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Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität

Gerhardt, Volker - Logik und Ethik - 2., erweiterte Auflage

AutorVolker Gerhardt
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783159613666
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Gerhardt macht in diesem inzwischen fast klassisch zu nennenden Buch das ?Prinzip der Individualität? zum Fundament einer Moraltheorie. In zehn Kapiteln untersucht er verschiedenste Selbstverhältnisse, von der Selbsterkenntnis über das Selbstbewusstsein bis zur Selbstverwirklichung. Es ist ein 'Versuch, die Beziehung zwischen Moral und Leben genauer zu bestimmen', ein Versuch, der 'an der Erfahrung des Lebens ansetzt, dort, wo die moralischen Kollisionen sich entzünden', wie die ZEIT in ihrer sehr positiven Besprechung der Erstauflage schrieb. Für diese zweite Auflage wurde das Buch durchgesehen und um ein neues Nachwort ergänzt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Volker Gerhardt, geb. 1944, lehrt Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

[19]Einleitung


1. Das Neue in der Ethik


Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich etwas grundsätzlich Neues. Robert Spaemanns großes Wort lassen wir für uns nicht gelten. Es besagt, eine moderne Ethik sei schon dadurch widerlegt, dass sie, nach zweitausendfünfhundert Jahren ethisch-philosophischer Tradition, überhaupt etwas Neues in Aussicht stelle. Die gezielte Enttäuschung einer moralphilosophischen Fortschrittserwartung hat einen guten Sinn. Es ist immer wieder richtig, dem hektischen Innovationsverlangen der Gegenwart entgegenzutreten. Die Philosophie kann es nicht dabei belassen, sich den Moden zu entziehen, sie hat die Pflicht, ihnen zu widersprechen.

Gleichwohl kann es nicht bei Spaemanns Einsicht bleiben. Denn sie gilt nur für die elementaren Ziele des moralischen Handelns. Bei den Zwecken und Zielen, und damit bei den Tugenden selbst, dürfte es in der Tat schwerlich gelingen, etwas Neues zu empfehlen. Zwar gibt es, wie gegenwärtig etwa die Bioethik vor Augen führt, neue Situationen mit neuen Problemen; sie verlangen auch nach neuen Formen der Regulation, Kooperation und Sanktion. Sucht man aber in den hochkomplexen modernen Lagen nach dem Kernbestand des moralischen Handelns, kommt man auf die gleichen Antworten, die wir seit der Antike kennen. Daran will und wird auch das vorliegende Buch nichts ändern.

[20]Aber man darf nicht übersehen, dass sich die Philosophen schon seit Jahrhunderten gar nicht so sehr um neue Tugenden bemühen, sondern ganz und gar auf deren Begründung konzentriert sind. Und hier haben wir, wenn uns am Fortbestand einer philosophischen Ethik liegt, auf Neues zu hoffen. Denn die überlieferten Modelle der Rechtfertigung tragen schon lange nicht mehr.

Vielleicht muss man auch hier die Einschränkung machen, dass die Aussage nur für das moderne Verständnis jener alten Modelle gilt. Sie scheinen uns und unseren Vorgängern überholt, weil sie den neuzeitlichen Erwartungen an begriffliche Strenge, Allgemeingültigkeit und Wirklichkeitsbezug nicht mehr entsprechen. Zwar muss man bei genauerer Betrachtung zumindest Platon und Aristoteles zugestehen, dass ihre Begründungsverfahren im Ansatz keineswegs so veraltet sind, wie uns manche weismachen wollen. Aber gerade diese größten Bestände der Tradition bedürfen der Interpretation und der Transformation, ehe erkennbar werden kann, dass sie den verschärften Kriterien des gegenwärtigen Denkens durchaus genügen. Doch schon diese Deutung bedarf der Innovation; denn anders können wir die Gemeinsamkeiten zwischen der anscheinend so gründlich verlorenen alten Welt und unserer anscheinend so radikal verwandelten modernen Zeit nicht benennen.

Hinzu kommt, dass die Standards des gegenwärtigen Denkens alles andere als klar sind. Wenn Philosophen, die weltweit als Moraltheoretiker gelten, ziemlich abwegige Unterscheidungen zwischen Moral und Ethik einführen, sodass die Ethik nur auf eine angeblich nicht universalisierbare Frage nach dem guten Leben beschränkt sein, die Moral aber die Standards universaler Gerechtigkeit abgeben soll; oder wenn sich der Utilitarismus, in welcher Spielart auch immer, überhaupt als Ethik präsentieren kann und damit die Verwirrung demonstriert, in [21]der ökonomischen Kalkül und moralischer Anspruch nicht mehr auseinandergehalten werden können; wenn die Ansicht verbreitet wird, in der zum zwischenmenschlichen Verkehr in der Tat unabdingbaren Anerkennung sei selbst schon ein Prinzip der Ethik zu entdecken; wenn gar ein solches Prinzip in einer angeblich neu entdeckten Ich-Du-Beziehung enthalten sein soll, aber kein Wort darüber verloren wird, dass schon Sokrates die Selbsterkenntnis nur im Angesicht des anderen für möglich hielt; oder wenn eine ganze Schule der Moralphilosophie seit zwei Jahrzehnten mit dem Versprechen beschäftigt ist, sie werde nun aber endlich den Übergang von der Ebene der Begründung zur Ebene der Anwendung aufzeigen, so, als seien in der Ethik Theorie und Praxis ähnlich unterschieden wie in den Ingenieurwissenschaften die Phase der Konstruktion von der der Produktion – dann sind das alles deutliche Anzeichen dafür, dass kein klares Urteil darüber herrscht, worin Moral und Ethik eigentlich bestehen. Also haben wir allen Grund, nach neuen Einsichten zu trachten, die wenigstens klären, was eigentlich zum einen wie zum anderen gehört.

