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Sarah Kaur
Serenas Mutter
So als ob es gestern gewesen wäre, erinnerte sich Serenas Mutter an den ersten Tag in der neuen Schule. Serena kam mit einer endlosen Reihe von Sachen heim, die sie ihrer Mutter erzählen musste, und sie hatte mit der einen aufregenden Neuigkeit noch nicht aufgehört, als sie schon mit der nächsten anfing. Die neue Schule war viel, viel größer als Serena vermutet hatte. Immer wieder verlief sie sich, wie sie erzählte. Meistens halfen ihr andere weiter, wenn sie bemerkten, dass sie neu an der Schule war. Aber einmal sagte ihr ein älterer Mitschüler den falschen Weg an, absichtlich, wie Serena beteuerte.
Die neue Schule hatte eine sehr gut ausgestattete Bibliothek. Es gab aber keine Schließfächer, in denen man seine Sachen hätte ablegen können, und so schleppte man das Zeug den ganzen Tag mit sich herum. Serena fand, dass die meisten Mädchen recht nett waren, aber die meisten der Jungen waren schrecklich. Sie wäre lieber in eine reine Mädchenschule gegangen wie ihre Freundin Tamil. Jungen mussten immer nur angeben und beanspruchten die ganze Aufmerksamkeit der Lehrer. Mädchen so wie sie erledigten einfach ihre Arbeiten.
„Die Mädchen sind einfach viel erwachsener, oder nicht?“, sagte Serena.
„Ja, nimm das einfach als eine biologische Tatsache“, sagte ihre Mutter.
Die aufregenden Neuigkeiten, die täglich von der Schule zu erzählen waren, mussten aber immer etwas warten. Zuerst wieselte Serena von der Haustür rasch zur Toilette. Das war die größte Klage über die neue Schule: Die Hälfte der Toiletten hatte keine Schlösser, und außerdem waren sie so verraucht, dass Serena dort immer husten musste. Mit großer Willensanstrengung hielt Serena daher immer ‚durch‘, bis sie zu Hause war.
Serena hatte so viele Lehrer und Lehrerinnen, dass sie diese gar nicht mit dem Namen nennen konnte. Sie erzählte ihrer Mutter alles über ihre Lehrerinnen und Lehrer, über die, die sie mochte und über die, die sie nicht ausstehen konnte. Ob es nicht etwas verfrüht war, die Lehrer und Lehrerinnen so rasch zu beurteilen, meinte Frau Kaur. Sie wollte von Serena wissen, woran es lag, dass sie die einen so fein und angenehm fand, andere dagegen gar nicht.
„Das ist nur ein Gefühl“, sagte Serena, „ich weiß einfach, wer super ist.“
Frau Kaur wollte es genauer wissen. Serena meinte, die netten Lehrerinnen und Lehrer lächelten einfach viel öfter, sie täten nicht so von oben herab und sie erklärten auch ganz genau, was sie von einem erwarteten und was man bei ihnen lerne.
Frau Kaur erinnerte sich auch recht gut an die Lehrerinnen und Lehrer, die sie selbst vor einer Ewigkeit in ihrer Schulzeit gehabt hatte. Jene, die in ihr Spuren hinterlassen hatten, angenehme oder unangenehme, die konnte sie sich noch vorstellen, deren Stimmen hörte sie sogar noch. Allerdings war unter diesen Lehrerinnen keine, wie die, von der Serena erzählte: Eine zierliche Dame, die mit ihnen Phantasiereisen in weit entfernte Orte unternahm, manchmal wurde dazu auch noch Musik gespielt. Zu Sarah Kaurs Schulzeit hätte es das nicht gegeben. Musik gehörte in die Musikstunden, nicht in den Geographieunterricht.
Drei Jahre später erinnerte Serenas Mutter ihre Tochter an diese Gespräche, die sie geführt hatten, als Serena gerade in diese Schule gekommen war.
„Wenn du heute von der Schule heimkommst und ich frage dich nach der Schule, sagst du nur ‚Es war o. k.‘ Und wenn ich dich frage, was denn so los war, sagst du ‚Nichts‘. Und wenn ich sage, du kannst doch den ganze Tag nicht nichts gemacht habe, dann sagst du nur ‚Ganz einfach, es ist nichts Besonderes passiert.‘ Ende des Gesprächs.“ Frau Kaur fuhr fort: „Erinnerst du dich nicht mehr, wie wir deine Hausarbeiten immer genau besprochen haben. Du wolltest alles so richtig wie möglich und deinen Lehrerinnen und Lehrern eine Freude machen.“
„Das war damals. Heute ist es anders“, war Serenas eindeutige, aber wenig hilfreiche Antwort. Die Botschaft war klar ‚Halt dich da heraus!‘
So hielt sich Sarah Kaur aus dem Leben ihrer Tochter heraus. Sie schaute nicht mehr in Serenas Zimmer, um herauszufinden, ob sie wirklich ihre Hausaufgaben machte oder nur in ihrer Musik dahin schwamm. Manchmal machte sie die Tür zu Serenas Zimmer auf – da lag oder saß sie am Boden, ihr ganzes Zeug um sie herum verstreut. Serena schien wie hinter einer dicken Mauer aus Musik, die sie sicher vor der Außenwelt abschirmte. Serena meinte, sie könne so leichter arbeiten. Frau Kaur zweifelte das stark an; sie selbst brauchte absolute Ruhe, um ein Buch zu lesen oder überhaupt zu denken. Alle Überredungskunst half nichts, Serena blieb bei ihren Gewohnheiten. „Sie wird schon aus dem Ganzen herauswachsen“, machte Frau Kaur sich selbst Hoffnung.
