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Schulerleben in zivilisatorischer Sicht
Einleitung
Hier geht es uns darum, das Thema dieses Buches »Schule von unten« in theoretische und empirische Diskurse und Überlegungen einzubetten, die uns in unserer eigenen wissenschaftlichen Arbeit über Kindheit und Familie, Schule und Lernen, Schüler und Lehrer sowie, ganz allgemein, gesellschaftliche Wandlungen angeleitet haben und uns vertraut sind. Dabei lassen wir uns von den Arbeiten Norbert Elias‹ und seiner Mitdenker anregen (Elias 1969; 1986; Gleichmann/Goudsblom/Korte 1977; 1979; 1984; Wouters 1999; Krumrey 1982). Sie haben den westeuropäischen Zivilisationsprozess bis in die jüngere Gegenwart verfolgt und zu seinem Verständnis eine Reihe von Teiltheorien und Konzepten vorgeschlagen, die wir in eigenen Forschungen weiterentwickelt haben und auch hier für unsere Darstellung und Analysen nutzen (Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1988; 1989; Behnken 1990).
Während die wissenschaftliche Produktion der sozio- und psychogenetischen Zivilisationstheorie seit den 1980er Jahren zu einem gewissen Stillstand gekommen ist, haben soziologische Modernisierungstheorien seither einen enormen Aufschwung genommen. Sie entstanden zum Teil parallel und in freundschaftlicher Nähe zu Elias, zum Teil in kritischer Distanz und mit anderen Erkenntnisinteressen. Wir selbst verhalten uns beiden Traditionen gegenüber unbefangen: Weder spielen wir die eine gegen die andere aus, noch fühlen wir uns der einen mehr als der anderen verpflichtet. Wir verfahren eklektisch: Wenn es um Lernen im allerbreitesten Sinn geht, so sind selbstverständlich auch bildungssoziologische, erziehungswissenschaftliche und lernpsychologische Theorien mitgefragt (Terhart 2015; Grunert/von Wensierski 2008; Coelen/Otto 2008; Schröer/Stauber/Walther u. a. 2013). Und wenn es um Wandlungen von Kindheit geht, also die jungen Lerner in und außerhalb der Familie, so holen wir uns auch aus der neuen Familien-, Jugend- und Kindheitssoziologie Anregungen (Leccardi/Ruspini 2006; Krüger/Grunert 2009; Breidenstein/Prengel 2005; Heinz/Zeiher 2005). Schon gar nicht wollen wir ethnografische und Lebenswelt-Traditionen vernachlässigen, zu deren Gründungsvätern Alfred Schütz (1975) und, aus dem amerikanischen Raum, Erving Goffman (1959; 1961) gehören.
Verschiebung von Machtbalancen
Schauen wir zwei, drei Generationen zurück in unsere eigenen Familien, so wird jedem von uns Gegenwärtigen klar, dass sowohl im familialen wie im größeren gesellschaftlichen Rahmen eine wesentliche Veränderung das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und das Verhältnis zwischen Erziehern und Kindern betrifft (Krumrey 1982). Durch diese Entwicklungen verschiebt sich die Machtbalance zwischen den Geschlechtern, wobei wir hier das soziale Geschlecht meinen, mit dem englischsprachigen Begriff »gender« bezeichnet, und zwischen den Generationen. Dabei ist Macht nicht als eine Substanz zu denken, die quasi wie ein Kuchen aufgeteilt wird, wobei nun die Frauen und Kinder ein größeres Stück auf Kosten der Männer bekämen. Vielmehr geht es um einen Strukturwandel in der Figuration (Elias 1986) der Geschlechter/gender und der Generationen. In beiden Figurationen geht es um ein Ausbalancieren gegenseitiger Interessen und Bedürfnisse, und was Kinder betrifft, nicht nur gegenüber den Eltern, sondern auch gegenüber anderen (ehemaligen) Autoritätspersonen wie Pfarrern oder Lehrern. Diese Veränderungen korrespondieren mit makrosoziologischen Wandlungen, die Soziologen unter dem Sammelbegriff Modernisierung zusammenfassen und ausdifferenzieren (Herlth/Brunner/Tyrell 1994; Beck/Bonß/Lau 2001; Beck/Beck-Gernsheim 1990; Beck 1986; Zinnecker 2003b).
Insgesamt führt eine (mehr) ausgeglichene Machtbalance zu mehr Verhaltensalternativen und Verhaltensformen aller in einer Figuration involvierten Menschen, kleinen und großen. Sind in (stärker) hierarchischen Beziehungen nur wenige Aktions- und Reaktionsweisen vorgesehen – Respekt fordern und Respekt erhalten –, so öffnen sich nun für Menschen viel mehr Verhaltensvariationen. Kinder und Jugendliche sind Teil der Machtbalance und ihrer Wandlung hin zu mehr Anspruch auf Wahrung eigener Interessen. In älteren Familienfigurationen – denken wir etwa an die Kindergeneration der 1950er Jahre – hatten Kinder und Schüler wenig aktive Einflussmöglichkeiten auf das familiäre und schulische Geschehen; Eltern und Lehrer waren Respektpersonen, bis hin zu körperlicher Sanktionsgewalt. Das ist heute Ausnahme, nicht (mehr) Regel (du Bois-Reymond/Büchner/Fuhs/Ecarius 1994; Zinnecker 2003b).
Mehr Freiheit bedeutet nun aber nicht Zügellosigkeit. Wie insbesondere Bildungssoziologen thematisieren, erfordert eine gezielte und realistische Schulwahl Selbstdisziplin und Aufschub von momentaner Befriedigung (z .B. weniger Leistungsdruck in weniger anspruchsvollen Bildungsgängen oder schneller Geld verdienen – vgl. hierzu den Klassiker Paul Willis 1977). Wer dies nicht gelernt hat, kann auch zugenommene Wahlmöglichkeiten nicht optimal nutzen – womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass schulische Benachteiligung aufgehoben wäre, wenn alle Kinder und ihre Eltern vernünftige Schulwahlen träfen.
Wenn sich so einschneidende Veränderungen in modernen Gesellschaften vollziehen, und dies in einem relativ kurzen Zeitraum (jedenfalls unter einer zivilisationstheoretischen Perspektive, die mit langen Zeiträumen rechnet), so fordert dies den betroffenen Personen enorme Lernleistungen ab, Männern wie Frauen, Vätern wie Müttern, jüngeren wie älteren Kindern und Jugendlichen. Sie beziehen sich schon auf die Kleinkind- und Vorschulphase, erst recht auf die Schule. Moderne Eltern haben aus dem verfügbaren gesellschaftlichen Wissen gelernt, dass eine gute Schulbildung für ihre Kinder lebenswichtig ist, ja selbst überlebenswichtig in einer stets mehr auf Wissen basierten Gesellschaft1. Sie stellen deshalb ihre Erziehungsvorstellungen um vom Einfordern von Gehorsam auf das Stimulieren sozialpsychologischer und kultureller Kompetenzen wie das Begründen eigener und Reflektieren anderer Meinungen, Sprachfertigkeit und die Zügelung von aggressiven Impulsen. Norbert Elias hat die Herausbildung dieser Fähigkeiten im zivilisatorischen Langzeitverlauf als die Emanzipation von Fremdkontrolle hin zu Selbstkontrolle analysiert (Elias 1969). Diese Entwicklungen erstrecken sich auf alle sozialen Milieus, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Geschwindigkeit.
Moderne Erzieher haben mit dem Widerspruch zu tun, anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche historisch mehr Entscheidungsmacht erobert haben, andererseits müssen sie von ihnen Frustrationstoleranz und Leistungsbereitschaft fordern. Deshalb müssen Machtbalancen im schulischen und außerschulischen Leben immer neu ausgehandelt werden.
Formalisierung – Informalisierung – Re-Formalisierung
Im Verlauf der letzten etwa 150 Jahre entwickelt sich in europäischen Gesellschaften eine Dynamik, die auch für unsere Thematik – Schulleben aus autobiographischer Sicht – bedeutungsvoll ist. Es handelt sich hierbei um den Übergang von stark formalisierten zu mehr informellen Verhaltensformen. Diese Dynamik hat eine Anlaufzeit und kulminiert in den 1960/70er Jahren in der kulturellen und sexuellen Revolution – Höhepunkt informeller Verhaltensweisen nach Jahrzehnten (viel) stärker reglementierter Verhaltenskodes, wie man dies gut anhand von Anstandsbüchern (Krumrey 1982) analysieren kann. Das impliziert eine Adjustierung der Selbstzwang-Fremdzwang-Balance: Wenn sich den Individuen aufgrund allgemeiner Demokratisierungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mehr Wahlmöglichkeiten und erweiterte Verhaltensalternativen eröffnen, wenn ihr Verhalten also weniger durch Zwang von außen und oben gelenkt wird, so steigt im selben Atemzug die Notwendigkeit zur Selbststeuerung – in psychoanalytischer Terminologie: Gewissensbildung.2 Es kommt zu einer »Verringerung des Machtgefälles zwischen machtstärkeren und machtschwächeren Gruppen« (Elias 1990, S. 36). Diese Abschwächung des Machtgefälles finden wir auch im Verlauf der Schulgeschichte (s.w.u.), in der Beziehung von Lehrern und Schülern, Schüler haben sich gegenüber ihren Lehrern mehr Freiheitsgrade im Verhalten erobert, Lehrer haben sich weitgehend von Obrigkeitsideologien gelöst. Aber, wie Elias anmerkt: Diese Verringerung des Machtgefälles vollzieht sich in einer Gesellschaft – und zumal der deutschen – nicht gleichmäßig, sondern in den oberen Gesellschaftsklassen früher, während man sich »im Verkehr mit Tiefergestellten, wie es die Sprache uns in den Mund legt, keinen Zwang anzutun (braucht), man kann sich gehen lassen« (Elias 1990, 50).
Es dauerte drei bis fünf Generationen, bis diese Unterschiede ausgeglichen waren. Wir können das aus unseren...