Das Neue, auf das ich hoffe, soll sich aus der Erinnerung an etwas sehr Altes ergeben, auch wenn es sich uns immer wieder als neu präsentiert. Gemeint ist das Leben, das wir sind, aus dem wir alles haben und in dem wir völlig aufgehen. Die älteste Ethik wusste von dieser vollständigen Einbindung des Menschen in den Lebenszusammenhang; und ihr gelang es auch, auf ihn bezogen zu bleiben. Denn sie beließ alles, was wir heute in ein Jenseits des Lebens verlegen – die Gesellschaft, die Geschichte, den Geist oder die Götter –, in der Sphäre des lebendigen Daseins.

Wie nahe liegend dieser antike Ansatz des Denkens ist, wird auch heute augenblicklich sichtbar, wenn wir uns nur einmal versuchsweise vorstellen, Gesellschaft und Geschichte seien ohne jede Basis in der Natur, genauer: sie seien nicht in einem [22]fundamentalen Sinne immer auch Natur. Wären sie nicht in allem immer auch Natur, gäbe es kein einziges Ereignis und damit auch keine Struktur. Auch der Geist mit seinen Einsichten, Begriffen und Schlussfolgerungen wäre null und nichtig ohne die spontane Lebendigkeit leibhaftiger Individuen. Und was bliebe von einem Gott, an den wir glauben, wenn er, wie der verzweifelte Nietzsche seinen Narren sagen ließ, wirklich »tot« wäre? Ein toter Gott kann eben kein Gott mehr sein.

Ganz ähnlich ist es beim Menschen: Solange er noch nicht geboren und noch nicht zu eigenem Handeln fähig ist, kann er kein moralisch zurechenbares Subjekt sein; und wenn er gestorben ist, erlischt sein Anspruch auf eigene Lebensführung ganz von selbst. Zwar können wir im institutionellen Zusammenhang gesellschaftlicher Organisation auch einem ungeborenen Wesen Rechtsansprüche übertragen; entsprechend können wir den Willen eines Verstorbenen verbindlich machen. Doch auch dies steht unter der Prämisse des Lebens. Wenn niemand lebt, der die Rechte und Pflichten ernst nimmt, fehlt der Träger. Und das ist – im Fall der Ethik – stets ein Mensch, der sein Leben selbstbewusst führt. Wo die Kette des Lebens reißt, sind auch rechtliche und moralische Verbindlichkeiten unterbrochen. Für jeden, dem Recht und Moral wichtig sind, ist das ein zusätzlicher Grund, für die Kontinuität des Lebens einzutreten.

Das war den antiken Denkern bewusst. Deshalb kamen sie nicht auf die Idee, das Verhalten der Menschen von den leibhaftigen Bedingungen ihres Daseins zu lösen. Selbst in den Mythen von der Unterwelt bewahrten sie den Toten ihre Schatten. Der Tod war nicht das Ende des Lebens, sondern die Wende in einer Metamorphose, die in der Geburt ihre Entsprechung hat. Alle ethische Überlegung stand somit im Dienste der »Lebensführung« (pros ton bion; vitam agere; regimen vitae). Sie war also auf das gerichtet, was der Einzelne – [23]natürlich im Kontext seiner Gemeinschaft – aus seinem Leben macht. Es ist klar, dass sich dieser Bezug auf das gegebene Leben nur verschärft, wenn der Tod als das definitive Ende eines Individuums begriffen wird, ein Ende, auf das weder Lohn noch Strafe, noch ein weiteres Leben folgt. Und so haben wir unter den modernen Bedingungen nur noch einen Grund mehr, auf die Basisbedingung unserer Lebendigkeit zu achten.

Dies gilt für die grundlegenden Funktionen des Lebens überhaupt, für die Tatsache der Endlichkeit. Verletzlichkeit und Triebhaftigkeit ebenso wie für die Angewiesenheit auf Eigenbewegung und Stoffwechsel; es gilt für den unumgänglichen Verkehr mit unseresgleichen und für das in aller Bindung offenkundige Verlangen nach Eigenständigkeit. Es gilt aber auch für die spezifisch menschlichen Konditionen des langen Wachsens und Reifens, der bewussten Außensteuerung durch Erziehung, Sitte und Recht sowie für die verlangte Binnensteuerung durch eigene Einsicht, die uns die Kenntnis von Stärken und Schwächen, von günstigen Gelegenheiten und möglichen Gefahren, von Glück und Gunst ebenso wie von Krankheiten, Notlagen oder zunehmendem Alter vermittelt und uns – alles in allem – das Bewusstsein der Situativität und der Individualität verschafft.

Alles dies darf der Ethik nicht gleichgültig sein. Sie kann keine Maßstäbe setzen und erst recht keine Gesetze vorschreiben, ohne auf die Konditionen des Lebens bezogen zu sein. Sie kann nicht die Anpassung ächten, wenn Anpassung zu den elementaren Bedingungen eines jeden Lebensvollzugs...

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