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E-Book

Selbstverbrennung

Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff

AutorHans Joachim Schellnhuber
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl784 Seiten
ISBN9783641175269
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Alarmierender Report über die selbstzerstörerischen
Folgen einer ungebremsten Erderwärmung

»Um jedes Zehntelgrad zu kämpfen« lohne sich, davon ist Deutschlands wichtigster Klimaforscher mit internationaler Reputation überzeugt. Er streitet seit Jahrzehnten darum, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dem Klimawandel und seinen dramatischen Folgen endlich ins Auge sehen - und alles daran setzen, ihn aufzuhalten.

In einem brisanten Thesenbuch spitzt er seine Kritik noch einmal zu: Nach derzeitigem Wissensstand bewegt sich unsere Zivilisation nicht auf die oft genannte Zwei-Grad-Grenze, sondern viel dramatischer auf eine Erwärmung von 3 bis 4 Grad Celsius bis Ende des Jahrhunderts zu. Die fortgesetzte Verbrennung fossiler Energieträger droht zum kollektiven Suizid zu führen. Hans Joachim Schellnhuber fasst das aktuelle Wissen in aller Schärfe zusammen, damit die Politiker auf der »Schicksalskonferenz« in Paris im Spätherbst 2015 die letzte Chance zum Umsteuern ergreifen.

Hans Joachim Schellnhuber ist Gründer und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor für Theoretische Physik an der Universität Potsdam. Er ist Mitglied in einer Reihe deutscher und internationaler wissenschaftlicher Gremien wie des 2007 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Weltklimarats IPCC und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Schellnhuber ist Autor von mehr als 40 wissenschaftlichen Büchern, der gemeinsam mit Stefan Rahmstorf verfasste Band »Klimawandel« aus der Reihe Beck Wissen liegt inzwischen in 6. Auflage vor.

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Leseprobe

1. Abschied und Wiederkehr

Am 25. Februar 2010 starb meine Mutter. Ihr Name war Erika, und sie durfte (oder musste?) 82 Jahre alt werden. Kindheit und Jugend ihrer Generation waren geprägt von den großen europäischen Katastrophen und den unfassbaren deutschen Entgleisungen des 20. Jahrhunderts: Krieg, Ruin, Nazi-Wahn, Holocaust, Zerstörung. Es folgten Strafe und Scham. Und schließlich verstohlenes Zurückkriechen in die Menschheitsgemeinde – zu beachtlicher Freiheit und erstaunlichem Wohlstand unter dem noblen Schutzdach des Grundgesetzes. Mit 17 Jahren verlor Erika ihren Verlobten in einer der Kesselschlachten an der Ostfront; mit 18 wurde sie bei einem Bombenangriff der Westalliierten verschüttet; mit 19 erlebte sie ihre erste Schwangerschaft.

Die Begräbniskirche bei Ortenburg war wenige Tage nach ihrem Tod noch winterkalt, doch sanft von Frühlingslicht erfüllt, und die Sandwege über den Friedhof draußen atmeten sogar schon Sommerwärme. Am offenen Grab der Familie Schellnhuber wurden Reden wie an fast allen Gräbern gehalten, die sich vergeblich mühten, der Verstorbenen gerecht zu werden oder den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Erikas Leben war entlang tiefer Bruchlinien verlaufen; als am schwierigsten erwies sich sogar das letzte Daseinsdrittel, unter scheinbar stabilen äußeren Bedingungen. Aber meine überwältigende Erinnerung an sie ist die einer hübschen, fröhlichen, zärtlich liebenden, jungen Mutter, die ich uneingeschränkt widerliebte. Nicht zuletzt deshalb waren die glücklichsten Jahre meines bisherigen Lebens die meiner Kindheit, also etwa die Zeit zwischen dem dritten und dem zehnten Geburtstag. Die Magie dieser Zeit begleitet mich noch heute, wenngleich sie nun tief im Bewusstseinshintergrund gelagert erscheint.