Sarah Kaur wurde in dem bestärkt, wenn sie mit anderen Müttern sprach. Auch deren Kinder waren nicht gesprächiger. Nur ab und zu und wenn ihnen scheinbar gerade danach zumute war, erzählten die Kinder ihren Eltern, was ein bestimmter Lehrer getan oder nicht getan hatte. Je älter die Kinder wurden, desto seltener baten die Kinder ihre Eltern um Hilfe, wenn sie bei ihren Hausarbeiten nicht mehr weiter wussten oder wenn sie überhaupt keine Ahnung hatten, was sie zu tun hatten. Manchmal hörten die Eltern zu, wenn die Kinder mit ihren Freunden am Telefon sprachen – über ihre Lehrer,über all die Ungerechtigkeiten, die sie über sich ergeben lassen mussten, über die tödliche Langeweile in manchen Fächern oder auch, welchen Spaß ihnen andere Gegenstände bereiteten. Die Eltern aber schienen an dem allen keinen Anteil mehr zu haben.
Als Serena im dritten Jahr diese Schule besuchte, gab es den Einbruch: In zwei Fächern, die sie bisher am liebsten gehabt hatte, machte sie schlechte Erfahrungen. In Geographie wurden ihre Noten dramatisch schlechter, und an Geschichte schien sie jedes Interesse verloren zu haben.
„Geschichte ist langweilig“, war alles, was sie dazu sagte.
„Aber bisher hast du dieses Fach immer gerne gehabt“, hielt ihr die Mutter entgegen.
„Das war letztes Jahr“, sagte Serena – so, als ob diese historische Tatsache für sich allein schon alles erklärte.
„Und was ist mit Geographie? Da warst du letztes Jahr Klassenbeste?“
„Das war, bevor wir Herrn Petermann bekommen hatten“, sagte Serena. „Er ist ein hoffnungsloser Fall. Er kann nicht unterrichten.“
„Gut, dann unternehmen wir etwas dagegen.“
Serena schaute ihre Mutter an, als ob diese ihr vorgeschlagen hätte, Seiltanzen zu lernen.
„Es tut mir leid Serena, aber es geht um dich und deine Ausbildung. Ich gehe jedenfalls in die Schule und erkundige mich, was dort los ist.“
„Um Himmels Willen nein! Tu das ja nicht!“, erwiderte Serena. „Du kannst da gar nichts machen. Und für mich würde alles nur noch schlimmer werden!“
Wenn sie daran zurückdachte, tat es Frau Kaur leid, dass sie sich damals von Serena dazu hatte überreden lassen, nichts zu unternehmen. Auch von anderen Eltern hatte sie über Herrn Petermann gehört, dass er unfähig sei und die Klasse nicht im Griff habe.
„Die Sache ist die“, erklärte Frau Reyna von der anderen Straßenseite, „dass er einfach ein zu gutmütiger Mensch ist, absolut liebenswürdig, er würde niemals jemandem weh tun können. Und diese Bande, vor allem die Jungen, machen sein Leben zur Hölle. Niemand hat es doch gern, wenn über einen großes Aufheben gemacht wird. Seit ihm seine Frau davon gelaufen ist, wissen Sie, seither ist er einfach ein anderer.“
„Woher wissen Sie denn das alles?“, fragte Frau Kaur, obwohl ihr klar war, dass der Dame, die auf Nummer 23 wohnte, nichts entging; Nachbarschaftsspionage könnte man das nennen.
„Ich bin doch selber hingegangen, um mich zu beschweren. Die Noten meiner Claudia sind in ein paar Monaten drastisch schlechter geworden. Ich habe dann mit dem stellvertretenden Direktor gesprochen. Er hat mir alles über das schreckliche Leben von Herrn Petermann erzählt. Mir tat der Mann plötzlich ja so leid! Erst als ich fast schon wieder zu Hause war, fiel mir ein, warum ich überhaupt in die Schule gegangen bin. Ach, unsere arme Claudia!“
Sarah Kaur ließ die Dinge ihren Lauf nehmen. Herr Petermann würde sich weiter durchwursteln und Serena auch. Im Gespräch mit Frau Reyna hatte sich Frau Kaur selbst laut die Frage gestellt, was die an der Schule wohl mit Herrn Petermann machen, wenn die Schulaufsicht kommt. „Am besten sperren sie Herrn Petermann und die anderen lausigen Lehrer für diese Zeit in einen Schrank“, hatte Frau Reyna vorgeschlagen.
„Dazu braucht es vermutlich einen ziemlich großen Schrank“, meinte Frau Kaur im Spaß. In Wirklichkeit hatte sie den Eindruck, nach allem, was sie von den Telefongesprächen Serenas mit ihren Freundinnen aufschnappte, waren die meisten Lehrer und Lehrerinnen ganz in Ordnung. Aber ein paar, so hatte es den Anschein, sind wirklich problematisch.
„Vermutlich ist es auch so, dass sich die ganze Bande recht ordentlich aufführt, wenn die Schulaufsicht kommt“, vermutete Frau...