Die Einschulung stellt einen wichtigen Einschnitt und Wendepunkt im Leben eines Kindes dar. Ein sog. ‚ABC-Schütze‘ zu sein, jeden Morgen in die Schule zu gehen, dort einer Klasse mit KlassenlehrerIn und einigen Fachlehrern anzugehören und im Intervall von 45 Minuten an verschiedenen Unterrichtsstunden teilzunehmen, das unterscheidet sich vom noch relativ freien und behüteten Spiel im Kindergarten. Ebenso einschneidend ist die Änderung für Kinder, die bisher ständig zu Hause betreut wurden. Nun heißt es, sich an klar vorgeschriebene Abläufe und Regeln zu halten und eine streng geordnete Organisation zumindest des Vormittages zu übernehmen.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, weshalb das Augenmerk zahlreicher Autoren gerade auf diesem Zeitabschnitt des Beginns der Schullaufbahn, des Erstunterrichtes, liegt. Warum beschäftigen sich so viele Studien mit den ersten Wochen und Monaten im Leben eines Schulkindes? Ist diese Anfangsphase derart prägend für den weiteren Verlauf, nimmt sie doch nur einen winzigen Bruchteil des i.d.R. mindestens 10 Jahre dauernden Schulbesuches ein? Sind Schwierigkeiten beim Lernen in dieser Zeit nicht völlig normal, eine Art ‚Anpassungsreaktion‘ auf neue Gegebenheiten und gleichen sich im Laufe der Schuljahre wieder aus? Die Autoren BREUER und WEUFFEN bantworten diese Fragen bereits mit dem Titel ihres Kapitels „Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht haben oft eine negative Langzeitwirkung“ (2000, 18-20). Dort sprechen sie von „zweifelsfreien Zusammenhängen zwischen Schulstart und Schullaufbahn“ (20) und beweisen dies anhand einer Untersuchung, die den Schulerfolg von Schülern in den Anfangsklassen mit dem am Ausgang der Schulzeit vergleicht. „Während alle Schüler mit guten Lernergebnissen im Anfangsunterricht planmäßig den Abschluss der Klasse 10 erreichten, ...verloren fast 40% der Schüler mit Lernschwierigkeiten am Schulanfang später den Anschluss an die Schullaufbahn ihrer Altersgefährten“ (nicht bestanden oder ‚Ausreißer‘) (20). Gründe sehen die Autoren in einer fehlenden „gezielten prophylaktischen Förderung“ (12) schon im vor- und frühschulischen Bereich sowie einer zu spät einsetzenden speziellen Förderung dieser Schüler im Anfangsunterricht. Diese wird von den Verantwortlichen (Erzieher, Lehrer, besonders auch die Eltern) oft mit dem Wunsch begründet, Stigmatisierungen vermeiden zu wollen. Häufig wird ein ‚abwartendes Verhalten‘ empfohlen, das von der Hoffnung gestützt wird, die Schwierigkeiten würden sich bald ‚auswachsen‘. Jedoch stehen dieser Tatsache „unvorstellbare Drangsale durch unerfüllte Ansprüche, durch Enttäuschungen, Misserfolge und damit zusammenhängende Demütigungen“ (18) auf Seiten der betroffenen Schüler gegenüber.
BREUER/WEUFFEN ziehen aus diesen Zusammenhängen den Schluss: „Anliegen der Pädagogik muss sein, jedem Kind den bestmöglichen Schulstart zu sichern“ (20). Dazu ist es notwendig, die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen am Schulanfang zu kennen. Dabei sehen die Autoren zwei Ausgangspunkte: „Einmal kommt es darauf an, dass man lernen will, also auf die Lernmotivation. Zum anderen darauf, dass man lernfähig ist und lernen kann, also auf die Kognition“ (20).
Im Alter von 5 Jahren werden alle Kinder einem sog. ‚Schulreifetest‘ unterzogen, der von Erziehern, Ärzten, Psychologen und Lehrern durchgeführt wird und mit einer Empfehlung zur Einschulung oder einem weiteren Besuch des Kindergartens/der Vorschulklasse (das sog. ‚Zurückstellen‘) endet. Alle Kinder, denen bei diesem Test die Schulreife bescheinigt wird und die bis zu einem bestimmten Stichtag (meist 31.05.) das sechste Lebensjahr vollendet haben (abgesehen von Ausnahmefällen vorzeitigen Einschulens bei besonderer Begabung des Kindes), besuchen nach den Sommerferien zum ersten Mal die Grundschule. In den letzten Monaten vor dem Schuleintritt bereiten Eltern und Kindergärtnerinnen die Kinder in vielfältiger Weise auf dieses große Ereignis vor. Gedichte und Lieder, die verkünden, wie schön es ist, ein Schulkind zu sein, werden vorgetragen und gesungen. Meist werden die Zahlen bis 10 geübt, der eigene Namen und die ersten Buchstaben gemalt und schon einmal das Stillsitzen probiert. Verkehrerziehung bekommt nun einen höheren Stellenwert als vorher, der Schulweg wird mit den Eltern abgegangen. Es gibt Feste des Abschieds und Willkommensfeiern. Diese und zahlreiche andere Aktivitäten signalisieren den Kindern, dass nun eine wichtige Zeit in ihrem Leben bevorsteht. Die Erwachsenen können ihnen auf verschiedene Weise die Vorbereitung erleichtern und für eine positive Einstellung des Kindes Sorge tragen. Beim Auswählen der ersten Schulhefte und –materialien kann das Kind mit einbezogen werden.