Und der Tod meiner Mutter hat diesen Hintergrund noch weiter weggestoßen, wohl über den Horizont der seelischen Rückrufbarkeit hinaus. Aber stimmt das wirklich, habe ich meine Kindheit nicht schon längst – Stück für Stück, in kleinen, unbarmherzigen Schritten – verloren? Ich kam im Haus meiner Eltern zur Welt, das seit zweihundert Jahren im Besitz unserer Familie ist und das vor vielen Jahrhunderten als erstes öffentliches Schulgebäude der reichsfreien evangelischen Grafschaft Ortenburg in Niederbayern aus Stein, Lehm und Holz errichtet wurde. In diesem Haus bin ich auch groß geworden. Es war unbestritten das schönste der ganzen Gemeinde, stattlich-heiter, auf einer ummauerten Anhöhe platziert, von wildem Wein umrankt und von riesenhaften Birnbäumen, Berberitzenhecken und Gemüserabatten umgeben. Der grüne Sommerduft der Tomaten, die meine Großmutter leidenschaftlich kultivierte, und der braune Winterduft des schweren Weihnachtsgebäcks, das ich fabrizieren half, durchzogen die Kinderzeit. Unvergesslich meine Ausritte als kleiner Junge auf dem ungesattelten Ochsenrücken zu unseren Weizen- und Roggenfeldern, durch Streuobstwiesen und sandige Hohlwege, in der flirrenden Augusthitze voller Lerchengesang. Unvergesslich das Abendläuten der Pfarrglocken im Herbst, das meinen Bruder und mich von den Anhöhen rings um Ortenburg nach Hause rief, wo meine Mutter bereitstand, um uns den Schmutz eines endlosen, beglückenden Nachmittags in der nur halb gezähmten Natur abzuschrubben. Das Leben war schön, auch wenn meine Mutter oft mit der Sorge schlafen ging, woher wohl am nächsten Tag das Essen für die Familie kommen würde.

Dann ereignete sich das »Wirtschaftswunder«. Seine Vorboten waren schon Ende der 1950er-Jahre im Rottal unterwegs; ab 1960 brach es dann unwiderstehlich und flächendeckend über meine Heimat herein. Die Leute hatten plötzlich Geld oder bekamen günstige Darlehen. Große Traktoren tauchten auf und ersetzten Zugochsen und Pferde. Autos begannen unregelmäßig die Straße vor unserem Haus zu befahren, die wir Kinder doch als ewiges Lehen zum Zweck des Murmelspielens im Juni und des Schlittenfahrens im Januar ansahen. Lagerhäuser für die Speicherung der Ernte und für die Verteilung von Kunstdünger und Pestiziden wurden errichtet; Telefonmasten und Trafohäuschen wuchsen aus dem Boden. Und da war vor allem die große bayerisch-vaterländische Flurbereinigung, welche die liebenswürdig verwinkelte, jahrtausendgereifte Bauernlandschaft in eine Industriebrache überzuführen begann – aufgeräumt, übersichtlich, rechteckig, reizlos.

Als Kind begriff ich nicht, was da vor sich ging. Ich wusste nichts vom »FlurbG« – dem am 14. 07. 1953 verabschiedeten Bundesflurbereinigungsgesetz – oder vom »AGFlurbG« – dem am 11. 08. 1954 verabschiedeten Bayerischen Gesetz zur Ausführung des Flurbereinigungsgesetzes. Und schon gar nichts von den Römischen Verträgen, worin die sechs Kernstaaten der EU im Jahr 1957 einen gemeinsamen Wirtschaftsmarkt und die »Modernisierung der Agrarstrukturen« beschlossen. Ich erlebte nur, wie Hecken und Baumgruppen gerodet, Dorfteiche zugeschüttet und Trampelpfade asphaltiert wurden. Mein Paradies zerbröckelte unter den dünnen, unermüdlich die Gegend durchstreifenden Kinderbeinen.

Der Übergang zur kleinindustriellen Landwirtschaft vor den Toren des Marktfleckens Ortenburg wurde widergespiegelt und begleitet von einem beschleunigten baukulturellen Erosionsprozess in seinem Innern: Mit den neuen Verdienstmöglichkeiten des »Wirtschaftswunders« – auch außerhalb des Agrarsektors – entstanden Anlagen und Infrastrukturen von zeitloser Hässlichkeit: Esso-Tankstellen, VW-Werkstätten, Sandgruben, Steinbrüche, Zementfabriken, Getreidesilos, lang gestreckte Molkereien, Buswendehämmer sowie Einkaufsläden, Gaststätten und Cafés im grotesken Pseudo-Bauhausstil. Mit dem wachsenden Wohlstand erfasste der Erneuerungsrausch alsbald auch – ja, vor allem – die private Wohnsubstanz: In den Jahren zwischen 1960 und 1990 schossen in den traditionellen Obstgärten der Ortenburger Bürger Ein- und Zweifamilienhäuser mit breiten Auffahrten, Doppelgaragen und Ölzentralheizungen aus dem Boden. Schließlich sollte jedes der Kinder seinen eigenen Hausstand gründen können, ein früher undenkbarer Luxus.

