Vorwort
Die hier in durchgesehener und erweiterter Fassung wieder vorgelegte Literaturgeschichte erschien erstmals 1991 bei Volk und Wissen (Berlin). Die Unterstützung durch die Schweizer Kulturstiftung »Pro Helvetia« hatte es dem Verlag noch ermöglicht, das seit Ende 1989 vorliegende Manuskript zu veröffentlichen. Die damals bereits einsetzenden Veränderungen seiner Struktur und Arbeitsbedingungen führten jedoch dazu, daß er den Titel nur wenige Jahre im Programm halten konnte. Die Autoren der Literaturgeschichte sind daher dem Militzke Verlag Leipzig besonders dankbar für seine Entscheidung, ihre Arbeit nun in sein Programm zu übernehmen und sie so interessierten Lesern auch wieder auf dem Buchmarkt zugänglich zu machen.
Die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz hatte in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend Beachtung gefunden. Und dies nicht nur im deutschen Sprachraum, wie etwa die intensive Forschungs- und Publikationstätigkeit von Literaturwissenschaftlern vor allem in den Niederlanden, in Großbritannien und Russland auf diesem Gebiet belegt. Auch in den literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen der Zeit wurde diesem Umstand auf verschiedene Weise Rechnung zu tragen versucht. Allerdings erwiesen sich dabei alle Varianten als problematisch, bei denen Schweizer Autoren mehr oder weniger direkt der Literatur der Bundesrepublik zugeordnet wurden, während gleichzeitig die Literatur in der DDR und zumeist auch die Österreichs gesondert abgehandelt wurde. Die hierüber geführten Debatten machten deutlich, daß deutschsprachige Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durch die Beziehung zwischen einem Zentrum und verschiedenen Randbereichen zu definieren ist, sondern – um mit dem slowakischen Spezialisten für vergleichende Literaturwissenschaft Dýoniz Ďurišin zu sprechen – nur als »interliterarische Gemeinschaft« aller Literaturen deutscher Sprache. Daher erschien die zuerst in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart (Zürich/München 1974 ff.) praktizierte Lösung am überzeugendsten, bei der Betrachtung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die literaturgeschichtliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland, in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz als methodologisch gleichwertige Gegenstände zu behandeln. Denn erst auf der Grundlage einer Erforschung und Darstellung ihrer jeweiligen Spezifik wird es möglich, zu einem realen Begriff jener übergreifenden Einheit »deutschsprachige Literatur« zu gelangen und ihre inneren Zusammenhänge und Wechselbeziehungen erfassen zu können.
Als eine Besonderheit der literarischen Situation in der Schweiz fällt von vornherein ins Auge, daß das Jahr 1945 für sie aus naheliegenden Gründen keine vergleichbare Bedeutung gehabt hat wie für die anderen Teile des deutschen Sprachgebiets. Parallel zu den Darstellungen innerhalb der zuvor schon im Verlag Volk und Wissen erschienenen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Bd. 11: Literatur der DDR, Berlin 1976; Bd. 12: Literatur der BRD, Berlin 1983) eine Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur seit Ende des zweiten Weltkrieges zu schreiben, erschien daher wenig sinnvoll. Die Entscheidung, statt dessen einen literaturgeschichtlichen Überblick über das 20. Jahrhundert anzustreben (bei besonderer Akzentuierung der Literatur seit Frisch und Dürrenmatt), gründete auf folgenden Überlegungen:
Die seit etwa 1960 in der Deutschschweiz entstandene Literatur (und zuvor schon das Werk von Frisch und Dürrenmatt) hat ein eigenes Traditionsverständnis entwickelt, das nachdrücklich auf Namen aus der ersten Jahrhunderthälfte wie Robert Walser, Albin Zollinger, Friedrich Glauser oder Jakob Bührer hinwies und der Literatur »zwischen Keller und Frisch« (Beatrice von Matt) zunehmend einen bedeutenden Platz im literarischen Leben der Gegenwart verschafft hat, woran Bemühungen der Schweizer Germanistik seit den siebziger Jahren einen wesentlichen Anteil gehabt haben. Diese im allgemeinen auch außerhalb der Schweiz wenig bekannte ›Vorgeschichte der Gegenwart‹ mit bewußt zu machen, erschien daher unumgänglich. Daß bei diesem notwendigen Rückblick auf das ganze 20. Jahrhundert nicht formal mit dem Jahr 1900 eingesetzt werden konnte, wurde in der Diskussion über das Projekt – nicht zuletzt auch mit Kollegen aus der Schweiz – schnell