1 Was ist denn überhaupt das Problem?
In den Geschichtsbüchern gibt es noch diese Bilder von Wohnungen ganz normaler deutscher Großstadtmenschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Acht, neun Kinder, zwei Zimmer, und die Großeltern sind auch noch dabei. Die Menschen hausen eher, als dass sie wohnen, alles sieht nach Cholera und Kakerlaken aus. Über das dritte Kind freute man sich noch, heißt es in einem Text, der noch hundert Jahre früher, also um 1800 herum, entstand – ab dann begann das Leid. Der Vater sehe alle weiteren Kinder als »feindliche Geschöpfe an, die ihm und seiner vorhandenen Familie das Brot vor dem Munde wegnehmen«. Und auch »das zärtlichste Mutterherz« werde »für das fünfte Kind gleichgültig, jedem sechsten wünscht es schon laut den Tod«.
Weil die Kindersterblichkeit so hoch war, wurden Heiratslizenzen in den deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts nur ausgestellt, wenn die Heiratswilligen nachwiesen, dass sie eine Familie ernähren konnten. Wer etwa kein Haus besaß, durfte nicht heiraten. Das Resultat waren bis zu 50 Prozent uneheliche Kinder, eine Quote, die erst heute wieder in den neuen Bundesländern erreicht wird. Gegen die Kinderflut war man machtlos. Obwohl Wissenschaftler langsam herausfanden, wie Verhütungsmittel funktionieren könnten, wurde dieses Wissen nicht weiterverbreitet. Aufklärung stand unter Strafe. In den Kliniken wurden keine Abtreibungen vorgenommen; wem Gott zürnte, dem schenkte er Kindersegen.
Heute hat sich die Situation umgekehrt. Bis zu einem Drittel aller Deutschen, jenes, das Kinder will, aber nicht (mehr) haben kann, erlebt eine private Katastrophe: Auf Kinderwunschforen im Netz tauschen sich verzweifelte Paare aus, die Schwierigkeiten haben, ein Kind zu zeugen. Kinderlosigkeit gegen den eigenen Willen, das sagen Studien, macht noch unglücklicher als der Tod naher Angehöriger. »Psychologen«, so die Familientherapeutin Petra Thorn im Gespräch mit der Zeit, »vergleichen die Erkenntnis, keine eigenen Kinder bekommen zu können, mit anderen schweren Schicksalsschlägen wie dem Tod eines Partners oder eines Kindes.« Diese Tatsache sollte man im Kopf behalten: Ein Kind nicht bekommen zu können wird empfunden wie der Tod eines Kindes.
Freundschaften zerbrechen am Babyneid (das britische Boulevardblatt Daily Mail nennt dieses Phänomen sogar »die neue soziale Kluft«: dort die, die es geschafft haben, Kinder zu bekommen, dort die Kinderlosen), ein dicker Bauch kann die ungewollt Kinderlosen in tiefste Depression führen. Menschen, die empfängnistechnisch austherapiert sind, brauchen etwa fünf Jahre, ehe sie sich erholt haben von ihrem Unglück. Querschnittsgelähmte sind meist schon ein Jahr nach ihrem Unfall wieder so zufrieden wie zuvor.
Soziale Infertilität, also die Unfähigkeit, Kinder zu bekommen, obwohl man gesund ist, ist anders als medizinische. Die Demütigungen sind andere, der Angriff auf das Selbstwertgefühl ein anderer. Aber im Ergebnis ist es doch ähnlich. Die Schriftstellerin Clara Ott schrieb zum Muttertag 2014 auf Facebook: »Muttertag. Während beziehungsunfähige Männer fröhlich posten, wie sehr sie ihre Mamis lieben, ist es ein Tag des Innehaltens für alle kinderlosen Singlefrauen über 30 Jahre. Selten wünschten sie sich mehr, dass der Sonntag endlich mit Mord und Totschlag ausklingt und der Alltagstrott wieder von der nagenden Frage ablenkt, ob sie jemals Mama werden und welcher Mann bei Facebook öffentlich gestehen würde, wie sehr er sie liebt.«
Wenn sie keine Kinder bekäme, sähe sie ihr Leben als gescheitert an, sagte mir eine 39-jährige Bekannte, seit drei Jahren Single. Ihre Eizellen seien intakt, aber was habe sie ohne Partner davon? Sie ist eine der Millionen, bei denen es vielleicht nicht mehr reichen wird. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland ziemlich viele Menschen ziemlich unglücklich sind, weil sie Kinder wollten, aber keine bekommen haben.
Gibt es deswegen Proteste? Demonstrationen? Revolution?
Nichts dergleichen. Kinderlose beschweren sich nicht. Und auch jene, die gern mehr Kinder hätten als sie haben, schweigen. Fast scheint es, als wären wir Opfer einer Naturkatastrophe, für die niemand verantwortlich ist. Es wird als Schicksal hingenommen, dass man in Deutschland mit größerer Wahrscheinlichkeit kinderlos bleibt als anderswo auf der Welt.
Was in dem Jahrhundert geschah zwischen Babyflut und Babydürre, ist bekannt: Zunächst sorgte die Einführung der Rentenversicherung dafür, dass Kinder nicht mehr als Altersversorgung benötigt wurden. 1904 wurde die Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren in gewerblichen Betrieben verboten, sodass Kinder nicht mehr zum Familieneinkommen beitragen konnten. In der Weimarer Republik wurden die Strafen für Abtreibungen herabgesetzt, mit der zunehmenden Säkularisierung kam auch die Sexualaufklärung. Das Leben in den Städten wurde immer teurer, es lohnte sich nun, mehr in wenige Kinder zu investieren. Die Großfamilien verschwanden, statt fünf Kindern hatte man nun zwei. Der Pillenknick in den Sechzigerjahren war im Vergleich zu diesem Wandel nur ein Knickchen.
