Vorwort
Als Ratgeber für ein glückliches, oder, wie es heißt, gelingendes Leben treten heute Glückspropheten, Lebenskünstler und Sinnsucher aller Art auf, die in einer philosophischen Hausapotheke oder sogar mit Hilfe eines Fragebogens Lebenshilfe bieten. Wenn man ihre Botschaften auf ihren Kern reduziert, wird man das alles klar, knapp und einleuchtend schon bei Seneca finden. Wie zum Beispiel: »Will man glücklich werden, dann mehre man nicht den Besitz, sondern mindere die Wünsche«. »Nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht, ist arm.« »Fang jetzt an zu leben und zähle jeden Tag als ein Leben für sich«.
Aber Seneca hat mehr zu bieten als erbauliche Kalendersprüche. Wenn ihn Nietzsche den »Toreador der Tugend«1 nennt, so meint er nicht nur den Philosophen, der mit Vehemenz und Eindringlichkeit als den alleinseligmachenden Weg zum Glück die Lehren der Stoa verkündet. Nietzsche, selbst Philosoph und Dichter, weist auch hin auf die Sprache Senecas. Bei ihrer Treffsicherheit, ihrem Pointenreichtum und der Intensität, mit der sie auf ein Gegenüber zielt, kann man an den gewandten Degen eines Toreros denken. Senecas Degen richtet sich gegen das Fehlverhalten seiner Zeitgenossen, das er in anschaulichen Szenen vergegenwärtigt, die auch dem heutigen Leser noch Vergnügen machen. Seneca ist ja auch Tragödiendichter – und er schafft sich eine Bühne, auf der er die missgeleiteten Zeitgenossen auftreten lässt: die Betriebsamen, die den ganzen Tag hektisch herumrennen und nur ihre Lebenszeit vertun, die Modebewussten, die stundenlang beim Friseur sitzen und einen Rat abhalten über jedes einzelne Härchen, die Superreichen, die Meeres- und Seeufer mit ihren Luxusvillen zubauen – dabei können sie doch nur in einem Bett schlafen – die Gourmets, die Delikatessen von jenseits der Grenzen des Römischen Reiches für ihre feine Küche heranschaffen lassen, um dann nur einen Bissen davon zu nehmen, weil ihr Magen schon krank ist, oder die im Sommer Schnee brauchen, um ihre Getränke zu kühlen, oder die nachts leben und am Tag schlafen, weil sie nicht leben wollen wie das gemeine Volk. Sind sie denn glücklich? Nein, sagt Seneca, die Gier nach Luxus und Genuss brauche ja ständig neue Reizmittel, müsse sich selbst überbieten, und dies führe zu einem Gefühl des Überdrusses, eines Unbefriedigtseins inmitten allen Reichtums. Für seinen Besitz und seine Stellung müsse man auch fürchten, vor allem in diesen unruhigen Zeiten, wo man sich heute in der Gunst des Kaiserhofes sonnen könne, morgen das Todesurteil zu erwarten habe. Die Furcht vor dem Tod, ob gewaltsam oder nicht, vor einem Umschlag des Schicksals, ist allgegenwärtig, da hilft kein Luxus, kein Savoir-vivre.
Was hilft? Die Philosophie, so wie sie Seneca verstanden haben will, als Lebenskunst, als Seelenheilkunde. Der Philosoph muss ein Arzt für die Seele sein. Zwar kann er die verschiedenartigen Nöte des Lebens nicht beheben, wie Armut, Krankheit, Unterdrückung, aber er kann dem Betroffenen zu einer gewandelten Einstellung gegenüber diesen Problemen verhelfen, und dann wird dieser mit seiner speziellen Lebenssituation besser umgehen können. Nichts anderes versucht heute die Psychologie und Psychotherapie.2
Was rät Seneca als Stoiker? Secundum naturam vivere, gemäß der Natur leben, ist die zentrale Formel seiner Schule. Gegründet von Zenon (332–262 v. Chr.), benannt nach einer mit Gemälden ausgestatteten Säulenhalle in Athen (stoa poikile), dem Versammlungsort der Schule, stand die Stoa in der Nachfolge des Sokrates und seines Bemühens um die Seele, die möglichst gut sein sollte.3 Im Hellenismus begann das Individuum, aus der Begrenzung des Bürgertums in seiner Polis, der Stadtgemeinde, herauszutreten, sich auf sich selbst zu besinnen und sich wichtig zu nehmen. Ein individuelles Glücksstreben verband sich mit dem neuen Gefühl eines Weltbürgertums, erzeugt von den weiten Räumen der antiken Welt nach den Eroberungen Alexanders des Großen. Viele Völker vieler Rassen lebten hier zusammen, geprägt von der griechischen Kultur. Weltoffenheit dokumentiert sich in der Herkunft der stoischen Lehrer: Der Gründer Zenon stammte aus Kition auf Zypern, war der Abstammung nach Phönizier; Panaitios aus Rhodos, der bedeutende Impulsgeber, leitete die Schule in Athen, kam nach Rom, um dort die Stoa einzubürgern; sein Schüler Poseidonios stammte aus Apameia in Syrien. Eine von ihnen gelehrte Philosophie musste wahrhaft weltumspannende Leitbegriffe haben. Einer dieser Begriffe war die physis, lateinisch natura, die Natur in einem weiten Sinn, die Allnatur des Kosmos, der von einem geistig-göttlichen Prinzip durchwaltet wird. Die Götter sind gewissermaßen Personifizierungen dieses schöpferischen