Kapitel 1
Alles Einstellungssache
Als ich noch eine junge Wissenschaftlerin war und gerade am Anfang meiner Forscherlaufbahn stand, passierte etwas, das mein Leben verändern sollte. Damals beschäftigte ich mich mit der Frage, wie Menschen mit einem Misserfolg umgehen, und untersuchte, wie Schulkinder auf schwere Aufgaben reagieren. Ich ließ die Kinder einzeln in ein Klassenzimmer in ihrer Schule kommen, sorgte dafür, dass sie sich wohlfühlten, und gab ihnen dann einige Denksportaufgaben zu lösen. Die erste Runde war noch recht einfach, doch in einer zweiten waren die Fragen kniffliger. Während die Kinder über den Aufgaben brüteten, schwitzten und ächzten, beobachtete ich ihre Lösungsstrategien und fragte sie, was sie dachten und fühlten. Ich erwartete, dass sie jeweils unterschiedliche Strategien anwendeten, um mit den Schwierigkeiten umzugehen, doch ich machte eine überraschende Entdeckung.
Ein zehnjähriger Junge rückte beim Anblick der schweren Rätsel seinen Stuhl zurecht, rieb sich die Hände, schnalzte mit der Zunge und rief: »Ich liebe knifflige Rätsel!« Ein anderer blickte pötzlich auf und sagte sehr bestimmt: »Wissen Sie, genau das hatte ich gehofft: Dass ich hier was lerne.«
Stimmt mit diesen Kindern etwas nicht?, fragte ich mich. Ich war davon ausgegangen, dass die Kinder mit dem Misserfolg mehr oder weniger gut umgehen würden. Aber dass jemand gern an einer Aufgabe scheitert, das hatte ich nicht erwartet. Kamen diese Kinder von einem andern Stern oder hatten sie etwas entdeckt, das ich noch nicht erkannt hatte?
Jeder von uns hat Vorbilder – Menschen, die uns in kritischen Momenten unseres Lebens einen Ausweg aufzeigen. Diese Kinder waren meine Vorbilder. Sie wussten etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, und ich war entschlossen, es herauszufinden und diese innere Einstellung kennenzulernen, die einen Misserfolg in etwas Positives verwandeln kann.
Was genau wussten diese Kinder? Sie wussten, dass menschliche Eigenschaften, zum Beispiel unsere intellektuellen Fähigkeiten, sich durch Übung weiterentwickeln lassen. Und genau das taten sie: Sie entwickelten ihre geistigen Fähigkeiten weiter. Sie ließen sich durch ihren Misserfolg nicht nur nicht frustrieren, sie begriffen ihn nicht einmal als Misserfolg. Sie begriffen ihn als Lernprozess.
Ich war dagegen davon ausgegangen, dass menschliche Eigenschaften in Stein gemeißelt seien; entweder ist man schlau oder man ist es eben nicht. Und wer an den Denksportaufgaben scheitert, der ist eben nicht schlau, ganz einfach. Und wer immer darauf achtet, Erfolg zu haben, und den Misserfolg um jeden Preis vermeidet, der bleibt auch schlau. Anstrengungen, Fehler und Hartnäckigkeit passten nicht in dieses Bild.
Die Frage, ob menschliche Eigenschaften in Stein gemeißelt oder veränderbar sind, ist alt. Doch die Frage, welchen Einfluss es auf unser Leben hat, wenn wir das eine oder das andere glauben, wird erst seit kurzem gestellt: Was ist die Konsequenz, wenn wir glauben, dass wir unsere Intelligenz oder unsere Persönlichkeit weiterentwickeln können, statt zu glauben, es handele sich um unveränderbare und tief verwurzelte Eigenschaften? Sehen wir uns erst einmal diese alte und leidenschaftlich geführte Debatte über die menschliche Natur an, ehe wir zu der Frage kommen, was diese Glaubenssätze für uns bedeuten können.
Warum ist jeder Mensch anders?
Seit Urzeiten denken Menschen unterschiedlich, sie handeln unterschiedlich und machen unterschiedliche Erfahrungen. Irgendwann musste jemand auf den Gedanken kommen zu fragen, warum jeder Mensch anders ist, warum manche klüger oder moralisch reifer sind als andere, und ob es etwas gibt, das sie grundsätzlich voneinander unterscheidet. Die Experten bildeten schon bald zwei verfeindete Lager. Die einen behaupteten, die Unterschiede hätten körperliche Ursachen, sie seien naturgegeben und unveränderlich. Im Lauf der Zeit wurden die verschiedensten Theorien aufgestellt: Phrenologen meinten beispielsweise, Höcker auf dem Schädel seien für diese Unterschiede verantwortlich, Kraniologen dagegen, es liege an der Form und Größe des Schädels. Heute werden die Gene herangezogen.
