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E-Book

Scott

Das Leben einer Legende

AutorRanulph Fiennes
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783866483842
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
18. Januar 1912: Als Robert Falcon Scott am Ende seiner unmenschlich strapaziösen Expedition den Südpol erreicht, erblickt er eine Flagge, die seine schlimmste Befürchtung wahr werden lässt: Er hat das Rennen gegen seinen großen Konkurrenten Amundsen verloren. Ranulph Fiennes erzählt die Geschichte von Scotts fataler Antarktis-Expedition mit der Erfahrung und Einfühlung desjenigen, der selbst genau dort war: im Eis und an den Grenzen des Erträglichen.

Ranulph Fiennes, geboren 1944 in Windsor/England, ist Forscher, Autor und Inhaber mehrerer Ausdauerrekorde. Unter anderem war er der erste Mann, der sowohl den Nord- als auch den Südpol auf dem Landweg erreichte. Er diente in der Privatarmee des Sultans des Oman und leitete zahlreiche Expeditionen, bei denen er über 5 Millionen GBP für wohltätige Zwecke sammelte. Aufgrund seines gesellschaftlichen Engagements wurde er 1993 zum Officer of the Order of the British Empire ernannt.

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MARKHAMS GROSSER PLAN


Im März 1912 standen drei Männer auf einer antarktischen Eisebene an der Schwelle des Todes. Sie hatten mit Robert Scott den Südpol erreicht, überstanden aber den Rückweg nicht. Lawrence Edward Grace Oates, den seine Expeditionskollegen »Titus« nannten und der bald zu einem archetypischen Helden seines Jahrhunderts werden sollte, starb unter ungeheuren Schmerzen langsam über viele Tage und Nächte und beschloss schließlich, den Augenblick seines Todes selbst zu wählen; er verließ das Zelt und wurde binnen Minuten Opfer der antarktischen Kälte. Oates hatte einmal über seinen Anführer gesagt: »Ich kann Scott absolut nicht leiden … er ist nicht rechtschaffen, denkt immer zuerst an sich, der Rest kann sehen, wo er bleibt, und wenn er dir das Letzte abgerungen hat, musst du allein klarkommen.«1 Und so musste Oates sich selbst helfen.

Ein paar höllische Tage später folgten zwei weitere Mitglieder von Scotts Polarmannschaft Oates in den Tod. Der eine, der Schotte Henry Bowers, hatte über Scott gesagt: »Ich bin Captain Scott ergeben und halte rundweg zu ihm. … Er ist einer der Besten und verhielt sich entsprechend unseren besten Sitten, selbst in Zeiten, in denen seine eigenen Aussichten absolut düster erscheinen mussten.« Und in einem Brief an seine Mutter hatte er geschrieben: »Der Captain ist ein trefflicher Führer, für den ich die größte Bewunderung hege.«2 Der zweite Todgeweihte war der Arzt und wissenschaftliche Leiter Edward Wilson, der den größten Respekt im Expeditionsteam genoss. Er hatte geschrieben: »Es gibt nichts, was ich nicht für ihn tun würde. Er ist ein wahrhaft guter Mensch. Er ist um jeden Einzelnen bedacht und beweist dies auch mit kleinen Gefälligkeiten. … Ich habe ihn niemals unlauter erlebt.«3 Ein andermal hatte er geschrieben: »Ich kenne ihn nun seit zehn Jahren und glaube so sehr an ihn, dass es mir oft leidtut, wenn er sich Missverständnissen aussetzt. Ich bin sicher, Ihr werdet ihn kennenlernen und ebenso überzeugt von ihm sein, wie ich es bin, auch wenn er bisweilen schwierig ist.«4

Neben Bowers und Wilson musste auch Scott langsam verhungern und erfrieren. Mit seinem Tod wurde eine kontroverse Legende geboren, die selbst einhundert Jahre später so viel Macht und Faszination besitzt, dass sie noch immer erbitterte Dispute auslöst. Scott ist bis heute ein Rätsel. Wilsons Hoffnung, »Ihr werdet ihn kennenlernen und (…) überzeugt von ihm sein«, hat sich nicht erfüllt, trotz rund vier Dutzend Biografien.

In den beiden Weltkriegen diente die Geschichte um Scott als heroisches Beispiel dafür, wie man dem Tod ins Antlitz blickt, wenn man für sein Land kämpft. Seit den 1980er-Jahren blicken die Briten kritischer auf ihre Vergangenheit, und so wurde das gängige Bild des Helden Scott durch eine neue Generation von Biografen in ein zynisches Epos des Scheiterns verwandelt. Schuld an jenem Scheitern, so die neue Version, war der typisch britische Imperialismus zu einer Zeit, als das Imperium bereits zu verblassen drohte. Ein neuzeitlicher Biograf, der mit der kritischen Messlatte der moralischen und sozialen Werte von heute das Porträt eines Menschen vom Anfang des 20.Jahrhunderts zeichnet, erschafft indes eine bloße Karikatur der ursprünglichen Persönlichkeit. Für mich ist die Geschichte Scotts, wie sie heute dargestellt wird, ein Zerrbild der Wahrheit.

Ich habe alle einschlägigen Schriften über Scott und seine Männer gelesen, doch im Gegensatz zu seinen früheren Biografen habe ich im Laufe vieler Jahre die gleichen Erfahrungen gemacht wie Scott und kann daher zu seinen Entscheidungen und seinem Verhalten fundierter Stellung nehmen und die ernsthaften Probleme, vor denen Scott stand, mit praktischem Verständnis nachvollziehen. Als Robert Scott, ein unbekannter Leutnant der Royal Navy, beauftragt wurde, zwei der britischen Versuche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu leiten, die Geheimnisse der Antarktis aufzudecken, wusste man nicht einmal, ob der eisige Südpol auf Land oder im Meer lag.

