1 Schulsportforschung – Skizze eines Forschungsprogramms
Michael Bräutigam
Der Schulsport erfährt seit einiger Zeit wieder verstärkt wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Dies lässt sich an der Zunahme einschlägiger Publikationen belegen, und vor allem in den letzten Jahren wurden mehrere, z. T. groß angelegte, empirische Untersuchungen (vgl. u. a. Altenberger et al., 2005; Brettschneider et al., 2005; Deutscher Sportbund, 2006; Miethling & Krieger, 2004) und eine Vielzahl einzelner Projekte (vgl. z. B. die Beiträge in Kolb, 2007, und Miethling & Krieger, 2006, S. 231) durchgeführt und vorgestellt. Im Zuge dieser Entwicklung fällt auf: Mittlerweile wird im Zusammenhang mit Fragen des Schulsports von einigen Autoren (vgl. zuerst Scherler, 1995) die Schulsportforschung als ein eigens ausgewiesenes Forschungsgebiet benannt und skizziert. Erste Übersichten und Ordnungsversuche (vgl. Balz, 1997; Friedrich, 2000; Friedrich & Miethling, 2004; Hinsching, 2000; Hinsching & Hummel, 1997; Laging & Pott-Klindworth, 2005; Schierz, 1996; 1997a; Waschler, 1995) geben – bislang noch allgemein und eher vage – die Richtung an, die bei dem Versuch einer systematischen Erschließung und Bestimmung der Schulsportforschung einzuschlagen ist. Insgesamt wird deutlich, dass die Erarbeitung eines integrierenden theoretischen Gesamtkonzepts noch aussteht. Dieses Desiderat wird im folgenden Beitrag aufgenommen und bearbeitet. Zentrale Absicht ist es, eine rahmentheoretische Konzeption zur Schulsportforschung vorzustellen.
Die Absicht, ein Forschungsprogramm zur Schulsportforschung zu entwerfen, wird in vier Schritten verfolgt: Der erste Abschnitt konzentriert sich darauf, den Gegenstand der Schulsportforschung zu bestimmen und einzugrenzen (Kap. 1.1). Dabei wird vor allem darauf hinzuweisen sein, dass der Schulsport – zum einen – sowohl den Sportunterricht als auch den außerunterrichtlichen Schulsport umfasst, Bewegung, Spiel und Sport aber darüber hinaus – dies zum anderen – auch als Elemente im Unterricht anderer Schulfächer sowie im Schulleben insgesamt ihren Platz haben. Die Erörterungen werden auf folgendes Resümee zulaufen: Schulsportforschung ist umfassend angelegt und hat in differenzierter Weise den Gesamtzusammenhang des Sports in der Schule als ein institutionalisiertes pädagogisches Praxisfeld in den Blick zu nehmen. Sie ist der systematische Ort für die Zusammenführung jener Studien, die sich – mit unterschiedlichen methodischen Zugängen und theoretischen Hintergründen – auf die verschiedenen Bereiche und Dimensionen des Sports in der Schule sowie auf die Zusammenhänge des Schulsports mit seinen angrenzenden Handlungsfeldern beziehen.
Im nächsten Schritt (Kap. 1.2) ist darzulegen, welches Grundverständnis von Forschungsprogrammen vorausgesetzt wird. Auf dieser Basis kann herausgestellt werden, worin der spezifische Anspruch des vorgelegten Beitrags besteht. Es geht zunächst darum, zentrale Elemente eines Forschungsprogramms für die Schulsportforschung vorzustellen und diese in einen geordneten Zusammenhang einzustellen. Im zentralen Abschnitt (Kap. 1.3) wird der Versuch unternommen, einen theoretischen Bezugsrahmen zu entfalten, der umfassend und flexibel genug ist, die verschiedenen Perspektiven auf das Forschungsfeld aufzunehmen und zu bündeln, das beträchtliche Spektrum anstehender Forschungsfragen und -themen miteinander zu verzahnen und die Vielfalt der aus den einzelnen sportwissenschaftlichen Teildisziplinen gewonnenen empirischen Befunde systematisch zu ordnen und angemessen zu interpretieren. Dabei legt es die Thematik nahe, für die Konstruktion des Bezugsrahmens insbesondere sozialisations- und entwicklungstheoretische Aspekte in den Aufmerksamkeitshorizont zu rücken. Grundlegend ist dabei die Auffassung, dass die Schulsportforschung ein Teilgebiet der Sportwissenschaft ist und sich auf die Untersuchung der Schulsportwirklichkeit konzentriert.
Die inhaltliche Bestimmung des Forschungsgegenstands und die Entfaltung eines konzeptionellen Rahmens können begründete Hinweise dafür liefern, wie die zentralen Forschungsthemen innerhalb der Schulsportforschung zu identifizieren und auszuweisen sind. So werden zum Abschluss des Beitrags (Kap. 1.4) in einer ersten Übersicht vier Forschungsfelder der Schulsportforschung vorgestellt, die es mit dem skizzierten Forschungsprogramm zu untersuchen gilt.