Drohungen in der Art ‚Wenn du erstmal in die Schule kommst...‘ können allerdings auch zu Unsicherheit und negativen Erwartungen führen.
BREUER hat 1985 emotionale Beziehungen von Schulanfängern gegenüber der Schule untersucht und ist dabei zum Ergebnis gekommen, dass „ihre Einstellung zum Lernen und zur Schule anfangs eindeutig positiv ist (97,5%)“ (BREUER/WEUFFEN 2000, 15). Fragt man künftige ABC-Schützen, ob sie sich auf die Schule freuen oder ob sie lieber noch zu Hause/im Kindergarten bleiben möchten, fällt die Antwort fast immer zugunsten der Schule aus. Dies begründen sie v.a. mit dem Wunsch, endlich lesen, schreiben und rechnen zu wollen und etwas zu lernen, was die ‚Großen‘ schon können.
Nach dem ersten Schulhalbjahr waren noch 75% der Kinder der Schule gegenüber positiv eingestellt, 25% hatten eine neutrale Meinung. Am Ende der ersten Klasse hatte sich das Bild deutlich gewandelt. Nun waren nur noch die Hälfte der Kinder positiv eingestellt, 30% waren gleichgültig. 20% aller Schüler hatten jedoch eine negative Meinung über die Schule entwickelt (vgl. BREUER/WEUFFEN 2000, 16).
Erklärt wird diese Veränderung durch die zunehmende Konfrontation mancher Schüler mit Enttäuschungen, die durch permanente Lernschwierigkeiten zustande kommen. Dabei handelt es sich nicht um Einzelschicksale. Die Angaben zur Häufigkeit, wie viele der eingeschulten Kinder tatsächlich Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht haben, schwankt nach BREUER/WEUFFEN zwischen 12 und 25% (vgl. 17). Die Autoren führten selbst an zwei verschiedenen Stellen Befragungen über Schüler der Klassen 1 und 2 durch. Bei einer Gruppe von 23 454 Schülern waren es 26,5% mit Lernschwierigkeiten, von 1 059 Schülern 14,2%. Dabei fiel die Überrepräsentation der Jungen mit mehr als 60% auf (vgl. 18). Zwar zeigen sich Veränderungen im psychischen Erleben der Schüler nicht immer in auffälligen Symptomen, doch sie vollziehen sich stetig und verursachen den Abbau der anfänglichen Lernmotivation. Lehrern muss bewusst sein, dass sie mit unterschiedlichen Befindlichkeiten bei ihren Schülern zu rechnen haben. Befragungen in nachfolgenden Schuljahren haben erbracht, dass die Polarisierung in der Einstellung zur Schule stetig zunimmt. Zu Schuljahresbeginn überwiegen noch die positiven Einstellungen, mit andauerndem Fortschreiten nimmt allerdings die Anzahl der Schüler mit einer negativen Grundeinstellung zur Schule zu.
Aus derartigen Ergebnissen und Erfahrungen geht die gesellschaftliche Tragweite des Problems eindeutig hervor.
Verschiedene kognitive Prozesse ermöglichen es einem Individuum, sich seiner Umwelt und sich selbst bewusst zu werden: die Wahrnehmung, die Vorstellung, das Erkennen, das Urteilen, die Gedächtnisleistung, das Denken, die Sprache und das Lernen[3].
Im ersten Kapitel ihres Buches „Sprechen, Lesen, Schreiben“ (2001) beschreibt MILZ neuropsychologische Voraussetzungen für diese kognitiven Prozesse. Sie stellt zudem die Bedeutung der Entwicklung des Gehirns und den damit zusammenhängenden Stufen der Reifung des Zentralnervensystemes (ZNS) eines Kindes dar.
Im Alter von 20 Monaten sind etwa 60-70% der Entwicklung des ZNS vollendet. Mit dem Erwerb der Sprache von 21-36 Monaten verlangsamt sich die Reifung. Die Zeit vom vollendeten dritten bis zum zehnten Lebensjahr ist die Periode der sehr langsamen Vollendung der Reifungsprozesse, ein „Prozess physiologischer Organisation findet statt“ (vgl. MILZ 2001, 24-25). Der Schulanfänger im Alter von 6-7 Jahren befindet sich inmitten dieses Prozesses, an dessen Ende die vollständige Ausbildung der verschiedenen Funktionsapparate steht:
Olfaktorischer Apparat: zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Gerüchen
Optischer Apparat: Funktion des Sehens
Auditiver Apparat: zum Erfassen von Tonfolgen, Rhythmen und Melodien
Motorischer Apparat: zur Koordinierung von Körperbewegungen (Grob- und Feinmotorik), zum Sprechen (Lautanalyse) und Schreiben (Erfassen und Zerlegen von Buchstaben und Wortbildern)
Allgemeine Hirnleistungen: Verbales und...