezeugen, die sie für ihr Tätigsein heute brauchen. Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens und Lebens, vielmehr auch ein Geschehen, in dem Menschen einander bestärken, die Welt zu begreifen, um sie besser zu machen. Dazu braucht es Stimulation, Ethos, Motivation, Geist, »Pädagogische Liebe«.
WIE GEHEN WIR MITEINANDER UM?
Im ersten Abschnitt dieses Buches will ich über Leben und Lernen in der Schule schreiben: Sie ist nicht nur ein Ort, in den man geht, sondern ein Ereignis, das man schafft: In seinem UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert hat Jacques Delors, wohl einer der politisch einflussreichsten Gründungsväter des modernen Europa, die Lernfähigkeit als unseren größten verborgenen Schatz und Reichtum benannt.2 Erziehen und Bilden heißt, junge Menschen mündig zu machen für ein Leben innerhalb der Gesellschaft und ihrer Normen, gleichzeitig für ein positives Einflussnehmen auf den Ist-Zustand gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Ziel, diese zu verbessern, also das überlieferte Wissen der Welt kennen und wertschätzen zu lernen und es zum Guten weiterzuführen. Schule hat den Auftrag, diese Freiheit aktiv zu »entbergen« durch Erkennen von Tradition und Schaffen von Innovation, um den Schatz dieses Weltwissens zu hüten und zu vermehren.
WIE, WO, WAS, WOFÜR UND WANN LERNEN WIR?
»Wo lernen wir«?, fragt Erich Fried, »Wo lernen wir leben | und wo lernen wir lernen | und wo vergessen | um nicht nur Erlerntes zu leben«?3 Niemand lernt umsonst, niemand lernt etwas umsonst. Manche aber tun es falsch, auch abseits psychologischer Lernhilfen. Lernte man früher für das Leben, so ist heute das ganze Leben ein ständiges Lernen geworden, das seinerseits gelernt sein will. Wurde noch dem »alten Fritz« das Wort in den Mund gelegt: »Lernen sie zuviel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretäre und so’n Zeugs werden. Der Sohn eines Spritzenmeisters soll nicht studieren, sondern spritzen!«4, so wissen wir heute, dass Lernfähigkeit eine hohe Gabe darstellt und Lernwilligkeit zu einer großen Aufgabe geworden ist, die es im Geschehen der Schule zu vermitteln und zu erwerben gilt. Lehren und Lernen heißt, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln und anzueignen, um sie anzuwenden zum Sinn und zum Nutzen des Lebens und Tuns. Schule »entbirgt« diese Freiheit durch variable und dialogische Formen einer neuen Lernkultur, um den Schatz unserer österreichischen Kultur und der Kulturen der Welt zu erwerben und zu vergrößern.
»Wo lernen wir klug genug sein | die Fragen zu meiden | die unsere Liebe nicht einträchtig machen | und wo lernen wir ehrlich genug sein | trotz unserer Liebe | und unserer Liebe zuliebe | die Fragen nicht zu meiden?«5, setzt Fried fort. Lernen heute will digital, es soll politisch und es muss sozial sein. Denn Lernen ist das Einatmen von Bildung. Jenes, das nicht nur Vorgekautes ins Gedächtnis prägt, vielmehr vorrangig Fragen stellt, und das in systematischer Form, ist forschendes Lernen: Es ist zur neuen, alten, großen Aufgabe der Schule geworden. Lernleistungen zu beurteilen ist »pädagogische Aufgabe und gesellschaftlicher Auftrag«6 zugleich. Diesem zeitgemäß, ideologieunabhängig und aufgabenorientiert gerecht zu werden, ist zu einem vieldiskutierten Konflikt- und Entwicklungsfeld von Schule geworden, ebenso wie die Organisation von Unterricht insgesamt. Denn die klassische Segmentierung in einstündige Lernzeiten kann heutigen Anforderungen an die Schule längst nicht mehr ausreichend gerecht werden und dient doch nicht selten zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Vergleichbarkeit. Denn Unterrichtsorganisation ist ein wesentlicher Faktor dafür, wie sich Lernkultur gestalten lässt.
