Kapitel 2
Nach Seepferdchen tauchen im Februar
Oder: Wo findet das Denken im Gehirn statt?
Erinnerungen können lange Zeiträume überdauern, aber wie Träume gedeihen sie am besten im Dunkeln und überleben Jahrzehnte in den tiefen Gewässern unseres Geistes wie Schiffswracks auf dem Meeresgrund. Sie ans Tageslicht zu zerren, kann riskant sein.
J. G. Ballard[13]
Am Anleger des Gylte-Tauchcenters im Oslofjord leben über vierzig verschiedene Nacktkiemerarten. Es gibt sie in unzähligen Farben, von Dunkellila bis durchscheinend Weiß; ihre Rücken sind übersät von Spitzen, die sich an den Enden sternförmig verästeln, oder sie haben einen pinken Fransenmopp wie eine Disney-Figur aus den Fünfzigerjahren. Sie strecken ihre orangefarbenen Tentakel zum weit oben leuchtenden Teppich der Wasseroberfläche oder ziehen trotzig ihre hellgrün lumineszierenden Fühler ein, kriechen in Wolken von Leuchtpartikeln umher, die im Meerwasser am Anlegesteg umherwirbeln.
Die Wassertemperatur weist nur fünf Grad Celsius auf, weiter im Fjord haben wir am Ufer Eisschollen treiben gesehen. Jetzt werden die Nacktkiemer dort unten Besuch von zehn Gestalten in schwarzen Anzügen bekommen, die sich auf die Suche nach dem Geheimnis des Seepferdchens begeben wollen. Sie haben große Flossen an den Füßen, watscheln zunächst wie Pinguine mit klatschendem Geräusch über den Steg. Dann wirbeln Wolken von neuen Partikeln an die Oberfläche, als die Taucher ins Meerwasser eintauchen und langsam auf eine Tiefe von fünfzehn Metern heruntergehen. Nur die Luftblasen, die wir vom Bootssteg aus sehen, lassen noch erahnen, wo sie sich befinden. Die Seepferdchen, nach denen sie suchen, sind allerdings nicht hier im Wasser, schließlich befinden wir uns im Oslofjord. Sie verbergen sich unter den eng anliegenden Kopfhauben. Denn die Taucher begeben sich in das eiskalte Wasser, um sich auf die Suche danach zu machen, was im Hippocampus geschieht. Sie suchen nach der Arbeitsweise des Gedächtnisses.
Gemeinsam wollen wir herausfinden, was mit Informationen, aus denen Erinnerungen werden, geschieht, wenn sie in unser Gedächtnis Eingang finden. Bildlich gesprochen könnte man sagen, dass unsere Taucher dabei sind, die Oberfläche zu durchstoßen und in das Innere des Gedächtnisses vorzudringen. Denn Gedächtnisforschung ist dem Tauchen nicht unähnlich. Das, was aus dem Gedächtnis abgerufen wird, ist – so wie die Luftblasen auf der Wasseroberfläche – das einzige Anzeichen dafür, dass es überhaupt existiert.
Das Experiment, das wir hier nachstellen wollen, ist ein berühmtes Experiment der Gedächtnisforschung.[14] Das erste Mal wurde es 1975 vor der Küste Schottlands durchgeführt. Die Gedächtnisforscher Duncan Godden und Alan Baddeley beschlossen, einen gängigen Mythos auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und zwar, ob man sich besser an etwas erinnern kann, wenn man an den ursprünglichen Ort der Erinnerungsbildung zurückkehrt – so wie im Krimi, wenn der Detektiv den Mörder am Tatort überführt. Kehren Erinnerungen also leichter wieder, wenn man an denselben Ort zurückkehrt, an dem sie in das Gedächtnis eingegangen sind? Wie und wo prägen sich Erinnerungen eigentlich ein?
Die Theorie ist simpel: Die Erinnerungen an ein vergangenes Ereignis kämen, ob man wolle oder nicht, wieder, wenn man sich in derselben Umgebung befinde wie zu dem Zeitpunkt, zu dem das Ereignis stattgefunden habe. Um das auf den Prüfstand zu stellen, unternahmen die beiden Wissenschaftler ein Experiment, in dem Taucher zwei verschiedenen Umgebungen ausgesetzt wurden. Die Froschmänner bekamen die Aufgabe, sich unter verschiedenen Bedingungen jeweils eine Wortliste einzuprägen, oben auf dem Anleger und fünf Meter tief unter Wasser. Wenn sie sich die Wörter ins Gedächtnis zurückriefen, geschah auch dies unter verschiedenen Bedingungen, entweder über oder unter Wasser. Alles in allem mussten die Taucher sich mehrere Wörterlisten über und unter Wasser einprägen und sich dann über und unter Wasser an diese erinnern. Die Hypothese der Wissenschaftler lautete, dass die Taucher in der kalten und nassen Umgebung mit einer Tauchermaske über dem Kopf und vielen anderen außergewöhnlichen neuen Eindrücken unter Wasser ein weitaus schlechteres Lernergebnis als an Land erzielen würden. Machten es der Druck und das Einatmen von Pressluft doch besonders schwer, sich zu konzentrieren.
Es ist das erste Mal, dass jemand Baddeleys und Goddens Versuch auf dem offenem Meer wiederholt, als wir unsere Taucher an diesem Februartag in den Oslofjord entlassen (jemand hat das Experiment einmal in einem Schwimmbecken wiederholt, aber seien wir ehrlich: In einem Schwimmbecken zu schnorcheln, ist nicht dasselbe). Werden die zehn Männer zwischen 30 und 51 Jahren dieselben Ergebnisse wie jene in dem legendären britischen Experiment erzielen?[15]
»Ich kann mich als erfahrene Taucherin mittlerweile erinnern, wo ich unter Wasser gewesen bin, das konnte ich früher nicht«, erklärt Hobbytaucherin Tine Kinn Kvamme, die unser Experiment fotografisch begleitet.
