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Die Polarfahrt

Von einer unwiderstehlichen Sehnsucht, einem grandiosen Plan und seinem dramatischen Ende im Eis

AutorHampton Sides
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783866483767
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Er galt als blinder Fleck, als Problem, als Ende der Welt und ewig ungelöstes Geheimnis: der Nordpol. Während andere rätselten und rechneten, schritt ein verrückter Zeitungsverleger auf der Jagd nach Sensationsgeschichten zur Tat. Er kaufte ein Schiff, erkor einen Kapitän und schickte im Juli 1879 dreiunddreißig Männer ins Eis - fest überzeugt von der Theorie eines offenen Polarmeeres. Doch nördlich der Beringstraße blieb die USS Jeannette im Packeis stecken. Was folgte, war einer der härtesten Überlebenskämpfe der Geschichte; meilenweite Märsche über das gefrorene Meer, Schneeblindheit, Erfrierungen, Stürme und Hunger brachten die Mannschaft an ihre physischen und mentalen Grenzen. Mit erzählerischer Kraft und einem unvergleichlichen Gespür für Dramaturgie entfaltet Hampton Sides in seinem NYT-Bestseller die tragische Geschichte dieser großen, gescheiterten Polarexpedition und zeigt die fatalen Folgen falscher Hypothesen und den Wahnwitz menschlicher Ruhmsucht.

Hampton Sides, geboren 1962 in Memphis, Tennessee, studierte Geschichtswissenschaft an der Yale University. Er ist mehrfach ausgezeichneter Autor und Journalist und schreibt für Outside, The National Geographic Magazine, The New Yorker u.a.m. Mit seiner Frau und drei Söhnen lebt er in Santa Fe, New Mexico.

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Leseprobe

Prolog


EISTAUFE


An einem trüben Morgen im späten April des Jahres 1873 bahnte sich die Schonerbark Tigress aus der neufundländischen Conception Bay einen Weg durch die Eisschollen und -berge vor der Küste Labradors, um pünktlich zum Beginn der Jagdsaison die dort gelegenen Robbenbänke zu erreichen. Am späten Vormittag kam es zu einer höchst sonderbaren Begegnung: Vor der Tigress tauchte ein Kajak mit einem einzelnen Inuk auf, der mit beiden Armen winkte und sich fast die Lunge aus dem Hals schrie. Offenbar steckte der Eskimo in großen Schwierigkeiten. Zumindest hatte er sich viel weiter auf den tückischen Nordatlantik hinausgewagt, als die kanadischen Ureinwohner es sonst zu tun pflegten. Als sich die Tigress bis auf Rufweite genähert hatte, rief er in radebrechendem Englisch: »Amerika Dampfer! Amerika Dampfer!«

Die Besatzung der Tigress beugte sich über die Reling und versuchte zu ergründen, was der Inuk ihnen sagen wollte. Doch plötzlich lichtete sich der Nebel so weit, dass in einiger Entfernung ein gutes Dutzend Männer und Frauen sowie mehrere Kinder erkennbar wurden, die auf einer Eisscholle durchs Wasser trieben. Als sie das Schiff sahen, brachen die Gestrandeten in Jubel aus und schossen aus ihren Gewehren Freudensalven ab.

Der Kapitän der Tigress, Isaac Bartlett, ließ die Beiboote ausbringen. Als die Geretteten – es waren insgesamt neunzehn Personen – an Bord gebracht wurden, war ihnen überdeutlich anzusehen, dass sie Entsetzliches durchlitten hatten. Ausgemergelt, verdreckt und mit Frostbeulen übersät, sprach aus ihren Augen nackte Angst. Ihre Zähne und Lippen waren von Fett verklebt, was verriet, dass sie zum Frühstück Robbeninnereien gegessen haben mussten.

»Wie lange seid ihr schon hier draußen auf dem Eis?«, erkundigte sich Kapitän Bartlett.

