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Was heißt hier «Sterbehilfe»?
Eine merkwürdige Debatte
Es ist erstaunlich: Über kaum ein Thema wird in Deutschland emotionaler, kontroverser und bisweilen ideologischer diskutiert als über die sogenannte «Sterbehilfe» – und dabei stellt sich immer wieder heraus, dass die Diskutanten sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, um was es bei der Debatte überhaupt geht. Begriffe wie «aktive», «passive», «indirekte» Sterbehilfe, Euthanasie, assistierter Suizid und viele andere mehr werden munter durcheinandergewürfelt. Man redet häufig aneinander vorbei, weil man nicht über dieselben Sachverhalte spricht. In diesem einleitenden Kapitel möchte ich versuchen, die Gründe für diese Verwirrung zu beschreiben und die Voraussetzungen für eine vernünftige Diskussion zu skizzieren. In den nachfolgenden Kapiteln wird es darum gehen, was «selbstbestimmtes Sterben» eigentlich bedeutet, was uns daran hindert, es zu erreichen, und warum die sogenannte «Sterbehilfe-Debatte» viel zu kurz greift.
Irrationalität am Lebensende: Die Missachtung der demographischen Entwicklung
Eine im Laufe der Jahre immer wiederkehrende Beobachtung ist die, dass viele der Diskussionen, die etwas mit dem Lebensende zu tun haben, auf seltsame Weise ins Irrationale abgleiten. Da werden Fakten missachtet oder verdreht, wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert, selbst der gesunde Menschenverstand wird teilweise außer Kraft gesetzt. Auch hochintelligente Menschen sind davon betroffen. Der Grund für dieses Verhalten ist einfach zu beschreiben: es ist die Angst. Die Angst vor dem eigenen Tod ist – aus biologischer Sicht verständlich – eine der stärksten Ängste, die ein Mensch erfahren kann. Hinzu kommt, in den letzten Jahrzehnten zunehmend, die Angst vor dem Sterben. Damit ist die Angst vor einem qualvollen Verlauf der letzten Lebensphase gemeint. Für viele Menschen ist es auch die Angst davor, einer Apparatemedizin ausgeliefert zu sein, die der Lebenserhaltung um jeden Preis verpflichtet ist.
Diese Ängste sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Wenn man die Menschen fragt, wie sie sterben möchten, antwortet eine große Mehrheit: «Schnell und schmerzlos.» Dieser Wunsch wird sich aber nur bei einer kleinen Minderheit (ca. 5 Prozent) realisieren lassen. Etwa ein Drittel der Menschen würde einen mittelschnellen Tod über 2–3 Jahre (zum Beispiel durch Krebs) vorziehen, eine optimale pflegerische und palliativmedizinische Versorgung vorausgesetzt. In der Tat wird der Anteil dieser Todesfälle sich mittelfristig bei ca. 40 Prozent einpendeln, wobei es natürlich nicht garantiert ist, dass dieses Schicksal genau diejenigen trifft, die es sich gewünscht haben. Dagegen ist das von fast niemandem erwünschte Sterben im Rahmen einer Demenzerkrankung eindeutig auf dem Vormarsch: Es wird in Zukunft für 40–50 Prozent der Todesfälle verantwortlich sein, Tendenz steigend.
Grund dafür ist die – hinlänglich bekannte, aber immer wieder erfolgreich verdrängte – demographische Entwicklung. Schauen wir zur Erinnerung auf die Vorhersage für die Altersverteilung in Deutschland im Jahr 2050 (Abb. 1.1).
Abbildung 1.1: Voraussichtliche Altersverteilung in Deutschland im Jahr 2050.
Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Menschen über 80 in Deutschland auf über 10 Millionen erhöht haben, der Anteil der Hundertjährigen wird sich verzehnfachen. Die mittlere Lebenserwartung wird auf über 85 Jahre steigen, so dass die meisten Sterbenden 85 Jahre und älter sein werden.[1] Bis zu drei Viertel davon werden – wenn bis dahin kein Wundermittel entdeckt wird – an einer mehr oder weniger schweren Form der Demenz leiden und auf umfassende pflegerische Hilfe angewiesen sein. Die Anforderungen an die Pflege erhalten damit eine ganz neue Dimension. Die Herausforderung für die Gesellschaft wird noch größer dadurch, dass schon ab 2030 die ersten geburtenstarken Jahrgänge aus der Nachkriegszeit (die Babyboomer-Generation) das Lebensende erreichen, was die Zahl der Todesfälle in Deutschland von heute etwas mehr als 800.000 auf eine Million pro Jahr erhöhen wird (Abb. 1.2).
Abbildung 1.2: Sterbezahlen in Deutschland bis 2030, in Tausend.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den Diskussionen zum Beispiel um die Folgen des Klimawandels und den Prognosen zur demographischen Entwicklung: Letztere sind unumstößlich, da die Menschen, um die es geht, schon alle da sind und täglich älter werden. Nur globale Katastrophen wie ein Nuklearkrieg könnten diese Vorhersagen wesentlich verändern. Ansonsten handelt es sich um die sicherste und wichtigste Aussage über die Zukunft unserer Gesellschaft, die wir heute treffen können – und um die am meisten unterschätzte.