An so etwas wie Energieeffizienz verschwendete man nicht den flüchtigsten Gedanken – das spottbillige Erdöl schwappte ja aus den Wüstenbohrlöchern Arabiens bis nach Niederbayern. Und an das reiche Formenerbe des Rottals, wo sich immer noch baumeisterliche Juwelen in versteckten Winkeln wie Reisbach finden, erinnerten höchstens noch architektonische Demütigungen wie ausladende Balkone im pervertierten Voralpenstil. Auf den bisher freien Flächen innerhalb der Ortschaft – unsere Vorfahren wussten genau, warum sie diese offen gehalten hatten – entstanden Neubausiedlungen wie Fettklumpen im Herzgewebe eines kranken Menschen. Dafür begannen die alten, wetterdunklen, holzschindelverkleideten Wohnhäuser zu verfallen, wenn sie nicht abgerissen oder entstellend »renoviert« wurden. Einige dieser für die Grafschaft Ortenburg so charakteristischen Gebäude stehen noch heute, von wenigen Liebhabern erhalten und gepflegt. Ihr Anblick ist wie ein Stich in den Leib, weil vor Augen geführt wird, was einst war und was noch sein könnte.

Mit jedem Besuch in meinem Heimatort über die letzten vier Jahrzehnte wurde mir der Verlust meiner Kindheitsidentität durch den Verlust ihres Schauplatzes deutlicher: Mit meinem Vater – auch er ist nicht mehr am Leben – unternahm ich Wanderungen zu einst vertrauten Stätten, aber wir mussten uns immer weiter vom Ortskern entfernen, um noch fündig zu werden. Mein Geburtshaus selbst habe ich längst von meiner persönlichen Kulturerbeliste gestrichen, denn sein großzügig-umständlicher Charme ist inzwischen durch funktionalen Umbau ausradiert, seine wundervolle Baumentourage schon lange von Axt und Säge niedergestreckt.

Der Tod meiner Mutter erschien mir wie eine letzte und endgültige Verlustbestätigung für alles, was mir dort kostbar war. Nachdem vier kräftige Männer das Grab zugeschaufelt hatten, begab sich die verhältnismäßig große Trauergemeinde zum »Leichenschmaus« – wie habe ich diesen Begriff immer gehasst! – in einen nahe gelegenen Gasthof hoch über der Ortschaft. Anschließend stieg ich mit meiner Frau die Anhöhe ganz empor, um vor der langen Rückreise noch ein wenig frische Luft zu atmen, vor allem aber auch, um meine Gefühle zu ordnen. Bald lag das Wirtshaus, das sich vor vielen Jahren noch einer altertümlichen Kegelbahn im Schatten grandioser Walnussbäume rühmen konnte, tief unter uns. Die Dämmerung war nicht mehr fern, die Luft erstaunlich mild und von einer kristallenen Klarheit: Föhnwetter …

Wir wanderten immer weiter die steile Straße hinan, vorbei am Gefallenendenkmal im Zentrum eines kleinen Fliederhains, hinauf bis zum Kamm der Hügelkette. Ich vermied es bewusst, mich umzudrehen und zurückzublicken, denn irgendwie hoffte ich, ganz oben der Vergangenheit ein Bild zu entreißen, das ich seit vielen Jahrzehnten wie einen unhebbaren Schatz in mir trug. Endlich, am höchsten Punkt des Weges, wandte ich mich rasch um, für jede Enttäuschung gewappnet – doch wahrhaftig, da lag SIE: In einer zauberhaften Melange aus schwindendem Sonnenlicht und aufsteigendem Vollmondlicht erstreckte sich, vom Anfang bis zum Ende des südlichen Horizonts, die Kette der Bayerischen Alpen! Die Konturen waren so scharf, dass man jeden Felssturz zu erkennen meinte, die Farben so tief, dass man Zwiesprache mit den weiß-blauen Gletscherzungen halten wollte. In diesem Moment war ich ganz und gar heimgekehrt, instantan zurückversetzt an jenen heißen Sommernachmittag vor 55 Jahren, als ich an der Hand meiner Mutter an exakt derselben Stelle vom Anblick der Alpen überwältigt wurde …

Man muss wissen, dass das Gebirge rund hundert Kilometer Luftlinie von Ortenburg...

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