»Anfangs kann sich beim Tauchen kaum jemand an überhaupt irgendetwas erinnern oder wiedergeben, was ihm widerfahren ist. Menschen, die das Tauchen erlernen, werden manchmal gebeten, unter Wasser ihren Namen rückwärts aufzuschreiben. Oft schreiben sie dann Dinge wie »rückwärts« oder verdrehen einen Buchstaben in ihrem Namen. Und wenn man sie fragt, wie viele Räder eine Kuh hat, antworten sie vier«, erklärt sie uns. Für gewöhnlich prägen sich Erinnerungen gemeinsam in einem größeren Zusammenhang ein. Wenn Informationen in das Gedächtnis Eingang finden, gesellen sie sich zu anderen ähnlichen Gedächtnisinhalten, entweder, weil sie im selben Kontext entstanden sind, von demselben Gefühl, derselben Musik begleitet waren oder Teil derselben Bedeutung und Geschichte sind. Erinnerungen schwimmen kaum wie einzelne Fische ohne Zusammenhang zu anderen Dingen umher, sondern halten sich in einem Netz mit anderen Fischen (beziehungsweise: Erinnerungen) auf. Wenn man sich diese Erinnerung später wieder ins Gedächtnis zurückruft, ist die Chance dafür, eine an den Haken zu bekommen, umso größer, wenn man gleichzeitig auf andere Erinnerungen stößt, die sich zusammen mit dieser im Gedächtnis verankert haben. Wenn man an einem Ende des Fischernetzes zieht, folgen die anderen, und man kann das Netz einholen, bis man also auf die eine Erinnerung stößt, nach der man gesucht hat. Aber gilt das auch für eine erschwerte Situation: unter Stress, mit Taucherausrüstung und anderen Ablenkungen? Wird der Umgebungskontext den Tauchern dabei helfen, das unter Wasser Gelernte aus dem Gedächtnis abzurufen?
Das Experiment von 1975 zeigte ganz richtig, dass Wortlisten, die unter Wasser gelernt wurden, dort auch besser erinnert wurden, so wie umgekehrt Listen, die über Wasser eingeübt wurden, an Land besser wieder in das Gedächtnis zurückgerufen wurden. Wir nehmen an, dass es unseren Tauchern ebenso ergehen wird. Damit sie unvoreingenommen sind, erzählen wir ihnen nichts vom Ausgang des ursprünglichen Experiments.
Im Gylte-Tauchcenter herrscht eine erwartungsvolle Spannung. Psychologische Experimente zu reproduzieren, ist nämlich nicht nur ein Spiel, sondern erfordert gründliche Vorbereitung. Vieles dabei kann vom Zufall bestimmt sein, und nicht selten werden hinterher nur Ergebnisse veröffentlicht, wenn sich die Hypothese bestätigte, während die Wissenschaftler mit entgegengesetzen Resultaten beschämt und enttäuscht ihre Studie in die unterste Schublade ihres Schreibtisches verbannen. Als sich eine Gruppe von Wissenschaftlern daranmachte, hundert Experimente aus verschiedenen Gebieten der Psychologie zu wiederholen, gelangen nur sechsunddreißig davon. Das Taucherexperiment wurde allerdings nicht erneut auf die Probe gestellt – bis heute, diesem kalten Februartag in Drøbak, nicht.
Philosophen und Schriftsteller haben im Lauf der Geschichte immer schon Gedächtnismodelle entworfen, Modelle darüber, wie wir Dinge lernen und wieder erinnern und wie wir sie uns wieder in Erinnerung rufen. Ohne einem ganzen Fachgebiet zu nahe treten zu wollen: In vielerlei Hinsicht kann man die Philosophen des Altertums als Neuropsychologen ihrer Zeit bezeichnen, weil sie Beobachtungen über die Funktionsweise des Gehirns machten, jedoch ohne Zugang zu unseren heutigen modernen Wissenschaftsmethoden zu haben. Was mit den Erinnerungen im Gehirn geschieht und wie es möglich ist, dass sich unsere sämtlichen Erlebnisse in der rosafarbenen Masse aus Gehirnzellen und Adern einprägen können, ist die wesentliche Frage, die alle umtreibt. Schon Aristoteles behauptete, das menschliche Gehirn sei eine wachsartige Masse, in die Erfahrungen eingedrückt würden. Aber darauf, wie genau aus Erfahrungen Erinnerungen werden, hatte er keine Antwort.
Indem wir die Taucher in Gylte studieren, können wir – auch wenn wir ihren Gehirnen nicht dabei zusehen können, wie sie Wörter in Wachs hineindrücken – beobachten, wie sich Erinnerungen miteinander vernetzen und sich aufeinander beziehen. Die Kontextabhängigkeit des Erinnerns gibt uns grundlegend Aufschluss darüber, wie Erfahrungen oder Eindrücke gespeichert werden. Das, was wir über das Ganze wissen, entscheidet, was wir von dem neu zu Lernenden verstehen. Unsere sämtlichen Erlebnisse werden in einem Kontext verstanden, in einem Ganzen, einem Vorwissen, das man von früher besitzt, sie verknüpfen sich sozusagen zu einem Fischernetz. Wenn man die Französische Revolution verstanden hat, ist es auch leichter, die Russische Revolution zu verstehen,...