Marlies Krainz-Dürr
Die Rolle der Schulleitung für die Steuerung von Entwicklungsprozessen
1. Einleitung
In den vergangenen Jahren haben sich in Österreich die Anforderungen an Schulen und damit die Ansprüche an deren Leitung gewaltig verändert. Die Einzelschule als pädagogische und organisatorische Einheit bekommt immer größere Bedeutung. Das Kollegium soll Bildungsschwerpunkte setzen, Entwicklungspläne entwerfen, die Qualität des schulischen Angebotes systematisch überprüfen und flexibel auf Anforderungen aus der Umwelt reagieren. Die Idee eines durch gesetzliche Vorgaben zentral geregelten Schulwesens wird zunehmend ersetzt durch die Vorstellung aktiv handelnder Einzelschulen, die in relevanten Bereichen selbst Entscheidungen treffen und ihren Erfolg überprüfen. Die einzelne Schule wird dabei als eine besondere Organisation betrachtet, die mit Instrumenten der Organisationsentwicklung verändert werden kann und soll. Es ist eine Reform der kleinen Schritte durch Dezentralisierung und Autonomisierung. Die schulischen Behörden des Bundes und der Länder geben einen Teil ihrer Kontroll- und Steuerungsmacht ab und beschränken sich darauf, Rahmenbedingungen zu setzen, innerhalb derer sich eigendynamische Prozesse realisieren können.
Diese neuen Anforderungen bewirken tiefgreifende Veränderungen der Berufsrollen aller in der Schule und im Bildungswesen tätigen Personen. In besonderem Maße aber betrifft diese Rollenveränderung diejenigen, die Leitungsverantwortung an Schulen tragen. Hat es vor nicht allzu langer Zeit für österreichische Schulleiter/innen gereicht, eine Schule gut zu verwalten und nach außen zu repräsentieren, so sind nun vor allem Führungs- und Ma-nagementqualitäten gefragt. Schulleiter/innen sollen heute für Finanzierungen sorgen, Personalentwicklung betreiben, Veränderungen initiieren, Kooperationen einleiten, Prozesse moderieren, Konflikte regeln und anderes mehr. Der Schulleitung wird in Prozessen der Schulentwicklung eine zentrale Schlüsselposition zugewiesen. Diese in zahlreichen Publikationen beschriebene Rollenauffassung von Führungskräften an Schulen (vgl. Rolff u.a. 1998; Dubs 1994; Fullan 1998) ist allerdings weniger eine Beschreibung dessen, „was ist“, sondern eher ein Rollenentwurf für die Zukunft. Denn wie sich Führung in Veränderungsprozessen einer Schule praktisch realisiert, darüber gibt es erst spärliche Darstellungen.
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit den Führungsaufgaben von Schulleitung in Veränderungsprozessen. Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Steuerungsfunktionen Schulleiter/innen wahrnehmen müssen, um Entwicklungen nachhaltig voranzutreiben. Diese Fragestellung hat mehrere Aspekte. Zunächst soll der organisatorisch-strukturelle Rahmen beleuchtet werden, in dem Schulleitungen in Österreich agieren. Welche besondere Organisationsform zeichnet eine Schule in Österreich aus? Wie ist sie intern strukturiert und wieviel Entwicklungspotential liegt in dieser Organisationsgestalt? Auf welche Strukturen können sich Führungskräfte beziehen bzw. welche müssen sie erst schaffen, wenn sie Entwicklungen steuern wollen? Weiters: Nach welchen Werten, Prämissen und mentalen Modellen handeln die Mitarbeiter/innen dieser Organisation? Nach welchen Vorstellungen gestalten sie ihre Zusammenarbeit? Welche dieser Vorstellungen unterstützen bzw. hemmen die Erfüllung neuer Anforderungen? Und schließlich: Was heißt überhaupt Entwicklungen zu „steuern“? Welche Besonderheiten sind im schulischen Kontext zu beachten? Und nicht zuletzt: Über welche Gestaltungsmöglichkeiten und Steuerungsmittel verfügen Führungskräfte in der Schule zur Initiierung und Stützung nachhaltiger Entwicklungen?
Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf den letzten Fragestellungen, dem konkreten Führungshandeln von Schulleiter/innen in Veränderungsprozessen. Dabei soll die Argumentation zunächst aus der Organisationslogik von Entwicklung aufgebaut und erst nachträglich die Frage gestellt werden, welche Funktionen (Schul)Leitungen dabei übernehmen müssen. Beispiele aus konkreten Beratungsprojekten ergänzen die Ausführungen.
2. Voraussetzungen für Steuerungsaktivitäten von Schulleitungen
These: Schulleiter/innen agieren nicht im luftleeren Raum, ihr Handeln ist durch organisatorisch-strukturelle Rahmenbedingungen begrenzt. Als Beamte sind sie eingebunden in eine schulische Bürokratie, als Leiter/innen sind sie Teil der schulischen Kultur. Um handlungsfähig zu werden, müssen sie einerseits diese Voraussetzungen beachten, andererseits dazu in Distanz gehen. Bewusstheit über das Wesen und die Organisationsgestalt von Schule erleichtern Steuerungsbemühungen.