klar. Die eigentliche literaturgeschichtliche Zäsur lag in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts; der Tod Gottfried Kellers bot sich dafür als innerliterarischer Fixpunkt ebenso an wie die 600-Jahrfeier der Eidgenossenschaft als ein solcher unter historisch-gesellschaftlichem Aspekt. Ein vergleichender Blick auf die literarischen Zentren des deutschen Kaiserreichs (mit der Entfaltung des Naturalismus in Berlin) und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (mit dem Fin-desiècle in Wien) ließ die Besonderheit der Schweizer Situation in jener Zeit besonders deutlich hervortreten. Von da aus leitete sich der Versuch ab, drei größere literaturgeschichtliche Phasen der weiteren Entwicklung voneinander abzuheben: die Zeit bis Ende der 1920er Jahre, die Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich die ›Gegenwart‹ seit etwa 1960, dazu – zwischen dem zweiten und dritten Teil stehend – ein spezielles Kapitel, das den Weg von Frisch und Dürrenmatt zum Weltruhm nachzeichnet. Der für den letzten Teil ursprünglich gesetzte Schlußpunkt resultierte aus der Terminierung der Arbeit an der Literaturgeschichte, die im Herbst 1989 abgeschlossen sein sollte, und war damals mit »Ende der achtziger Jahre« des 20. Jahrhunderts nur sehr vage zu bestimmen. Bereits 1991, im Jahr ihres Erscheinens, zeichnete sich dann jedoch eine neue Situation auch für die Deutschschweizer Literatur ab, der weit eher der Charakter einer literaturgeschichtlichen Zäsur zuerkannt werden kann. Dem Tod Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs kommt dabei eine ähnlich zeichenhafte Bedeutung zu wie hundert Jahre zuvor dem Tod Gottfried Kellers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß hiermit das Ende der deutschsprachigen Schweizer Literatur angezeigt worden wäre – dieser voreiligen und oberflächlichen These in einigen publizistischen Beiträgen vor und nach den Solothurner Literaturtagen 1991 ist mit Recht von kompetenten Stimmen aus Literaturkritik und Literaturwissenschaft sofort widersprochen worden. Die Literatur der 1970er und 1980er Jahre war zwar keine nach, sondern immer noch eine mit Frisch und Dürrenmatt, aber beide waren, auch wenn ihr Gesamtwerk einen einmaligen Höhepunkt der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert darstellt, zu dieser Zeit schon nicht mehr in vergleichbarer Weise bestimmend für diese wie in den 1960er oder gar so allein repräsentativ wie in den 1950er Jahren. Für sich allein genommen, hätte ihr Tod also noch keine literaturgeschichtliche Zäsur bedeuten müssen. Doch fiel er mit einer veränderten welthistorischen Situation, dem Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm), zusammen, was auch Konsequenzen für die Schweiz hatte und nicht zuletzt jene Autoren, die sich in ihrer Grundhaltung Frisch und Dürrenmatt verbunden fühlten, vor veränderte Bedingungen ihres Wirkens stellte. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas, die Beendigung des Kalten Krieges durch einen politischen und ökonomischen Sieg des Westens und der damit verbundene »Anschluß, der Beitritt genannt wurde« (Günter Grass) der DDR an die BRD kamen nicht nur überraschend, sondern schufen auch neue Realitäten, denen nicht mehr mit alten Denkmodellen beizukommen war. Eine für die Neuauflage möglich gewordene gewisse zeitliche Erweiterung der Literaturgeschichte bot Gelegenheit, diese widerspruchsvolle Situation zu Beginn der 1990er Jahre zumindest skizzenhaft zu erfassen und so die Darstellung zu einem organischeren Abschluß zu führen, als das 1989/ 1990 möglich gewesen ist. Außerdem konnten nun bei einzelnen Autoren noch wichtige Werke aus der Zeit des Übergangs zu den 1990er Jahren mit berücksichtigt werden.
Bei der Erarbeitung der vorliegenden Literaturgeschichte als einem Projekt universitärer Forschung hatten die Autoren in erster Linie die Studenten als Adressaten im Auge, dazu den interessierten Leser neuerer Literatur generell, der »alles mögliche liest« und der sich darüber informieren möchte, »was das Gelesene in einem größeren Zusammenhang bedeutet« (Werner Krauss). Dies verlangte, um eine nach wie vor gültige Unterscheidung zu bemühen, die Goethe 1806 in einer Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung getroffen hat, Geschichte nicht »für die Wissenden«, sondern »für die Nichtwissenden« zu schreiben:
»Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine...