[28]Archäologie und Wissen
In Foucaults früher Phase findet sich der Methodenbegriff ›Archäologie‹ bereits in den Buchtiteln prominent wieder: Die Geburt der Klinik wird im Untertitel als Eine Archäologie des ärztlichen Blicks bezeichnet, Die Ordnung der Dinge als Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Und die Archäologie des Wissens erläutert eben eine solche.
Der dadurch erweckte Eindruck, bei der Archäologie handele es sich um eine einheitliche Methode, täuscht allerdings. Zwar besteht eine gewisse Konstanz in der Vorgehensweise der frühen historischen Untersuchungen, jedoch wird die Methode wie erwähnt stets in Konfrontation mit dem jeweiligen Thema entwickelt und fortgeschrieben. Konkrete Systematisierungsschübe erhält die Archäologie vor allem in Die Ordnung der Dinge, speziell in den Vorworten, sowie in der nachfolgenden Archäologie des Wissens. Doch auch zwischen diesen beiden Arbeiten bestehen erhebliche methodische Differenzen. Denn die Archäologie des Wissens stellt weniger eine Zusammenfassung der zuvor angewandten archäologischen Methode dar, sondern nimmt an dieser und ihren theoretischen Grundlagen subtile bis maßgebliche Veränderungen vor. Und bezeichnenderweise ist mit dieser Methodenreflexion die archäologische Phase weitgehend abgeschlossen, jedenfalls folgt ihr keine größere archäologisch orientierte Untersuchung mehr.
Die Archäologie ist jedoch mehr als bloß ein methodisches Programm, sondern geht mit einigen geschichts- und wissenschaftsphilosophischen Grundannahmen Hand in Hand. Dabei ersetzt Foucault die Idee eines beständigen Fortschritts, in dem die Wissenschaften durch immer [29]höhere Rationalität zu immer genaueren Erkenntnissen gelangen, durch ein Modell, das die Entwicklung des Wissens als sich ablösende Konstellationen von Wahrheitsbedingungen versteht. Denn die Tatsache, dass sich die Wissensmodelle im Laufe der Geschichte geändert haben, »heißt nicht, daß die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern daß die Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert worden ist, die die Dinge dem Wissen anbietet, indem sie sie aufteilt«.
Dabei dient als heuristische Grundannahme die Frage: »Was aber, wenn empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur wirklich eine wohldefinierte Regelmäßigkeit besäße?«, man also annehmen könnte, dass das Denken einer Epoche einer vorgängigen, vorbewussten Ordnung unterliegt? Die Rekonstruktion entsprechender Regeln und der damit einhergehenden Gültigkeitskriterien und Möglichkeitsbedingungen für Aussagen, also desjenigen, was Foucault als »positives Unbewußtes des Wissens« bezeichnet, ist Ziel der Archäologie. Die so rekonstruierten Regeln sind aber eben nicht überhistorisch und universell, sondern singulär in je spezifischen Epochen auftauchende Phänomene. Innerhalb dieser Epochen bildet nicht eine überzeitliche Wahrheit das Gültigkeitskriterium von Aussagen, sondern deren In-Einklang-Sein mit den zeitgenössisch gültigen Regeln. So steht im Mittelpunkt von Foucaults Interesse nicht das Nachzeichnen des Fortschritts bestimmter Erkenntnisse, sondern die Analyse der Regeln, nach denen sich Wissen und in dessen Nachfolge Wissenschaften organisieren. Schon allein auf diese Weise grenzt sich die Foucault’sche Archäologie von gängigen Modellen der [30]Wissenschaftsgeschichte ab; sie ist nämlich gar keine. Gemäß der Archäologie stellen die positiven Wissenschaften nur Oberflächenphänomene dar, die auf einer tieferen Wissensordnung aufbauen. Die Archäologie versucht entsprechend, die Organisationsformen und -regeln des Wissens als solche zum Vorschein zu bringen.
Die »Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren«, bezeichnet Foucault dabei als »historisches Apriori«. Der Begriff ist gewollt paradox. Weder in seinem Niveau noch in seiner Dimension stimmt das historische mit dem formalen Apriori überein, es handelt sich vielmehr um eine rein historisch-empirische Figur. Dennoch bildet es, da es »nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist«, sozusagen die empirisch-transzendentale Linse für das Wiss- und Sagbare einer Epoche.
Das durch das historische Apriori strukturierte Feld, quasi den Fundhorizont der archäologischen Kulturschicht bzw. des Stratums, bezeichnet Foucault in Die Ordnung der Dinge als »Episteme« (im Singular). Sie ist die Tiefenstruktur, die das Wissen und die Aussagemodalitäten innerhalb einer Epoche reglementiert und gleichsam die »Gesamtheit der Bewegungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert«. Die Episteme ist also gewissermaßen dasjenige regelhafte Geflecht, welches dem Netz der aufeinander bezogenen Aussagen zugrunde liegt, dieses gliedert und anhand dessen sich eine Regelmäßigkeit dieser Aussagen rekonstruieren lässt. »Die Episteme […] legt fest, was sich von selbst versteht, was – zumindest in diesem bestimmten [31]historischen Kontext – nicht anders gedacht werden kann«, vermerkt die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston. Oder, um es mit Paul Veynes Worten zu fassen: Die Episteme ist das Fischglas.
Foucaults frühe Arbeiten befassen sich vor allem mit der Analyse zeitspezifischer Diskurse. Ein Diskurs (oder: eine diskursive Formation) lässt sich, grob gesagt, als ein historisches, singuläres Ensemble von Aussagen bezüglich eines spezifischen Gegenstandes begreifen. Dabei gelten die Arten und Weisen, wie und was über den Gegenstand ausgesagt wird, als konstitutiv für diesen Gegenstand selbst. Das Vorgehen der archäologischen Diskursanalyse ist strikt anti-hermeneutisch, bemüht sich also nicht um einen verstehenden Nachvollzug historischer Diskurse. Im Fokus steht nicht die Frage, was ausgesagt werden sollte, sondern warum spezifische Aussagen (und keine anderen) aufgetreten sind. Es geht Foucault nicht darum, das Gesagte zu interpretieren, sondern darum, dessen fundamentale Strukturen offenzulegen. Hierzu werden Diskurse in ihrer Beziehung zueinander analysiert, ohne einen dahinter verborgenen Sinn anzunehmen, »denn Foucault war vorsichtig genug, seine Analysen auf textuelle Äußerungen zu beschränken und sich nicht ans Gedankenlesen zu wagen«, so Daston. Aussagen werden nicht als »Dokumente« (also als Beleg für etwas), sondern als stumme »Monumente« betrachtet, die sich gesetzmäßig formieren. Denn um die Tiefenstruktur der Episteme freizulegen, bedarf es gewissermaßen einer oberflächlichen Betrachtungsweise. Und so erschöpft sich die Archäologie zunächst in der »reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten«.
[32]Im Mittelpunkt von Foucaults Denken steht dabei die Idee der Diskontinuität. Denn die Ordnungen des Wissens können sich auf radikale Weise ändern (so lautet eine von Foucaults grundlegenden Thesen in Die Ordnung der Dinge). Da die Archäologie die Ebene des Wissens beschreibt, zieht ein solcher epistemischer Umbruch den Wandel einer Vielzahl von Wissenschaften nach sich.
Im Umkehrschluss lässt sich deshalb über die Gemeinsamkeiten verschiedener Wissenschaften und Wissensgebiete das historische Apriori rekonstruieren. Die Übergänge von der Renaissance zum sogenannten klassischen Zeitalter (um 1650) und von dort zur Moderne (um 1795–1800) sind solche fundamentalen Restrukturierungen der Ordnung der Dinge. Die Epocheneinteilung in Renaissance, klassisches Zeitalter (das etwa der Zeit des Absolutismus entspricht) und Moderne ist maßgeblich für nahezu alle Arbeiten Foucaults, wenngleich die konkreten Übergänge und Eckpunkte sich ändern. Tatsächlich wird Foucault bis zu seinen letzten Büchern, die sich mit der griechischen und römischen Antike befassen, diesen Untersuchungsrahmen nicht verlassen.
Die Frage, wie diese Brüche zustande kommen, lässt sich nicht beantworten, so Foucault. Da das Denken und Sprechen der Subjekte immer schon durch die vorgängige Ordnung geregelt ist, kommen sie selbst nicht als Urheber der Umwälzung in Betracht, und bereits die Frage nach einer solchen Urheberschaft wäre sinnlos. So ist die Abkehr von der Wissenschaftsgeschichte auch eine Abkehr von einer Geschichte der großen Männer. In der Archäologie wird das Subjekt seiner wissensstiftenden Funktion zugunsten autonomer Diskurse enthoben, die sich gemäß [33]erkenntnistheoretischer bzw. epistemischer Regelmäßigkeiten formieren: »Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist«. Wichtig ist nicht mehr, wer zu welcher Zeit welche Aussage getätigt hat, sondern die Regelhaftigkeit der Gesamtheit der Aussagen einer epistemischen Ordnung. Zwar gesteht Foucault zu, dass es auf Ebene der Wissenschaften weiterhin so etwas wie Diskursstifter gibt,...