Der Älteste der Gruppe, ein Amerikaner namens George Tyson, trat vor. »Seit dem 15. Oktober«, erwiderte er schließlich.1

Bartlett brauchte ein wenig, um zu begreifen, was Tyson da gesagt hatte. Seit dem 15. Oktober waren 196 Tage vergangen. Diese Menschen, wer immer sie sein mochten, trieben seit fast sieben Monaten auf einer wackeligen Eisscholle oder, wie Tyson es später nennen sollte, auf einem »Floß Gottes« durchs Meer.2

Bartlett stellte Tyson weitere Fragen und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass die bemitleidenswerten Schiffbrüchigen von der Polaris stammten, einem Schiff, das es zu weltweiter Berühmtheit gebracht hatte (und jener »Amerika Dampfer« war, den der Inuk gemeint hatte). Die Polaris, ein unansehnlicher, für die Eisfahrt ertüchtigter Schleppdampfer, diente einer amerikanischen Polarexpedition, die vom US-amerikanischen Kongress mitfinanziert und von der Navy unterstützt wurde, als Forschungsschiff. Zwei Jahre zuvor war er in New London, Connecticut, in Richtung Grönland aufgebrochen, doch nachdem er die ersten Etappenziele noch planmäßig angelaufen hatte, galt er seither als verschollen.

Nachdem sie als erstes Schiff überhaupt den 82. Breitengrad überquert hatte, war die Polaris vor der Westküste Grönlands vom Eis eingeschlossen worden. Im November 1871 war der Expeditionsleiter, ein grüblerischer und verschrobener Forscher aus Cincinnati namens Charles Francis Hall, unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Er selbst nahm an, dass man seinen Kaffee vergiftet hatte. Halls Tod bedeutete für die führerlos gewordene Expedition das Ende.

In der Nacht zum 16. Oktober 1872 löste sich von dem Eis, auf dem Tyson mit achtzehn anderen Expeditionsmitgliedern campierte, ein größeres Stück und trieb hinaus in die Baffin Bay. Als die Gruppe, zu der auch einige Inuit-Familien und sogar ein Neugeborenes zählten, ihre Lage begriffen hatte, war der Rückweg zur Polaris bereits abgeschnitten. Sie mussten sich darin fügen, bis zu ihrer Rettung auf dem Eis zu bleiben. Den ganzen Winter und den anschließenden Frühling über trieben sie gen Süden, schliefen in Iglus und ernährten sich von Robben, Narwalen, Seevögeln und gelegentlich auch Eisbären. Doch weil sie nichts hatten, um Feuer zu machen, mussten sie sich während der gesamten Irrfahrt von rohem Fleisch, Innereien und Blut ernähren – vorausgesetzt, sie hatten das Glück, überhaupt etwas zu essen zu finden.

Sich selbst und seine Mitstreiter bezeichnete Tyson als »Tore des Schicksals«.3 Auf der beständig schrumpfenden Scholle wurden sie von hohen Wellen, kalbenden Eisbergen und mächtigen Stürmen »wie Federbälle hin- und hergeworfen«.4 Trotzdem, und das ist überaus erstaunlich, kam auf der Drift über insgesamt gut 3000 Kilometer keiner der Gestrandeten ums Leben.