Um die Entwicklungen an Schulen zu unterstützen, hat sich die österreichische Schulbürokratie in den letzten Jahren an verschiedenen Qualitätssicherungsmodellen aus der Wirtschaft orientiert. TQM, ISO, Qualitätszirkel und Organisationsberatung wurden auch im schulischen Bereich angewandt. Dabei zeigte es sich, dass diese Modelle nicht unbedingt zur schulischen Kultur passen. Etliche Projekte zur Qualitätssicherung auf dieser Basis gelangten bis zu einem bestimmten Punkt und blieben dann „stecken“ (vgl. Altrichter/Posch 1999; Krainz-Dürr 1999b). Zu einer verbindlichen Einführung eines Qualitätssicherungssystems kam es in den allermeisten Fällen nicht. Auch die Versuche, einzelne Modelle für den Schulbereich zu adaptieren, kämpfen mit den Problemen von Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit. Es lohnt sich daher - nicht nur für Führungskräfte - zu überlegen, was die Organisationsgestalt einer Schule ausmacht und von welchen Vorstellungen ihre Kultur geprägt ist.
Organisatorisch-strukturelle Rahmenbedingungen
These: Schulen haben ein mangelhaft entwickeltes Verständnis von sich selbst als Organisation. Einzelne Einheiten stehen lose verbunden nebeneinander, Kooperation, Zusammenarbeit und Problemlösung sind nicht strukturell gebahnt. Die Organisationsmitglieder handeln in Kernbereichen autonom, Leitungsfunktionen sind strukturell schwach verankert.
Unter Schulleitung wird in Österreich gegenwärtig - im Unterschied zu an-deren (z.B. angloamerikanischen Ländern) eine Einzelperson verstanden. Zur Unterstützung ist der Schulleiter/in in allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen ein Sekretariat und ein/e Administrator/in zugewiesen. (An österreichischen Volks- und Hauptschulen gibt es diese Verwaltungsstrukturen allerdings nicht.) Eine österreichische Schule zu leiten ist auch heute noch ein „einsames“ Geschäft. Auch in großen Schulen hat sich keine wirksame mehrstufige Führungshierarchie ausgebildet, die Führungsspanne (Anzahl der direkt unterstellten Mitarbeiter/innen) ist hoch, mitunter kommt eine einzige Leitungsperson auf über 100 Lehrkräfte. Lediglich im berufsbildenden Schulwesen existiert eine mittlere Managementebene in Form von Abteilungsvorständen.
Wer allerdings etwas genauer auf die organisatorisch-strukturellen Rahmenbedingungen einer österreichischen Schule blickt, begegnet einem eigenartigen Phänomen: Schulen in Österreich verfügen formal über gar nicht so wenige strukturbildende Elemente, denen Leitungsfunktionen zugeschrieben werden können. Neben Schulleitung und Administration gibt es Fachgruppenkoordinator/innen, Kustodiate, Klassenvorstände, Arbeitsgruppen und Teams mit Leiter/innen oder gewählte Lehrervertreter im Schulgemeinschaftsausschuss. All diese Führungsstrukturen sind alltagspraktisch jedoch sehr schwach verankert und werden nur wenig organisationswirksam. Hier tut sich bei der Betrachtung von Schulen ein Paradoxon auf: Es existiert zwar eine Reihe von formalen Elementen, die schulische Organisation strukturieren, in Schulentwicklungsprojekten wird jedoch kaum je an diese vorhandenen Strukturen angeknüpft. Nur selten werden gewählte Vertreter/innen oder Fachgruppenkoordinatoren als Repräsentanten wichtiger Gruppen im Lehrkörper genutzt. Häufiger werden neue Gruppen und Funktionen installiert, die meist mit schwachem Mandat ausgestattet sind und sich entweder bald wieder auflösen oder aufgrund schwacher organisatorischer Verankerung zu „Themengruppen“ mutieren und sich so im Inhaltlichen verlieren, dass sie darüber die Anbindung an die Organisation vergessen (vgl. Krainz-Dürr 1999a).
Um nun die Besonderheit dieser „strukturellen Verfasstheit“ von Einzelschulen unter dem speziellen Aspekt von Führung zu verstehen, bietet sich das Konzept der „professional bureaucracy“ von Mintzberg an (vgl. Mintzberg 1983, 1991). Dieses Konzept wird in Österreich - vor allem, wenn es um die Reform der öffentlichen Verwaltung geht - unter dem Titel „Expertenorganisation“ diskutiert (vgl. Grossmann 1997).
In Expertenorganisationen hängt die Arbeit in besonderer Weise vom Sachverstand, der Expertise und Motivation der Mitarbeiter ab, die in der Regel einen hohen Ausbildungsgrad aufweisen. Das „Produkt“ bzw. die zentrale (Dienst)Leistung wird direkt am „Kunden“ (Schüler/innen, Patienten, Studenten, Klienten) erbracht, deren aktive Mitwirkung eine wichtige Rolle spielt und die im Falle der Schule als...