Was ist Burn-out?
Burn-out entsteht in der Regel, wenn der Anforderungsdruck im Alltag, insbesondere auch der Arbeitswelt, steigt und die persönliche Bewältigungskompetenz hierfür nicht mehr ausreicht beziehungsweise passt. Es ist einerseits im Erleben der Betroffenen ein hochindividuelles Geschehen, andererseits als Massenphänomen von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz.
Um die Problematik ausführlicher und in ihrer Komplexität zu verdeutlichen, hier ein überarbeitetes Interview mit Herrn Sui Xiaofei. Herr Sui ist QiGong-, TaiJi- und TaiJi-Bailong-Ball-Lehrer, Geschäftsführer der Laoshan Union (Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin, traditionelle Bewegungs- und Kampfkünste und Lebenspflege, Hamburg/Qingdao, China). Er hat dieses Interview mit mir anlässlich des Internationalen QiGong-Symposions 2011 in Dietfurt (Bayern) geführt. Es behandelt Fragen, die sich viele Menschen stellen, die sich mit der Burn-out-Problematik befassen und sich vielleicht um ihre eigene Gesundheit sorgen.
Interview zur Übersicht
Herr Sui Xiaofei: Gab es in früheren Zeiten schon Hinweise auf Burn-out? In der Öffentlichkeit wird Burn-out ja meist als moderne Krankheit der letzten Jahre betrachtet.
Dr. Manfred Nelting: Schon die griechische Sisyphos-Saga (Sisyphos musste als Strafe für den Verrat eines Geheimnisses des Gottes Zeus einen schweren Stein einen Berg hinaufrollen. Immer wenn er es zu schaffen geglaubt hatte, rollte der Stein wieder herunter, und die Qual begann von neuem) enthält drei wichtige Themen des Burn-outs: das Leiden ohne Ende, die entstehende Sinnlosigkeit des Tuns und die fehlende Balance zwischen Aktion und Pause.
Ansonsten entsteht Burn-out in der Regel auf dem Boden moderner Alltage, die dadurch gekennzeichnet sind, dass bei stark gestiegenem, allgemeinem Anforderungsdruck die Bewältigungskompetenz hierfür nicht mehr ausreicht. Es spielt dabei auch eine wichtige Rolle, dass sich unsere Lebensstile stark verändert haben, in dem Sinne, dass die Bewegung extrem reduziert ist, ein Aufgehobensein in Gemeinschaften nur noch selten ist, familiäre Strukturen sich auflösen beziehungsweise neue Formen noch kein Vorbild haben und insofern Haltegriffe und Schutzfaktoren gegen eine Burn-out-Entwicklung weggebrochen sind. Daneben ist eine individualisierte Verantwortung für alles entstanden, sodass sich die Gesellschaft nicht mehr für Fehlentwicklungen zuständig sieht. Diese Verantwortung kann der Einzelne nicht tragen.
Herr Sui Xiaofei: Wie lässt sich Burn-out definieren, und was sind für Sie die wichtigsten Hinweiszeichen?
Dr. Manfred Nelting: Burn-out ist eine Hyperstress-Erkrankung, die prozesshaft, über eine längere Zeit unbehandelt, in Begleitung vieler, auch körperlicher Symptome in eine schwere Depression mündet. Die wichtigsten Faktoren, die oft vom Betroffenen nicht mehr richtig wahrgenommen beziehungsweise eingeschätzt werden können, sind: Einschränkung der sozialen Kommunikation bis zur Sprachlosigkeit, Zunahme des Perfektionsstrebens (alles selber machen wollen) bei gleichzeitiger Zunahme der Fehlerquote oder der Verringerung des Outputs, zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Kollegen, Kunden, Freunden, bei gleichzeitig eingeschränkter Kritikfähigkeit, Zunahme körperlicher Symptome, die als ärgerliche, störende Einzelkrankheiten abgetan und behandelt werden, Abnahme der Lebensfreude und Zunahme von Gefühlen der Sinnlosigkeit des Tuns und des Lebens, also generell Zunahme von Depressivität.
Herr Sui Xiaofei: Ist Burn-out in den letzten Jahren so viel häufiger geworden, oder hat das Kind jetzt nur einen anderen Namen?
Dr. Manfred Nelting: Burn-out hat stark zugenommen. Die Bewältigungskraft im Leben hat generell abgenommen, unter anderem aufgrund der zu Beginn bereits genannten Gründe, wie etwa veränderte Lebensstile. Der Anforderungsdruck hat jedoch zugenommen, meist durch wirtschaftlich begründete Veränderungen in der Arbeitswelt. Gleichzeitig sinkt die Motivation zur Arbeit, und sie erscheint zunehmend sinnlos, weil Geld und Renditen sich über die Menschwürde erheben konnten. Ein Durchhalten bricht immer dann zusammen, wenn die Zuversicht auf Änderung, also die Zukunft, verlorengeht.