Vertreter des gegnerischen Lagers verwiesen dagegen auf die großen Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Herkunft, der Erfahrung, der Ausbildung oder der Lernmethoden. Vielleicht überrascht es Sie, dass Alfred Binet, der Erfinder des IQ-Tests, einer der bedeutendsten Vertreter dieser These war. Viele glauben, der IQ-Test diene dazu, einen unveränderlichen Intelligenzquotienten zu ermitteln, doch das ist ein Irrtum. Binet, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Paris forschte, entwickelte den Test, um zu erkennen, welche Kinder an den öffentlichen Schulen nicht mitkamen: Sein Ziel war es, neue Lehrmethoden zu entwickeln, mit denen diese Kinder wieder bessere Leistungen erzielen konnten. Er stritt nicht ab, dass jedes Kind unterschiedliche geistige Fähigkeiten mitbringe, doch er war überzeugt, dass schulische Bildung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Intelligenz der Kinder habe. Dazu ein Zitat aus seinem bekanntesten Buch Die neuen Gedanken über das Schulkind, das seine Untersuchungen an Hunderten von leistungsschwachen Schülern zusammenfasst:
»Einige moderne Philosophen behaupten, die Intelligenz eines Menschen sei eine feste Größe, die sich nicht verändern lässt. Wir müssen uns vor diesem brutalen Pessimismus hüten und dagegen angehen. Mit Übung und vor allem mit Methode gelingt es uns, unsere Konzentrationsfähigkeit, unser Gedächtnis und unsere Urteilsfähigkeit zu verbessern und buchstäblich intelligenter zu werden.«
Wer hat nun Recht? Heute sind die meisten Experten der Ansicht, dass es kein einfaches Entweder-oder gibt. Es ist nicht entweder die Natur oder die Erziehung, entweder die Gene oder die Umwelteinflüsse. Vom Moment der Zeugung an spielen beide eine Rolle. Der bedeutende Gehirnforscher Gilbert Gottlieb geht sogar so weit zu sagen, dass Gene und Umwelt in unserer Entwicklung nicht nur zusammenspielen, sondern dass die Gene die Umwelt sogar brauchen, um ihre Aufgaben überhaupt erfüllen zu können.
Moderne Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass wir sehr viel lernfähiger sind und sich unser Gehirn sehr viel länger weiterentwickeln kann, als bisher angenommen wurde. Natürlich bringt jeder Mensch seine eigenen Gene mit. Menschen werden mit unterschiedlichen Temperamenten und Fähigkeiten geboren, doch inzwischen ist erwiesen, dass Erfahrung, Ausbildung und persönlicher Einsatz eine entscheidende Rolle spielen. Intelligenzforscher Robert Sternberg schreibt, der wichtigste Grund, warum Menschen besondere Fähigkeiten entwickelten, sei »kein angeborenes Talent, sondern eine zielgerichtete Tätigkeit«. Oder, wie schon Binet erkannte: Wenn jemand am Anfang der Klügste ist, bedeutet das noch lange nicht, dass er es bis zum Schluss bleibt.
Was bedeutet das für uns?
Es ist eine Sache, sich über wissenschaftliche Theorien die Köpfe heißzureden. Es ist aber etwas ganz anderes, zu verstehen, was diese unterschiedlichen Standpunkte für Sie persönlich bedeuten. Die Forschungen, die ich seit 20 Jahren durchführe, haben den Beweis erbracht, dass die innere Einstellung, die Sie selbst zu dieser Frage einnehmen, einen weitreichenden Einfluss darauf hat, wie Sie Ihr Leben führen. Sie entscheidet, ob Sie der Mensch werden, der Sie sein wollen, und ob Sie das erreichen, was Sie sich vornehmen. Wie kann das sein? Wie kann eine bloße Meinung zu dieser Frage Ihre Psychologie und damit Ihr ganzes Leben verändern?
Wenn Sie glauben, dass Ihre Eigenschaften in Stein gemeißelt sind, wenn Sie also an ein statisches Selbstbild glauben, dann verspüren Sie immer wieder das Bedürfnis, sich zu beweisen. Wenn wir alle eine bestimmte Persönlichkeit oder eine fest vorgegebene Intelligenz und moralische Festigkeit haben, dann sollten wir doch unter Beweis stellen, dass wir eine ordentliche Portion davon mitbekommen haben. Es ginge doch nicht an, dass wir auf diesen Gebieten weniger abbekommen haben sollten als andere.
Viele von uns wachsen mit diesem Selbstbild auf. Ich wurde zum Beispiel schon als Kind darauf getrimmt, intelligent zu sein, doch in der sechsten Klasse wurde mir dieses statische Selbstbild endgültig eingebläut. Mrs. Wilson, meine Klassenlehrerin, war felsenfest davon überzeugt, dass es ausreiche, den Intelligenzquotienten eines Menschen zu kennen, um ihn vollständig zu verstehen. Sie legte die Sitzordnung im Klassenzimmer nach dem IQ fest, und nur die Schüler mit den besten Ergebnissen durften die Tafel wischen oder eine Mitteilung zum Schulleiter bringen. Abgesehen von den Magenschmerzen, die sie uns mit ihrem prüfenden Blick verursachte, bewirkte sie in uns allen eine klare innere Haltung: Wir wollten klug aussehen und nicht dumm. Welche Rolle spielte schon die Freude am Lernen, wenn mit jeder Prüfung und mit jeder Wortmeldung unsere gesamte Persönlichkeit auf dem Spiel stand?
Ich bin vielen Menschen begegnet, die nur dieses eine Ziel haben, sich selbst zu beweisen, ob im Klassenzimmer, in der Arbeit oder in zwischenmenschlichen Beziehungen. In jeder Situation müssen sie ihre Intelligenz, ihre Persönlichkeit oder ihren Charakter unter Beweis stellen. Jede Situation wird bewertet: Werde ich Erfolg haben oder scheitern? Werde ich klug oder dumm aussehen? Komme ich gut an oder schlecht? Werde ich mich am Ende als Sieger oder als Verlierer fühlen?
Aber ist es nicht völlig normal, dass jemand diese Eigenschaften haben will? Belohnt unsere Gesellschaft nicht Intelligenz, Persönlichkeit und Charakter? Das stimmt schon,...