Prinzips, das gleichzeitig logos, ratio, die göttliche Weltvernunft ist. Die Grundvorstellung der stoischen Ethik besagt, dass alle Menschen Glieder der Natur und mit einem Anteil an dieser Weltvernunft ausgezeichnet sind, den man sich bildlich in der Art eines Funkens aus dem feurigen Element des Kosmos vorstellte. Alle Menschen besitzen diesen göttlichen Funken, sie sind also alle gewissermaßen Abkömmlinge des Göttlichen, was sie auch untereinander verbindet, unabhängig von ihrem irdischen Status als Freier oder Sklave, Mann oder Frau. Sie sind ihrer Verbindung mit dem Göttlichen verpflichtet, indem sie ihre ratio, diesen Vernunftfunken4, im Verlauf ihres Lebens ausbilden. Damit folgen sie dem Gesetz der gemeinsamen Natur, wie der Grundgedanke der Stoa lautet. Da die göttliche Allnatur vollkommen ist, also gut, verwirklicht der Mensch mit der Ausbildung der vollkommenen Vernunft, der recta ratio, gleichzeitig den höchsten sittlichen Wert, die virtus, die Tugend. Sie ist damals wie heute die Grundlage menschlichen Zusammenlebens, denn sie bedeutet, das Rechte zu tun, niemandem Unrecht oder Leid zuzufügen, auch sich selbst nicht, sich den Mitmenschen und der staatlichen Gemeinschaft nach Kräften zur Verfügung zu stellen, seine Affekte im Zaum zu halten, alles Tun und Lassen der Vernunft zu unterwerfen, nur sich selbst, das heißt dieser Vernunft, verantwortlich zu sein. Wer so lebt und handelt, besitzt die virtus, und sie allein ist der höchste, unverlierbare Wert, in ihrem Besitz liegt das Glück.
Und was ist das Glück? Die innere Unabhängigkeit von allen äußeren Dingen, die wir nicht beeinflussen können, von den Wechselfällen des Lebens, das Vertrauen darauf, in seinem Innern fest und unerschütterlich gegründet zu sein. Das wiederum führt zur Gelassenheit, zur »stoischen Ruhe«.
Seneca nimmt, ebenso wenig wie ein anderer prominenter Stoiker, Kaiser Marc Aurel, für sich in Anspruch, die höchste Stufe der Vollkommenheit schon erreicht zu haben. Doch wer immer strebend sich bemühe, der werde dem Ziel im Laufe seines Lebens nahe kommen. Und hilfreich sei dieses Bemühen im Sinne eines ständigen Meditierens, Memorierens der stoischen Regeln, in jedem Falle. Dafür war Seneca selbst der lebende Beweis.
Um die Zeitenwende in Corduba in Spanien geboren erhielt er in Rom eine gründliche Ausbildung in den Wissenschaften, vor allem in Rhetorik, so dass er bald ein anerkannter Redner war. Was ihm freilich die Missgunst des Kaisers Caligula zuzog, der sich selbst für den besten Redner hielt und den Rivalen beseitigen wollte. Nur der Hinweis, Seneca habe es an der Lunge und mache es eh?nicht mehr lang, hielt ihn davon ab. Seneca litt in der Tat an Tuberkulose und Bronchialasthma; die erstere Krankheit konnte er bei einem Aufenthalt bei Verwandten in Ägypten auskurieren, das Bronchialasthma, mit qualvollen Erstickungsanfällen, blieb ihm bis ins Alter, wohl mit fortschreitender Herzinsuffizienz, und ist wohl einer der Gründe, warum der Gedanke an den Tod eine so große Rolle bei ihm spielte.
Der grausame und größenwahnsinnige Caligula wurde 41 n. Chr. ermordet, unter seinem Nachfolger Claudius schienen bessere Zeiten anzubrechen, doch die Kaisergattin Messalina spann Intrigen, denen auch Seneca zum Opfer fiel. Als angeblicher Ehebrecher mit Julia Livilla, einer Schwester des Caligula, in der Messalina eine Rivalin sah, wurde Seneca auf die damals recht unwirtliche Insel Korsika verbannt. 41–49, acht lange Jahre, eine Zeit, in der seine Altersgenossen in Rom die Stufenleiter der Ämterlaufbahn absolvierten, verbrachte Seneca im Exil. Er verfasst eine Trostschrift an seine Mutter Helvia in Rom, in der er zwar nicht beteuert, dass er unschuldig ist – damit würde er dem Kaiser ein Fehlurteil unterstellen und eine etwaige Begnadigung erschweren –, doch indem er sich selbst in eine Reihe mit dem unschuldig verurteilten Sokrates stellt, sagt er genug. Er tröstet Helvia, die, wie er weiß, der Philosophie zugewandt ist, indem er ihr beweist, wie er mit den stoischen Grundsätzen lebt. Was sei Armut? Die Natur erfordere nur weniges zum Leben. Was sei Verbannung? Der Mensch sei überall auf der Welt zu Hause. Er habe keine Freuden? Doch, er schaue hinauf zum Himmel, sehe die Gestirne, wie sie ihren Lauf nähmen, und fühle sich eingebunden in die Gesetzmäßigkeit und Harmonie des Kosmos. Es erhebe ihn, wie er später sagt, Zeuge zu sein des Wirkens der Gottheit im All. Ein Band der Sympathie umschließt ja, wie die Stoa lehrt, den Makrokosmos, das All, und den Mikrokosmos, den Menschen. Eine solche nicht nur emotionale, sondern wissenschaftliche Bindung bleibt Seneca bis ins Alter erhalten, bis hin zu seiner Abhandlung Naturales Quaestiones, den...