Im Jahr 1900 herrschten die Briten noch immer über das größte und reichste Imperium in der Geschichte, das sogar jenes der Römer übertraf. Scott, Jahrgang 1868 und weder Rebell noch Liberaler, hatte wenig vom Leben mitbekommen, außer einer intensiven Ausbildung an Marineschulen. Er war durchaus ein Kind seiner Zeit und seiner Nation. London war damals die bedeutendste Hauptstadt der Erde. Britische Kohle, die Gewinnung von Stahl und die Erzeugung von Dampfkraft – alles Früchte des britischen Erfindungsgeistes – hatten eine beispiellose industrielle Revolution entfacht. Im 19. Jahrhundert beherrschte die Royal Navy mit einem Verbund von Gesellschaften wie der East India Company und der Hudson’s Bay Company ein Drittel des gesamten Welthandels. Mit britischer Technologie (und den Rohstoffen anderer Völker) schuf man Erzeugnisse, die als die solidesten der Welt galten. Die Hälfte aller Schiffe auf den Meeren war in britischem Besitz. Um die Jahrhundertwende umfasste das Imperium 26 Prozent der Landfläche unseres Globus. Mehr als 400 Millionen Menschen unterstanden der britischen Herrschaft. Und dank der Erfindung von Guttapercha waren die meisten dieser Territorien (in Afrika, Kanada, Indien und Australien) durch ein 83 500 Meilen langes Netz gummierter Unterseekabel per Telegrafie mit dem Mutterland verbunden. Die Sprache der kleinen Insel Königin Victorias griff langsam auf die ganze Welt über, ebenso britische Modestile, Bräuche und Sportarten sowie das Versicherungswesen und die Verwendung von Postwertzeichen.

Am Ausklang des 19. Jahrhunderts lebten Scott und seine Zeitgenossen tatsächlich in »Großbritannien« und nicht in »Kleinengland«. Dies vermittelte ihnen das Gefühl, andere Völker täten gut daran, bewährte britische Gepflogenheiten zu übernehmen, und nicht umgekehrt. Die Briten waren stolz auf die Art, wie sie herrschten. Sie trachteten danach, im gesamten Imperium Rechtssysteme, freien Warenverkehr und einen freien Arbeitsmarkt einzuführen.

»Als Engländer geboren zu sein, bedeutete, in der Lotterie des Lebens den ersten Preis gewonnen zu haben«, sagte Cecil Rhodes. Ferner erklärte er: »Wir sind nun einmal das trefflichste Volk der Welt. … Fragt man Menschen, welcher Nationalität sie am liebsten angehören würden, so geben neunundneunzig von hundert an, am liebsten Engländer sein zu wollen.«5 Er zog sogar in Betracht, dass Großbritannien die Vereinigten Staaten rekolonisieren könnte und sollte. Das war vielleicht ein wenig überzogen, doch auf dem Höhepunkt des Imperiums bewiesen die Briten durchaus ein gesundes Selbstvertrauen und bisweilen eine ungesunde Überheblichkeit. Mein eigener Großvater, der für Rhodes arbeitete und ein typischer Imperialist seiner Zeit war, sah das Ganze natürlich keineswegs so. Er wäre schockiert und gekränkt gewesen, hätte ihn jemand als arrogant oder borniert bezeichnet, bloß weil er zutiefst davon überzeugt war, dass die britischen Gepflogenheiten unübertroffen seien.

Ein Gebiet, auf dem Großbritannien und die Royal Navy drei Jahrhunderte lang die unumstrittene Vorherrschaft geltend gemacht hatten, war die Polarforschung. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatte sich Clements Markham, der Präsident der Royal Geographical Society, mit Nachdruck für einen weiteren Vorstoß zu den Polen eingesetzt. Im Süden hatten James Cook und James Clark Ross als Pioniere längst den Weg gebahnt, und im Norden hatten aufeinanderfolgende Navy-Expeditionen immer neue Rekordmarken gesteckt und so dafür gesorgt, dass Großbritannien als Erstentdecker nach ungeschriebenem Gesetz auch die Besitzansprüche erheben konnte. Die Briten hegten damals die Auffassung, die heute etwas krass erscheinen mag, dass unbesiedeltes Gebiet automatisch dem Empire zustand. Terra incognita galt selbstredend als Terra pax britannica.

Das wenige, das man über die Antarktis wusste, stammte weitgehend von den ersten Exkursionen der Royal Navy. Im Jahr 1773 war es Captain Cook mit der Resolution gelungen, erstmals den südlichen Polarkreis bei 66° 33′ Süd zu überqueren. Vier Jahre später erreichte er bei seinem dritten Versuch, in das antarktische Packeis vorzudringen, den 71. südlichen Breitengrad – 300 Meilen südlich des Polarkreises und rund 1100 Meilen vom Südpol entfernt. Cook war keineswegs beeindruckt von dem, was er dort sah. »Sollte irgendjemand die Entschlossenheit und die Stärke besitzen, … noch weiter nach Süden [vorzudringen] als ich, so … erlaube [ich] mir festzustellen, dass die Welt daraus keinen Nutzen ziehen wird.«6 Cook sollte nicht mehr erfahren, dass ihn Eis und schlechte Sicht auf beiden Fahrten lediglich eine Tagesetappe von der Küste der Antarktis entfernt zur Umkehr gezwungen hatten. Er war stets davon überzeugt, dass irgendwo ein Eiskontinent existierte, doch 1779 wurde er von Hawaiianern getötet, und die Admiralität sandte in den folgenden vierzig...

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