Politik: Fehlanzeige
Angesichts der Unausweichlichkeit der beschriebenen Entwicklung müsste man eigentlich davon ausgehen, dass die Politik sie zu einem zentralen Thema macht und dass rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, um den unaufhaltsam auf uns zurollenden demographischen Tsunami aufzufangen oder wenigstens abzumildern. Wenn man nach diesen Maßnahmen sucht, reibt man sich verwundert die Augen, denn man sieht sehr wenig.
Sicher, es gibt viele Foren, Talkshows, Kongresse und Symposien, die sich der alternden Bevölkerung widmen. Das ist inzwischen ein beliebtes Thema geworden. Auch auf den Internetseiten der Bundesregierung entdeckt man interessante Dokumente, zum Beispiel zur deutschen «Demografiestrategie». Unter anderem findet man eine Langfassung dieser Strategie auf 77 eng bedruckten Seiten, die eine bemerkenswerte Eigenschaft aufweisen: Die Worte «palliativ», «Hospiz», «Sterben», «Tod» oder «Lebensende» kommen darin nicht vor.[2]
Das ist ein gutes Beispiel für die Irrationalität in der Diskussion über das Lebensende: Hier wird praktischerweise die Diskussion über das Sterben gleich ganz ausgeklammert. Als ob die hochbetagten und pflegebedürftigen Menschen, um die es in der Regierungsstrategie geht, nicht auch alle – und zwar innerhalb relativ kurzer Zeit – sterben würden. Die durchschnittliche Überlebenszeit in einem deutschen Pflegeheim beträgt nur etwas mehr als ein Jahr. Schätzungen zufolge sind die Alters- und Pflegeheime dabei, in Kürze Sterbeort Nr. 1 in Deutschland zu werden, noch vor den Krankenhäusern und weit vor dem eigenen Zuhause. Wie kann in einer solchen Situation selbstbestimmtes Sterben aussehen? Darüber wird noch zu sprechen sein.
Historischer Rückblick
In den letzten Jahren wurde von den Medien zunehmend der Eindruck vermittelt, Selbstbestimmung sei das Wichtigste, was es am Lebensende überhaupt zu erreichen gibt. Das ist allerdings eine kulturhistorisch sehr junge Entwicklung. Von Anbeginn der Menschheit bis vor ganz kurzer Zeit war es selbstverständlich, sich in vorgegebene Schicksalsmuster zu fügen und anderen Menschen – in der Regel Vertreter bestimmter Berufe – die Deutungshoheit über das eigene Sterben zu überlassen. Im Mittelalter war es die ars moriendi (Kunst des Sterbens), deren Hüter die Vertreter der Geistlichkeit, also Priester und Mönche, waren. In neuerer Zeit waren es die Ärzte, welche diese Deutungshoheit übernahmen und vornehmlich deswegen als «Halbgötter in Weiß» tituliert wurden. Beiden Berufen gemeinsam ist die gegenüber dem Sterbenden ausgeübte Fürsorge – für sein ewiges Heil bei den Priestern, für seine Gesundheit bei den Ärzten. Und in beiden Fällen droht die Fürsorge ständig in wohlgemeinte Bevormundung (Paternalismus) umzuschlagen.
Bei den Priestern gehört es gewissermaßen zur Berufsbeschreibung, dass sie besser wissen als der Sterbende, was seinem ewigen Heil dient und was nicht. Daher erstaunt auch die Tatsache nicht, dass über Jahrhunderte der Prozess des Sterbens in genau festgelegten Bahnen und Ritualen abzulaufen hatte, wenn es denn ein «gutes Sterben» sein sollte. Die letzte Handlung am Sterbenden war eine sakramentale, nämlich die sogenannte «Letzte Ölung». Diese konnte nur einmal, und zwar kurz vor dem Tod (in articulo mortis), empfangen werden – womit dem spendenden Geistlichen auch die Fähigkeit zum Erkennen des nahenden Todes zuerkannt wurde. Heute redet man in der katholischen wie in der evangelischen Kirche übrigens nicht mehr von «Letzter Ölung», sondern von Krankensalbung. Diese darf auch mehrfach durchgeführt werden, was sicher ein Fortschritt und eine Erleichterung für die Seelsorger ist.
Bei den Ärzten leuchtet es ebenfalls ein, dass ihnen die Fachkenntnis im medizinischen Bereich zugesprochen wird. Weniger einleuchtend erscheint es allerdings aus heutiger Sicht, dass ihnen damit unausgesprochen auch die Definitionshoheit über den Begriff «Gesundheit» übertragen wurde. Bis vor ganz kurzer Zeit, und teilweise bis heute, konnte der Arzt gegenüber seinen Patienten unwidersprochen eine paternalistisch-fürsorgliche Haltung...