1.1 Stand und Gegenstand der Schulsportforschung
1.1.1 Entwicklung der Schulsportforschung: ohne theoretisches Konzept?
Auf dem 11. Sportwissenschaftlichen Hochschultag 1993 in Potsdam erläutert und ordnet Scherler die Legitimationsdebatte zum Schulsport (vgl. Scherler, 1995). Sein Resümee gipfelt in der Forderung, dass die in den Begründungen des Schulsports behaupteten Wirkungen auch empirisch zu belegen seien.1„Nicht die Proklamation von Absichten ist notwendig, sondern die Evaluation von Folgen“ (Scherler, 1995, S. 55). In seinem Plädoyer für mehr Evaluation von Schulsport skizziert er drei Forschungsschwerpunkte: Wirkungsforschung, Institutionsforschung und Transferforschung. Die Wirkungsforschung konzentriert sich darauf, nachzuweisen, dass sich die wünschenswerten Effekte des Schulsports auch tatsächlich einstellen. Die Institutionsforschung bemüht sich um die Aufklärung der für Schule und Unterricht typischen Umstände, unter denen der Sport stattfindet, und untersucht, wie die institutionellen Bedingungen des Schulsports die Realisierung angestrebter Ziele beeinflussen und behindern. Die Transferforschung überprüft, ob die Effekte des Schulsports auf den Sport beschränkt bleiben oder darüber hinaus auch in außersportlichen Lebenssituationen nachzuweisen sind.
Zwar ist Schulsport – folgt man Scherler weiter – zunächst ein Gegenstand der Sportpädagogik und hat als Schulsportpädagogik den Sport in verschiedenen Schulformen zu erforschen und zu beraten. „Andererseits kann der Schulsport auch zum Gegenstand anderer Disziplinen der Sportwissenschaft werden. (...) Keine dieser Disziplinen muß dabei ihren disziplinären Arbeitsansatz aufgeben. Sie müssen nur bereit sein, die Ergebnisse in eine interdisziplinär angelegte Schulsportforschung (Hervorh. M. B.) einzubringen. Insofern dies schon geschehen ist, müssen die vorliegenden Arbeiten geordnet und integriert werden“ (Scherler, 1995, S. 56).
Scherlers Anliegen wird auf dem 12. Sportwissenschaftlichen Hochschultag 1995 in Frankfurt aufgegriffen (vgl. Hirtz & Schierz, 1997; Hummel & Balz, 1997). Im Rahmen dieser Tagung finden Arbeitskreise und Vorträge statt, die sich „explizit unter dem Begriff ‚Schulsportforschung’ unterschiedlichen Fragestellungen zuwenden“ (Friedrich, 2000, S. 7). Friedrich bewertet den Hochschultag 1995 als Auftakt dazu, über den Stand und die Entwicklung der Schulsportforschung nachzudenken, und bindet seine eigenen Überlegungen an die dort vorgetragenen Übersichten und Stellungnahmen an. Nach Friedrich (2000) weist die Forschungs- und Untersuchungslage zur Schulsportforschung erhebliche Defizite auf: Die empirisch gesicherten Erkenntnisse über die Wirklichkeit des Schulsports seien lückenhaft, die Klärung des Gegenstands, die Bestimmung der Aufgaben und die Entfaltung leitender Erkenntnisinteressen der Schulsportforschung stünden noch aus, Forschungsansätze und Untersuchungsverfahren seien uneinheitlich. Friedrich bilanziert, dass „in die Forschung zum Schulsport ganz unterschiedliche, für die Praxis des Schulsports mehr oder weniger bedeutsame Perspektiven eingebracht werden. Die bisherigen Arbeiten erscheinen dabei eher als Einzelvorhaben, denn als Elemente eines sichtbaren Gesamtkonzepts, die sich als Schulsportforschung zusammenfügt“ (Friedrich, 2000, S. 8).
Somit kann zunächst festgehalten werden: Mit den Hinweisen auf die defizitäre Forschungs- und Befundlage zum Schulsport wird mittlerweile nicht mehr nur die Forderung erhoben, sich verstärkt der empirisch-analytischen Untersuchung des Schulsports zuzuwenden (vgl. Brettschneider, 1994). Es wird darüber hinaus auch die Notwendigkeit herausgestellt, dass die Erforschung der Schulsportwirklichkeit theoretisch-konzeptionell zu fundieren sei. So beklagt Friedrich (2000) das Fehlen eines integrativen Gesamtkonzepts zur Schulsportforschung und macht deutlich, dass die Aufgaben der Schulsportforschung nicht nur „im unmittelbaren Arbeitsfeld der empirischen Schulsportforschung (Hervorh. M. B.) zu verorten sind“ (Friedrich, 2000, S. 9), sondern bei der notwendigen Suche nach Orientierungen für eine theoretische Konzeptualisierung und Profilierung der Schulsportforschung weitreichende Definitions- und Entwicklungsarbeiten zu leisten sind.
1.1.2 Schulsportforschung: Gegenstand, Aufgaben und Untersuchungsfeld
Obwohl es Friedrich (2000) aufgrund der fortschreitenden Pluralisierung des Gegenstandsbereichs, der Forschungsinteressen und der Ausdifferenzierung der Forschungsmethoden, die ihrerseits der Pluralisierung des Gegenstandsbereichs zu folgen suchen, für ausgesprochen schwierig hält, „sicheren und einheitlichen Grund zu finden, auf dem Schulsportforschung aufbaut“ (Friedrich, 2000, S. 8), legt er in Grundzügen ein erstes Forschungskonzept vor.2 Danach konzentriert sich die Schulsportforschung auf die umfassende Untersuchung der „Schulsportwirklichkeit“.
Schulsportwirklichkeit konstituiert sich durch das konkrete Handeln der in Schule und Schulsport tätigen Akteure. Das Handlungsgeschehen, wie es in der Praxis des Schulsports tatsächlich stattfindet, ist im Grundsatz eine Konstruktionsleistung der Lehrer und Schüler, die unter den strukturellen Bedingungen des Schulsports ihre je aktuelle...