Die Antibabypille wiederum war ein direktes Ergebnis der Frauenbewegung. Die große amerikanische Frauenrechtlerin Margaret Sanger unterstützte mit gewaltigen Summen die Arbeiten des Physiologen Gregory Pincus, der einer der Väter der Pille war. Sie brachte den letzten entscheidenden Punkt: Kinder waren jetzt endgültig eine bewusste Entscheidung.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer hatte vorausgesehen, was das bedeuten würde: »Wenn Kinder in die Welt gebracht würden allein durch einen Akt der reinen Vernunft, würde die menschliche Rasse dann weiterexistieren?« Schopenhauer bezweifelte das.
Schopenhauer hatte für diesen Zweifel allerdings ganz andere Gründe, als wir heute für unsere Entscheidung haben, keine Kinder zu bekommen. Schopenhauer war sogenannter Antinatalist; er lehnte die menschliche Reproduktion ab, sie war für ihn eine Quelle des Leidens.
Doch zunächst einmal muss man Schopenhauer zugestehen, dass sein Gedanke sich als prophetisch erwiesen hat. Bewusstes Kinderkriegen scheint eine Überforderung zu sein. Der amerikanische Futurologe Alvin Toffler ging bereits 1970, also vor 45 Jahren, davon aus, dass sich der damals entwickelnde Prozess der »Familienverkürzung« fortsetzen werde. In »Der Zukunftsschock« beschrieb er, dass die Großfamilien sich nicht transportieren oder verpflanzen haben lassen. »Sie waren immobil. Die industrialisierte Gesellschaft hingegen brauchte Massen von Arbeitern, die bereit und fähig waren, auf der Suche nach Arbeitsplätzen den Wohnsitz zu wechseln und abermals umzuziehen, wann immer es nötig wurde. Deshalb warf die erweiterte Familie allmählich den zu stark behindernden Ballast von Angehörigen ab, und es entstand die ›Kernfamilie‹, eine von überflüssigen Verschachtelungen befreite, mobile Familieneinheit, die nur aus den Eltern und einer kleinen Anzahl Kindern bestand.« Die von Toffler prognostizierte »superindustrielle Gesellschaft«, also unsere Zeit, werde jedoch eine noch größere Mobilität erfordern. »Logischerweise werden viele Leute also in der Zukunft den Prozess der Familienverkürzung fortsetzen, infolgedessen ganz kinderlos bleiben, und dadurch die Familie auf ihre elementaren Bestandteile – Mann und Frau – beschränken. Zwei Menschen, möglicherweise mit einander ergänzenden Karrieren, werden erfolgreicher durch Ausbildungs- und soziale Untiefen, durch Stellenwechsel und geografische Umsiedlungen steuern als die gewöhnliche, mit Kindern überladene Familie.«
Zwei Menschen? Da war Toffler noch recht optimistisch. In Berlin zum Beispiel beträgt der Anteil der Ein-Personen-Haushalte 54 Prozent. Aber ansonsten lag Toffler richtig.
Wollen wir oder träumen wir nur?
Aber die jungen Deutschen sind keine Schopenhauers, sie lehnen in ihrer ganz großen Mehrheit Babys nicht ab, im Gegenteil. Die Soziologinnen Jutta Allmendinger und Julia Haarbrücker vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin stellten in ihrer 2013 veröffentlichten Studie »Lebensentwürfe heute« fest, dass Frauen und Männer zwar bei allen anderen einen geringen Kinderwunsch vermuten, sich persönlich aber ganz überwiegend Kinder wünschen. 2007, 2009 und 2012 hatten sie 2.000 junge Männer und Frauen befragt.
Jutta Allmendinger erklärte mir, dass sie ihre Zahlen, also die 93 Prozent, die sich Kinder wünschen, für »absolut valide« halte. Der Kinderwunsch sei ganz deutlich gewesen. Politisch müsse man sich nun vor allem fragen, was es heiße, wenn die Leute glauben, es sei gesellschaftlich wenig akzeptabel, Kinder zu bekommen. Im Vorwort zu ihrer Studie schreibt Allmendinger: »Es ist nicht so, dass die jungen Menschen zweifeln oder keine eigene Familie wollen. Das tun die wenigsten. Aber viele, Männer mehr als Frauen, nehmen in der Gesellschaft einen mangelnden Respekt und eine fehlende Offenheit für Familien wahr. Eine Familie macht nicht viel her. Sie verschafft keine Anerkennung, das tut nur ein guter Job, vielleicht noch der Freund oder die Freundin. Kinder zu haben ist dagegen nicht cool. Etwas zu wollen, was andere gering schätzen, und dafür in Bereichen zu verlieren, die einem selbst wichtig und von anderen hoch geachtet sind, fällt schwer. Die jungen Menschen sehen sich zwischen den Stühlen.« Im persönlichen Gespräch mit mir fügte sie hinzu: »Die gesamte deutsche Gesellschaft wird als nicht kinderfreundlich beschrieben.«
Das bestätigt auch eine europaweite Studie des Instituts für Zukunftsfragen von 2013. 11.000 Europäer wurden gefragt,...