Nachdem Captain Bartlett Tysons Bericht ungläubig gelauscht hatte, hieß er die Gruppe an Bord willkommen und ließ eine warme Mahlzeit bringen, bestehend aus Kabeljau, Kartoffeln und heißem Kaffee. Dann fuhr er nach St. John’s in Neufundland, wo die US Navy die lange Vermissten bereits erwartete und auf direktem Weg nach Washington brachte. Schon die ersten Befragungen Tysons und anderer aus der Gruppe ergaben, dass die Polaris zwar beschädigt, aber im Großen und Ganzen noch intakt war, und daher Hoffnung bestand, dass die übrigen Expeditionsteilnehmer – insgesamt vierzehn Personen, die im Eis vor Grönland zurückgeblieben waren – noch lebten. Nachdem mehrere der Geretteten einzeln vernommen worden waren, musste als sicher angenommen werden, dass an Bord quasi vom ersten Tag an ein Mangel an Disziplin und Gehorsam geherrscht hatte. Sogar das Wort Meuterei hatte die Runde gemacht, und es gab Anzeichen dafür, dass Charles Hall tatsächlich vergiftet worden war. (Ein knappes Jahrhundert später exhumierten Forensiker seine sterblichen Überreste und fanden erhebliche Mengen Arsen in den entnommenen Haar- und Fingernagelproben.) Auch Tyson erhob schwere Anschuldigungen gegen Mitreisende, ohne jedoch Namen zu nennen. »Diejenigen, die unsere Expedition durchkreuzt und zum Scheitern gebracht haben, werden sich vor ihrem Gott verantworten müssen«, orakelte er drohend.5

Unter dem Eindruck des Scheiterns eines Vorhabens von nationalem Rang machte sich in der amerikanischen Öffentlichkeit die Überzeugung breit, dass ein Rettungstrupp in die Arktis geschickt werden sollte, um nach den Vermissten zu suchen. Mit Zustimmung von Präsident Ulysses S. Grant entsandte die Navy die USS Juniata in jenes Seegebiet vor der Küste Grönlands, in dem die verschollene Polaris vermutet wurde.

Die Juniata, eine vom Einsatz bei der Nordatlantik-Blockade während des Sezessionskrieges gezeichnete Barkentine, stand unter dem Kommando von Daniel L. Braine. Als sie am 23. Juni von New York aus in See stach, berichteten alle großen Zeitungen des Landes darüber. Die Expedition der Juniata war hervorragend dafür geeignet, die Massen zu elektrisieren: Hier verband sich eine packende Rettungsaktion von nationaler Bedeutung mit einem Kriminalfall, der mit dunklen Machenschaften und möglicherweise sogar einem Mord aufwarten konnte. Ein Korrespondent des New York Herald reiste eigens nach St. John’s, um dort an Bord der Juniata zu gehen und die Reise zu begleiten – und schuf damit die Grundlage dafür, dass die Suche nach der Polaris zum wichtigsten Ereignis im Spätsommer 1873 wurde.

Erster Offizier an Bord der Juniata war George DeLong, ein achtundzwanzigjähriger, überaus ehrgeiziger Lieutenant aus New York, der die Welt aus blaugrauen Augen und durch einen Kneifer auf der Nase betrachtete. Er war groß, breitschultrig und wog um die neunzig Kilogramm. Der rothaarige und blassgesichtige Absolvent der Marineakademie trug einen zotteligen Schnurrbart, der vorwitzig über die Mundwinkel hinausreichte. Wenn er mal zur Ruhe kam, zündete er sich eine Meerschaumpfeife an und vertiefte sich in ein Buch. Sein warmherziges Lächeln und die weichen Gesichtszüge standen im Widerspruch zu der kantigen Kieferpartie, eine Diskrepanz, auf die viele zeitgenössische Quellen hinweisen. DeLong war zielstrebig, geradlinig, tüchtig und umsichtig und brannte förmlich darauf, Großes zu leisten. Eine seiner typischen Redewendungen, wenn nicht gar sein Lebensmotto, lautete: »Jetzt ist der richtige Moment.«6

DeLong hatte die halbe Welt bereist – Europa, die Karibik, Südamerika und die gesamte Ostküste der USA –, doch in die Arktis hatte es ihn bis dahin noch nie verschlagen. Allerdings erschien ihm das Ziel auch wenig reizvoll. Er segelte am liebsten in den Tropen. Das Rennen zum Nordpol, das Entdecker wie Hall und die Öffentlichkeit in seinen Bann zog, interessierte ihn nicht. Und so war die Reise mit der Juniata nach Grönland für DeLong keine Herzens-, sondern lediglich eine dienstliche...

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