Die Sorge um eine Burn-out-Hysterie (»Süddeutsche Zeitung« vom 22. Oktober 2011) und die Befürchtung, dass alles Mögliche jetzt Burn-out genannt wird, sind durchaus berechtigt, aber dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in Deutschland etwa sechs Millionen Menschen in einem Burn-out beziehungsweise einer fortgeschrittenen Burn-down-Spirale befinden. So nenne ich ein Fortschreiten des Burn-out-Prozesses mit zunehmender Erschöpfung, Krankheitssymptomen, Depressivität und Selbsttäuschung über den eigenen Zustand. Je weiter die Burn-down-Spirale fortgeschritten ist, umso schwerer kann man sich daraus befreien. In den kürzlich von den Betriebskrankenkassen und den Gewerkschaften genannten neun Millionen Burn-out-Fällen dürften aus meiner Sicht jedoch auch Überschneidungen zu anderen psychosozialen Erkrankungen miterfasst sein. Richtig ist deshalb auch die medizinwissenschaftliche Forderung, dass die Diagnostik und die Kriterien, nach denen ein Burn-out festgestellt wird, klarer gefasst werden müssen (»Deutsches Ärzteblatt«, Jahrgang 108, Heft 46 vom 11. November 2011). Burn-out ist keine Mode-Erscheinung, aber kritische Haltungen gegenüber dem Burn-out-Konzept und die Offenheit der Diskussion über das Massenphänomen Burn-out müssen, im Interesse der Betroffenen und der Notwendigkeit einer fachgerechten Behandlung und wirksamen Prävention, in gute Balance gebracht werden.
Herr Sui Xiaofei: Warum sind Ihrer Meinung nach in letzter Zeit so viele Menschen betroffen?
Dr. Manfred Nelting: Neben den schon genannten Gründen wird die Problematik in einer Burn-down-Spirale verstärkt, wenn die Dinge undurchschaubar werden und insbesondere die Sinnhaftigkeit verloren geht. Dies ist aber ein generelles Zeichen der Kommunikationsprozesse im globalisierten Alltag. Echte Gefahren können so nicht genau lokalisiert werden, eine diffuse Hintergrundangst verstärkt sich außerordentlich.
Herr Sui Xiaofei: Burn-out galt früher als reine Managerkrankheit. Hat sich das heute verändert?
Dr. Manfred Nelting: Der Begriff Burn-out stammt ursprünglich aus der therapeutischen Arbeit mit Menschen aus helfenden Berufen. Erst später wurde dies die »Managerkrankheit« von Menschen, die ihren Arbeitstag über die Maßen ausgedehnt hatten oder dies mussten. Heute kann jeder, der normal engagiert und motiviert lebt, ein Burn-out erleiden, wenn er bei zunehmendem Anforderungsdruck die Balance zwischen Aktion und Ruhe/Entspannung/Muße nicht gestalten kann beziehungsweise dafür die Kompetenzen nicht erwirbt.
Herr Sui Xiaofei: Kann man Burn-out aus Ihrer Sicht ganzheitlich behandelt?
Dr. Manfred Nelting: Ganzheitliche Behandlung bei Burn-out meint, den ganzen Menschen zu behandeln, also Körper, Seele, Geist. Es ist wichtig, dies auch stationär oder tagesklinisch im Krankenhaus umzusetzen. Wer die Behandlungsnotwendigkeit im Wirbel der Burn-down-Spirale schon frühzeitig für sich feststellen kann, kann auch ambulant medizinisch/psychotherapeutisch oder durch Supervision, Coaching beziehungsweise Seminare herauskommen, vorausgesetzt, der Mensch als ganzes Wesen bleibt im Fokus. Ganzheitlich heißt aber auch »Behandlung« krank machender Zustände in Unternehmen, im Sinne einer wirksamen Burn-out-Prävention durch ein echtes Gesundheitsmanagement, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das von meiner Frau und mir gegründete »Gezeiten Haus« bietet für alle genannten Prozesse entsprechende Behandlungen und Vorgehensweisen an, wobei wir grundsätzlich neben den wissenschaftlich erfahrbaren Erkenntnissen auch die Weisheiten der Traditionellen Chinesischen Medizin und Philosophie sowie unsere eigenen westlichen Weisheitstraditionen nutzen.
Herr Sui Xiaofei: Viele Betroffene sind in der akuten Behandlung bereit, ihr Leben zu ändern. Der Stress erfasst einige Menschen früher oder später aber doch wieder. Kann man aus Ihrer Sicht das Leben nach dem Burn-out dauerhaft erfolgreich ändern?
Dr. Manfred Nelting: Kompetenzen in folgenden Bereichen sind nötig beziehungsweise müssen erworben werden: Balance von Aktionen und Pausen, Wahrnehmung von Grenzen, gegebenenfalls mit der Fähigkeit des Neinsagens, des dosierten Ungehorsams. Des Weiteren Innehalten, innere Verankerung, Modifizieren, eventuell auch Loslassen in der Teilnahme am globalisierten Alltag und Neugestaltung des eigenen Lebensstils, mit der Fähigkeit zu wählen, zu entscheiden, auch »Ja« zu sagen, wenn Wesensnähe gefühlt wird.
Das klingt schwierig, tatsächlich kann man aber mit gesundem Menschenverstand für sich einen roten Faden entwickeln, der einem hilft, seinen Weg zu finden. Gemeinschaftlich schafft man das alles leichter. QiGong-Übungen sind aus unserer Sicht eine sehr bewährte Lebenspflege, um auch unter dem Druck des globalisierten Alltags seine innere und physiologische Balance zu erhalten.
Herr Sui Xiaofei: Wie vielen Menschen gelingt es Ihrer Erfahrung nach, das Leben dann wirklich zu ändern, und wie ist es den Betroffenen in der Praxis gelungen?
Dr. Manfred Nelting: Bei den Menschen, die in unserer stationären Behandlung waren, ist es eine deutliche Mehrheit,...