FÄCHER NEU DENKEN UND LENKEN
Schulisches Lernen findet im gefächerten Unterricht statt, implizit auch schon in der Volksschule. Im zweiten Abschnitt des Buches stelle ich exemplarisch aktuelle Herausforderungen und Fragestellungen vor und will Anregungen für die schulische Praxis anbieten. Den immer wieder benannten Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen werden der Musik- und Sportunterricht nicht gegenübergestellt, denn auch die fachliche Bildung braucht und kennt kein Entweder-oder, vielmehr ein Sowohl-als-auch. Unterricht, heute methodisch vielgestaltig geworden, intellektuell anspruchsvoll und schülernahe zugleich, löst solche Gegensätze auf: Sind doch die Fächer nichts weniger und mehr als Denksysteme, die Ordnung schaffen wollen im Wahrnehmen des Ganzen von Bildung. Sie sowohl systemisch zu trennen als auch vernetzend zu verbinden, ist ein Kennzeichen modernen Unterrichtens.
SOWOHL-ALS-AUCH STATT IMMER NUR ENTWEDER-ODER
Im dritten Abschnitt meines Buches stelle ich mich ausgewählten aktuellen Fragen des Schullebens und Lernens, denn Schule ist der gesellschaftliche Arbeitsplatz junger Menschen. Immer wieder wird versucht, »von außen« Einfluss zu nehmen auf schulische Entwicklungen: Die Gesellschaft fordert Auseinandersetzung mit Konsumentenschutz, Lerngesundheit, ethischer Bildung, Migration und Integration, zeitgemäßem Lernen, sie fordert bestens ausgebildete Lehrkräfte. Man spricht und schreibt vieles und viel übereinander, wenig miteinander, man vergisst auf den Dialog im Ganzen, ja oft auf das Gespräch im Einzelnen. Doch wo der Weg des Dialogs verloren gegangen oder gar nicht erst gesucht worden ist, gibt es nur noch den Umweg über die Macht.
Zwei besonders aktuelle Themen scheinen in der gesellschaftlichen Diskussion ebenso emotional diskutiert zu werden wie unlösbar zu sein: die Entwicklung der Sekundarstufe I sowie jene einer neuen, gemeinsamen, differenzierten Lehrerbildung. Hierfür versuche ich neue Lösungswege aufzuzeigen, die frei von gesellschaftlicher Ideologie und institutionell präferierendem Denken dem Entweder-oder einen Weg der Mitte entgegenstellen – in den Worten Erich Frieds: »Wo lernen wir uns gegen die Wirklichkeit wehren | die uns um unsere Freiheit betrügen will | und wo lernen wir träumen | und wach sein für unsere Träume | damit etwas von ihnen unsere Wirklichkeit wird?«7
DIE MENSCHEN HINTER UND VOR DEN DINGEN
Gute Schulorganisation herrscht nicht, und sie herrscht nicht vor. Denn Schule ist nicht nur ein Haus, in das man geht, sondern ein Geschehen zwischen Menschen, die dasselbe Ziel haben und sich für dieses wechselseitig Aufgaben stellen. Schule gestaltet sich als Lern- und Erfahrungsraum von Gemeinschaft. Und Schule geschieht, indem Unterricht stattfindet. Im vierten Abschnitt frage ich deshalb nach den Menschen hinter diesem »Geschehen Schule« – in ihren Rollen und Funktionen als Lernende, als Lehrende und als Begleitende. Denn ein Entweder-oder von (Mit-)Menschlichkeit und Sachlichkeit ist eine bis heute ebenso weit verbreitete wie falsche Antinomie der Schule.8 Wie also gestaltet sich heute das Kindsein als Schülersein, welche Antworten kann und muss die Schule finden auf die jugendliche Neugierde für die Fragen und Rätsel des Lebens? Welche Rolle nehmen die Eltern ein in diesem Schulgeschehen, und wie gelingt Begegnung im schulischen Raum? Und schließlich: Wie wird man heute zur »guten« Lehrperson in gelebter Schulpraxis, diesseits der Kompetenzkataloge aktueller pädagogischer Literatur?
SCHULE ALS LEBENSLERNRAUM VON GESELLSCHAFT
Schon Senecas Kritik an den Schulen seiner römischen Zeit – Non vitae, sed scholae discimus9 – hat zur heute zum geflügelten Wort gewordenen Umkehrung geführt – »Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir« – und damit die Schule zur Kinderstube der...